# taz.de -- Proteste in Istanbul: Beten gegen Twitter | |
> Demonstranten legen Nelken am Taksimplatz nieder. Die Polizei antwortet | |
> mit Wasserwerfern, Reizgas und Gummigeschossen. | |
Bild: Der türkische Protest ist reich an Symbolen – seit Samstag: Nelken | |
ISTANBUL taz | Am Samstagabend ist die türkische Polizei abermals mit | |
Reizgas, Wasserwerfern, Gummigeschossen und Knüppeln gegen Demonstranten | |
vorgegangen. Nach der gewaltsamen Auflösung einer Kundgebung auf dem | |
Taksimplatz kam es auf der Einkaufsmeile Istiklal und deren Seitengassen | |
sowie in den benachbarten Vierteln Tarlabaşı, Harbiye und Cihangir zu | |
stundenlangen Auseinandersetzungen. Es gab Festnahmen und Dutzende | |
Verletzte. Auch eine Kundgebung in Ankara wurde gewaltsam aufgelöst. In | |
Izmir und dem kurdischen Tunceli wurden mehrere Haftbefehle erlassen. | |
Am frühen Abend waren etwa 10.000 Menschen auf den Taksimplatz gekommen, um | |
mit Nelken der fünf Menschen zu gedenken, die während der Proteste ums | |
Leben gekommen sind. Aufgerufen hatte die „Taksim-Solidarität“, ein | |
Zusammenschluss verschiedener Gruppen und Organisationen, der die Besetzung | |
des Gezi-Parks koordiniert hatte. | |
Exakt eine Woche nach der [1][gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks] war es | |
die erste Kundgebung auf dem Taksimplatz. Der unmittelbar angrenzende | |
Gezi-Park hingegen blieb wie seit einer Woche schon abgesperrt. Lediglich | |
einer Abordnung der Demonstranten wurde gestattet, im Park Nelken | |
niederzulegen. | |
Gegen halb neun Uhr Ortszeit rief die Polizei die Menge dazu auf, den | |
Taksimplatz zu räumen. Der Grund: „Die seit über einer Stunde andauernde | |
Behinderung des Straßenverkehrs“, wie Hüseyin Avni Mutlu, der Gouveneur von | |
Istanbul, am späten Abend mitteilte. | |
## Nelken statt Steine | |
Gelang es der Menge zunächst noch, mit Menschenketten die vorrückenden | |
Angehörigen der Sondereinsatzkommandos aufzuhalten, setzte diese daraufhin | |
Wasserwerfer ein. In deren Wasser war eine ätzende, schon bei wenigen | |
Spritzern auf der Haut brennende Chemikalie beigemischt. Erst dann flogen | |
vereinzelt Steine, andere Demonstranten versuchten, die Steinewerfer | |
aufzuhalten. | |
Immer wieder warfen Menschen statt Steinen Nelken in Richtung der Polizei. | |
Noch Stunden später waren Wasserwerfer zu sehen, an deren Frontgitter rote | |
Nelken angebracht waren. Der Verkehr rund um Taksim kam bis tief in die | |
Nacht zum Erliegen. | |
Zentrum der Auseinandersetzungen war diesmal die belebte Istiklal-Straße | |
und deren Seitengassen. Demonstranten und Flaneure flüchteten vor der | |
Polizei in die zahlreichen Restaurants und Cafés. Am späten Abend wurden | |
auf der Istiklal Barrikaden gebaut. Ein Mitarbeiter des kleinen linken | |
Fernsehsenders [2][Halk TV], der seit Beginn der Proteste live und anders | |
als großen türkischen Sender nicht hinter den Polizeireihen berichtet, | |
wurde von Polizisten angegriffen. In den Räumen der Ingenieurskammer | |
errichteten Helfer notdürftig ein Lazarett ein. Später schlugen Polizisten | |
dort die Fensterscheiben ein und schossen Gaskartuschen ins Gebäudeinnere. | |
Insgesamt schienen sich die [3][Meldungen] zu bestätigen, dass der | |
türkischen Polizei allmählich die chemischen Kampfstoffe ausgehen. Am | |
Samstagabend schoss die Polizei weniger [4][Pfeffergaskartuschen] in die | |
Menge als in den vergangenen Wochen. Stattdessen setzte sie verstärkt | |
Gummigeschosse und Wasserwerfer mit Wasser-Säure-Gemisch ein. | |
## Die internationale Finanzlobby | |
Auf dem Taksimplatz blieb es verhältnismäßig ruhig. Immer wieder fanden | |
sich dort mehrere hundert Menschen zusammen, die Parolen skandierten, in | |
denen sie unter anderem die Polizisten dazu aufforderten, „an der Seite des | |
Volkes zu stehen“ oder einen „ehrenvollen“ Beruf zu ergreifen und lieber | |
Sesamkringel zu verkaufen. Mehrfach wurde diese Menge mit Wasserwerfern und | |
Reizgas vertrieben. Demonstranten und Passanten flüchteten in die | |
umliegenden Cafes und Hotels, die trotz der [5][Ereignisse im Divan-Hotel] | |
in der vergangenen Woche wieder ihre Türen öffneten. Mindestens zweimal | |
verwickelten Demonstranten einzelne Gruppen von Polizisten in | |
[6][Diskussionen], die stets auf dieselbe Weise endeten: mit Reizgas. | |
Am Nachmittag hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf einer | |
Kundgebung im nordtürkischen Samsun erneut die „internationale Finanzlobby“ | |
beschuldigt, für die Proteste verantwortlich zu sein. „Dasselbe Spiel“ | |
würde nun auch in Brasilien gespielt. | |
Den Demonstranten warf Erdogan vor, nun „Verrückte in Bikinis“ auf den | |
Taksimplatz zu schicken und so das Volk provozieren zu wollen. Ferner sagte | |
er: „Die können eine Million Tweets versenden, ein Basmala von uns macht | |
das alles zunichte.“ Basmala ist die islamische Anrufungsformel, mit der | |
fast alle Koransuren und Gebete beginnen. Einige Stunden nach dieser Rede | |
stürmte auf der Istiklal-Straße eine Gruppe von Polizisten „Allah, Allah“ | |
rufend auf Demonstranten zu. | |
23 Jun 2013 | |
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## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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