| # taz.de -- Essay für eine neue europäische Politik: Jetzt Europa! | |
| > Der Schritt zu einer nach innen und außen wehrhaften Demokratie ist nie | |
| > getan worden. Weltweit kommt es zur Kumpanei der Antieuropäer. | |
| Bild: Dramatische Verschiebungen: Handschlag zwischen Donald Trump und Wladimir… | |
| Nachdem im Wahlkampf die äußere Sicherheit ein Randthema geblieben war, | |
| schnellte sie am Wahlabend in den Rang einer dramatischen tektonischen | |
| Verschiebung hoch. Die Kumpanei der [1][Antieuropäer Wladimir Putin und | |
| Donald Trump] stellt endgültig jene Zeitenwende dar, die bei ihrer | |
| Ausrufung vor genau drei Jahren erst schemenhaft verstanden wurde. Schon | |
| lange hat Russland den Krieg gegen Europa ausgerufen und Amerika seinen | |
| Rückzug annonciert. In Deutschland verweigerten die Regierenden der | |
| Ukraine, was zu ihrer Verteidigung nötig war, sie waren geschockt, als JD | |
| Vance Europa den Laufpass gab; die Opposition schlug weiter den | |
| pazifistischen Grundakkord an, der schnurstracks auf ein neues München 1938 | |
| hinausläuft. | |
| Um es klar zu sagen: Die satte Mehrheit der Putin-Verharmloser und | |
| Trump-Adepten [2][vor allem in den östlichen Bundesländern] markiert, wo | |
| die Grenze zu „Vichy-Deutschland“ verlaufen wird, wenn sich die Regierung | |
| Merz-Pistorius zu echten Verbesserungen der europäischen Sicherheit | |
| durchringen würde. In Vichy war 1940 bis 1944 die Kollaborationsregierung | |
| der „freien Zone“ mit Nazideutschland angesiedelt. | |
| Die nun einseitig aufgekündigte transatlantische Allianz war stets von | |
| Missverständnissen, Interessenkonflikten und wechselseitigen Vorurteilen | |
| durchzogen, Antiamerikanismus lebte in allen politischen Familien: links | |
| als Kritik am „Empire“, rechts als Vorbehalt gegen eine „Reeducation“ u… | |
| eine „Westbindung“, auch in der Mitte als Distanz zu einer Populär- und | |
| Konsumkultur, die am Ende doch fast alle für sich gewann. Echte | |
| Freundschaft entwickelte sich eher in den Nischen des Privatlebens, der | |
| Wissenschaft und Kunst, doch für Libertäre wie uns war sie existenziell, | |
| was bei Verfechtern des „Ami go home!“ stets auf Verwunderung stieß. Die | |
| Deutschen genossen die Abschreckung des atomaren Schutzschildes, den sie | |
| zugleich wortreich bekrittelten. | |
| Besonders stark war die Spannung zwischen verdruckster Aneignung und | |
| plakativer Aversion in der SBZ und DDR, auf deren Boden sich rechts- und | |
| linkspopulistische Amerikafeindlichkeit vermengten – und bis heute am | |
| stärksten halten. Indem auch nach 1990 Geborene an der Amerikaphobie | |
| festhalten, vererbt sich die fehlende Freiheitserfahrung von 1933 bis 1989 | |
| auf die Enkel und Urenkel. Dass sie sich nun ausgerechnet im Hinblick auf | |
| Trump abschwächt und in eine Kapitulation vor Tech-Milliardären umschlägt, | |
| zeugt von der geistigen Verwirrung, in welche die AfD den Osten und immer | |
| mehr Regionen und Milieus im Westen gestürzt hat. | |
| Der Grundakkord bleibt ironischerweise das „Ami go home!“; der russische | |
| Vernichtungskrieg wird wider besseres Wissen als nachvollziehbare Reaktion | |
| auf das imperiale Gebaren der Vereinigten Staaten nach 1990 und die | |
| Osterweiterung der Nato verkauft. Die noch halbvernünftigen Ausführungen | |
| des Linken-Vorsitzenden Jan van Aken („Worte statt Waffen“) wurden | |
| übertroffen in Sahra Wagenknechts Aufruf zum Kapitulationsfrieden und ins | |
| Absurde gesteigert durch Alice Weidel und Björn Höcke, die allen Ernstes | |
| eine eurasische Union mit dem Kreml anstreben. | |
