# taz.de -- Burak Tamer über Gezi-Park und Musik: „Die Kreativität explodie… | |
> Die „Replikas“, eine der beliebtesten türkischen Indie- Bands, nahm an | |
> den Gezi-Demos teil. Bandmitglied Burak Tamer fühlt sich zum ersten Mal | |
> in seinem Land zu Hause. | |
Bild: Stehender Protest mit Kippe in Istanbul: „duran adam“. | |
taz: Herr Tamer, ist in Istanbul nach dem Auflösen des Camps im Gezi-Park | |
wieder Alltag eingekehrt? | |
Burak Tamer: Ja und nein. Die Stadtverwaltung hat ganze Arbeit geleistet: | |
Es ist kaum noch etwas von den Protesten übrig. Vor einer Woche sah es hier | |
noch aus wie auf einem Schlachtfeld. Gerade kam ich am Taksimplatz vorbei, | |
überall sind stumm dastehende, teilweise lesende Menschen zu sehen. Wir | |
nennen das „duran adam“, eine Kunstform passiven Widerstands. Trotzdem ist | |
der Platz belagert von Polizisten. Nach drei Wochen Demonstrationen habe | |
ich wieder gearbeitet und geschlafen. Der Alltag normalisiert sich langsam, | |
aber der Rhythmus hat sich verändert. | |
Sind Sie von Ende Mai an im Gezi-Park gewesen? | |
Erst Anfang Juni, nach dem „Black Friday“, als massiv Gewalt gegen die | |
Protestierenden eingesetzt wurde. Uns Musikern fielen sofort die Bilder vom | |
1. Mai ein. Der Taksimplatz war aus perfiden Gründen gesperrt. Im | |
Vorbeigehen sah ich, dass er trotz eines verhängten Demonstrationsverbots | |
voller Menschen war. Als wir uns im Studio trafen, waren wir perplex | |
angesichts der Polizeipräsenz. Ein paar Tage später habe ich zum ersten Mal | |
Tränengas abbekommen, wieder auf dem Taksimplatz. Die Gewalt der Polizei | |
nahm überhand, das haben nicht nur wir gespürt, sondern auch viele | |
unpolitische Menschen, die auf die Straße gegangen sind. | |
Gibt es noch andere Gründe? | |
Die Eingriffe ins Privatleben wurden immer drastischer. Der Gezi-Park als | |
winzige Grünfläche inmitten von gigantischen Hochhäusern ist ein Symbol. | |
Mir fällt als eine der möglichen Antworten die preisgekrönte Dokumentation | |
„Ekümenopolis“ von Imre Azem ein, zu der wir den Soundtrack beisteuerten. | |
Der Film zeigte 2011, wie sich Gentrifizierung auf die Menschen in den | |
Vororten auswirkt. Wer verliert, wer gewinnt. Ein globales Problem, nur | |
tritt es in Istanbul in konzentrierter Form auf. | |
Volkslieder, Pop, auch alte Protestsongs hat die Bewegung umgedichtet. Es | |
begann mit den „chapulcus“ (Marodeure), nachdem Erdogan die Demonstranten | |
so bezeichnete. Aus LMFAOs „Everyday I’m shuffling“ wurde „Everyday I�… | |
chapulling“. Gute Zeiten also für Musiker? | |
Klar, die Kreativität explodiert hier gerade. Um die Ereignisse in ein | |
kollektives Gedächtnis zu überführen, eignet sich die Songform ideal. Ein | |
Fest für Musiker war auch die Bühne im Gezi-Park, als er noch friedlich | |
besetzt war. Bands standen Schlange, um zu spielen, unentgeltlich, auch wir | |
zogen es in Betracht. Als uns dann die ersten Meldungen über Tote und | |
Schwerverletzte aus anderen Städten erreichten, fanden wir es nicht mehr | |
angemessen. Lieber nahmen wir aktiv an den Protesten teil. | |
Als Türkischstämmige haben mich die Proteste tief bewegt, obwohl ich 2.500 | |
Kilometer entfernt in Berlin lebe. Wie haben sich die Ereignisse auf Ihr | |
Leben ausgewirkt? | |
Als Band sind wir in diesen drei Wochen kaum zusammengekommen. Jeder war an | |
einer anderen Ecke Istanbuls aktiv. Wir hielten aber engen Kontakt. | |
Seltsamerweise habe ich noch nie so viel mit meinen Freunden und auch mit | |
Fremden gesprochen wie jetzt. Sobald ich auf die Straße trete, sind da | |