| Das Kollaborationsregime in Vichy bildete sich aus einer ähnlichen | |
| Querfront aus gutgläubigen Pazifisten, Ex-Kommunisten und extremen | |
| Nationalisten. Entsprechend stellen sich zu Trump & Putin jetzt die | |
| Jasager, Weißwäscher und Weltgeistbeschwörer auf. Die Jasager der AfD | |
| erblicken in den Machenschaften Trumps (und seines quirligen Mephistos Elon | |
| Musk) die Blaupausen für den legalen Staatsstreich. Alice Weidel munkelte | |
| in einem Interview mit dem rechten US-Magazin The American Conservative, | |
| Deutschland sei nach 1945 eine Kolonie der Vereinigten Staaten geworden, | |
| und gab das revisionistische Motto aus „wir Deutschen sind ein besiegtes | |
| Volk“. Der Vorteil, „Sklave zu sein“? Deutsche seien zum Glück nicht | |
| gezwungen gewesen, in vorderer Front an den Kriegen der westlichen | |
| Hegemonialmacht mitzuwirken, die ihre Partei bekanntlich als wahre | |
| Auslöserin des Ukrainekrieges identifiziert hat. | |
| Sahra Wagenknecht opponiert deutlicher gegen Trump, aber nicht, weil er mit | |
| Wladimir Putin paktiert (das begrüßt sie zum Zweck der Friedensstiftung), | |
| sondern weil der hässliche Amerikaner sich ukrainische Rohstoffe unter den | |
| Nagel reißen will. Den Rückzug seiner Militärmacht aus Europa heißt sie | |
| wiederum gut, denn damit dürfte auch die Stationierung von | |
| Mittelstreckenraketen – ein Popanz der gesamtdeutschen Friedensbewegung | |
| seit den 1970er Jahren – vom Tisch sein. Die Charakterisierung der USA als | |
| imperiale Macht erhält durch den Gebietshunger und die Gier der | |
| Trump-Administration neue Nahrung, der russische Neokolonialismus wird | |
| weiter ignoriert. | |
| Das politische Establishment der Weißwäscher spielt diese Disruption | |
| herunter und beschwichtigt die Furchtsamen: Nichts werde so heiß gegessen, | |
| wie es gekocht wurde. BDA-Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger meinte etwa, | |
| Trump werde Europa durchrütteln: „Das tut uns vielleicht gut.“ Dass | |
| Friedrich Merz, der sich dank seiner Unternehmenserfahrung mit Trump | |
| verstehen zu können hoffte, nach der rüden Absage ehrlich schockiert war, | |
| darf man ihm abnehmen. | |
| Damit treten die „Realisten“ des Weltgeistes auf den Plan: Gewiss werde die | |
| Trump-Administration einiges weltpolitische Porzellan zertrümmern, aber | |
| unterm Strich auch Positives bewirken, im Bunde mit ebendem Hegel’schen | |
| Weltgeist. Die Rede von JD Vance in München, in der er die Meinungsfreiheit | |
| in Deutschland unterdrückt fand und die AfD in der Regierung sehen wollte, | |
| fand Springer-Vorstand Mathias Döpfner „inspirierend“, [3][die europäisch… | |
| Reaktionen „weinerlich“.] | |
| Im Ernst jetzt? Trump als die Kraft, die Böses will, aber stets das Gute | |
| bewirkt und zum Beispiel den Krieg in der Ukraine beenden kann? Und den im | |
| Nahen Osten? Und wer weiß: Wie weiland Stalin der ungewollte Mitgründer der | |
| Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde, könnte Trump zum Deus ex | |
| machina des Fortschritts der EU-Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft zum | |
| Bundesstaat werden – mit einer gemeinsamen Armee und der Ukraine als | |
| Mitglied? | |
| Von allein geschieht das gewiss nicht. Die Appelle, die Emmanuel Macron | |
| 2017 für ein „Europa, das uns schützt“ ausbrachte, verhallten vor allem in | |
| Berlin folgenlos. Weiter wursteln 27 Armeen, ohne ernstgemeinte | |
| Unterstützung in der breiten Bevölkerung, und drei Dutzend | |
| Rüstungsbetriebe, hierzulande missmutig beäugt, vor sich hin. Der Schritt | |