Hunderte von Menschen, mit denen mich etwas verbindet. Während der | |
heftigsten Auseinandersetzungen in Istanbul halfen mir Wildfremde auf, wenn | |
ich fiel. | |
Tränengaspatronen wurden von Jugendlichen selbstlos fortgekickt, damit die, | |
die dahinter standen, nichts abbekamen. Eine unglaubliche Erfahrung. Auch | |
beim Wegrennen blieben wir stets höflich und verteilten ein „Pardon“ nach | |
allen Seiten. Selbstschutz gegen die Brutalität auf den Straßen. Je | |
sinnloser die Gewalt der Polizei, desto höflicher und aufmerksamer waren | |
wir. Trotz Übermüdung spürte ich eine Energie wie nie zuvor. Es mag | |
kitschig klingen, aber zum ersten Mal fühlte ich mich in diesem Land zu | |
Hause. | |
Die Bewegung ist ein Hoffnungsschimmer – weltweit. Inzwischen formieren | |
sich andere Protestformen. Hunderte diskutieren in spontanen Parkforen die | |
Auswirkungen der Proteste. Welche positiven und negativen Auswirkungen hört | |
man da heraus? | |
Nun schaue ich mir auch ein sogenanntes Parkforum in Cihangir an. Hunderte | |
von Menschen kommen zusammen und reden einfach, erzählten mir Freunde. Wie | |
im antiken Griechenland. Etwas ist hier regelrecht aufgeplatzt. Ich staune | |
jeden Tag über die kreativen Proteste, über den Respekt, der jedem | |
entgegengebracht wird, und über die Toleranz unter den Protestlern. Ich | |
glaube, so haben wir unser Selbstbewusstsein und unseren Humor neu | |
entdeckt. Hilfsbereitschaft und Entschlossenheit sind keine Worthülsen | |
mehr. Passivität und Pessimismus sind weg! Schon wieder etwas Pathetisches, | |
aber was soll’s: Ich glaube wieder an die Menschheit. Wenn ich während der | |
Proteste kurz in ein Café ging, um etwas zu essen, dann hat der Kellner | |
mich eingeladen. | |
Und die Gewalt? | |
Leider sind knapp 8.000 Menschen verletzt, mehrere Menschen verloren durch | |
die Plastikgeschosse ihre Augen, vier Menschen sind gestorben. Ich möchte | |
nicht allein die Polizisten dafür verantwortlich machen, auch sie arbeiten | |
unter schwierigen Bedingungen. Aber es gibt Momente, da kann man es sich | |
aussuchen. In bestimmten Momenten entscheidet ein Mensch in Uniform, ob er | |
seinem Gegenüber das Tränengas direkt ins Gesicht spritzt. | |
Er entscheidet, ob er das junge Mädchen nicht vor den Schlägen und Tritten | |
seines Kollegen beschützt. Er entscheidet, einen Protestler angemessen | |
festzunehmen oder mit vier Kollegen am Boden schleifend in den Wagen zu | |
tragen. Das ist der Unterschied. Von Seiten unseres Ministerpräsidenten | |
Erdogan gab es bis jetzt keine Entschuldigung, was die Gewalt betrifft. Er | |
polarisiert, wütet, wettert. Wir müssen uns wahrscheinlich daran gewöhnen, | |
als „Terroristen“ bezeichnet zu werden. | |
Gibt es eine Partei, die die Gezi-Proteste auffangen kann? | |
Es gibt keine Partei, die allen entspricht. Aber auf politischer Ebene | |
hätten wir Protestler Aussicht auf Erfolg. Interessant ist auf den zweiten | |
Blick, wie die verschiedenen Positionen von den Nationalisten bis zu den | |
prokurdischen Parteien unter einem Dach zu vereinen wären. Ich könnte mir | |
eine Partei mit ökologischem Hintergrund vorstellen, die die Menschenrechte | |
im Fokus hat. Die klassische politische Sicht von links und rechts wird | |
ausdienen. Bisher habe ich kleine ökologische Parteien wie die ÖDP gewählt, | |
die allerdings an der Zehn-Prozent-Hürde in der Türkei scheitern. Auch das | |
wird sich hoffentlich ändern. | |
25 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Ebru Tasdemir | |
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