| in eine nach innen und außen wehrhafte Demokratie ist nie getan worden; in | |
| den Ämtern wie in den Köpfen herrschen nationale Engstirnigkeit und | |
| Kurzfristdenken vor. | |
| Dieses alte Denken beherrschte die jüngsten Wahlkämpfe aller EU-Staaten, wo | |
| man virtuelle Milliarden in sozial- und industriepolitische Luftschlösser | |
| investierte, namentlich in sichere Renten, ohne zu bedenken, dass solche | |
| unter russisch-amerikanischem und notabene chinesischem Druck von | |
| vornherein Makulatur sind. Und unter „sicheren Grenzen“ verstand man vor | |
| allem den Pushback unerwünschter Geflüchteter, weniger den Schutz vor | |
| hybriden und handfesten Angriffen des Kriegsherrn im Kreml. | |
| Dass diese geschehen und zunehmen werden, muss man der triumphierenden | |
| Linken ins Stammbuch schreiben. Die Herstellung der Verteidigungsfähigkeit | |
| Europas wird auf mittlere Dauer Trillionen Euro kosten. Man darf sie, wie | |
| die Linke zu Recht sagt, nicht ausgerechnet den Ärmsten abverlangen und von | |
| einer verrottenden Infrastruktur und Industrie abzwacken. Aber überfällige | |
| Mehreinnahmen durch die gerechtere Besteuerung der Besserverdienenden und | |
| Superreichen kann man nicht für sozialpolitische Wohltaten reservieren und | |
| sich der überfälligen Nachrüstung verweigern, auch nicht einer | |
| unkonditionierten Reform der Schuldenbremse, für die eine breite Mehrheit | |
| im Bundestag notwendig sein wird. | |
| Wird da die Linke mit der AfD stimmen? Dann hat sie das Merz-Problem. Und | |
| frisches Geld benötigt man, wie Mario Draghi vorgerechnet hat, nicht nur | |
| für Umverteilung und äußere Sicherheit, sondern auch für eine wirklich | |
| nachhaltige europäische Wirtschaft, die zur Gewährleistung äußerer | |
| Sicherheit unabdingbar ist. | |
| Der Rückzug Amerikas aus der westlichen Werte- und Sicherheitsgemeinschaft | |
| hat noch dramatischere Aussichten. Wenn der „Atomschirm“ zugeklappt wird | |
| und eine nukleare Abschreckung gegen Putin und Xi Jinping notwendig bleibt, | |
| muss Deutschland seine Rolle als Trittbrettfahrer der Atommächte | |
| Großbritannien und Frankreich überprüfen und an einer europäischen | |
| Sicherheitsarchitektur mitwirken, die auch nukleare Abschreckung | |
| einschließt. Das schließt historisch an eine Debatte der 1950er Jahre an, | |
| als frankreichgeneigte „Gaullisten“ den amerikafreundlichen „Atlantikern�… | |
| unterlagen, weil die USA damals noch ein verlässlicher Partner waren. | |
| Doch zu den Eventualitäten der Zeitenwende, mit denen sich Friedrich Merz | |
| und seine sozialdemokratischen Kabinettskollegen auseinandersetzen müssen, | |
| gehört, dass sie – mit der AfD im Rücken – mit zwei „Politikwechseln“… | |
| London und Paris rechnen müssen, die Trump- und Putin-freundliche Radikale | |
| wie Nigel Farage und Marine Le Pen vorantreiben. | |
| Wir leben in einer anderen Welt, denn der Krieg, den wir alle partout | |
| verhindern wollten, hat bereits begonnen. Ebenso wenig, wie sich kein | |
| CDU-Kanzler der letzten 76 Jahre hätte träumen lassen, dass er – wie nun | |
| Friedrich Merz – zu Washington und Moskau Äquidistanz halten müsste, hätten | |
| wir uns je vorstellen können, dass wir uns nun für Kriegstüchtigkeit, mehr | |
| Anerkennung für die Bundeswehr und eine effektive Rüstungsindustrie | |
| erwärmen. Doch in der globalen Auseinandersetzung zwischen Autokraten und | |
| Demokraten ist es nur die Fortsetzung des Widerstands gegen Feinde der | |
| Freiheit, der auch Hitler und Stalin zu Fall gebracht hat. | |
| 2 Mar 2025 | |
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