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# taz.de -- 10 Jahre „Wir schaffen das“: Wir könnten schon weiter sein
> Unsere Autoren begutachten Multikulti zehn und vierzig Jahre später. Sie
> empfehlen Spielregeln für die Vielvölkerrepublik.
Bild: Unterm Strich ist Immigration erfolgreich verlaufen: die Willkommensiniti…
„Wir schaffen das.“ Subjekt, Prädikat, Objekt – das schien so einfach zu
sein, war es aber nicht. „DAS“, was es zu schaffen galt, war weder
quantitativ noch zeitlich oder qualitativ bestimmt und reduzierte sich auf
die Soforthilfe, die Menschen und Beamte guten Willens 2015/16 zu leisten
bereit und imstande waren. Der moralische Appell mündete nicht in eine
sozialverträgliche Einwanderungs- und Integrationspolitik mit den
allfälligen Investitionen.
Dabei war die Ankunft und Aufnahme von mehr als einer Million Geflüchteter
innerhalb weniger Monate bereits eine „Zeitenwende“: eine kolossale
Herausforderung neuen Typs, die auch eine langjährige Gastarbeiter-Nation
überfordern musste.
Denn der Auslöser der syrischen, afghanischen und irakischen, dann
ukrainischen Wanderung waren Kriege, massive Menschen- und
Frauen-rechtsverletzungen und genozidale Akte, von denen man 2015 und auch
2022 erst eine vage Vorstellung haben konnte. (Es sei denn, man hätte schon
den Bosnienkrieg nicht als einmaligen Anachronismus, sondern als das neue
Normal betrachtet.) Vor diesem Hintergrund wurde jeder naive
Multikulturalismus obsolet. Vielfalt an sich ist kein Wert, sie muss
gestaltet werden.
Was 1990 und auch 2015 noch fehlte, war die Einsicht in die Tatsache, dass
Deutschland längst eine Einwanderungsgesellschaft war. Die Aufgabe der
politischen Akteure hätte darin bestanden, auf lokaler, regionaler,
nationaler und europäischer Ebene Bedingungen dafür zu schaffen, dass der
größere Teil der Bürgergesellschaft aktiv mitging, sich jedenfalls nicht
verweigerte.
Was heute in Grenzkontrollen, Strafverfolgung und Abschiebungen investiert
wird, hätte seinerzeit für Spracherwerb, Bildungsprogramme und einen
rascheren Zugang zum Arbeitsmarkt veranschlagt werden müssen. Auf die Weise
hätte sich eine humanitäre Großzügigkeit habitualisieren können, die heute
in einem – durch Putins „Migrationswaffe“ attackierten – offenen Europa
nicht als Störung des sozialen Friedens aufgezehrt werden könnte.
Es wird gerne behauptet, Angela Merkel habe 2015 mit der „Grenzöffnung“ –
de facto mit dem Hochhalten des Schengen-Acquis und des EU-Rechtsrahmens –
die AfD erst stark gemacht. An dieser Kausalkette fehlen ein paar wichtige
Glieder, doch Alexander Gauland sah seine Chance gekommen: „Etwas Besseres
als die Flüchtlinge hätte uns gar nicht passieren können!“
Unter dem Druck der [1][AfD, die ihre menschenfeindlichen Ambitionen
unterdessen zum Postulat forcierter „Remigration“ radikalisiert hat],
scheitert jede Politik des Multikulturalismus, gleich ob sie an der
kosmopolitischen Idee offener Gesellschaften festhält oder sich den
Erpressungen der Rechten beugt, die jedes „Staatsversagen“ feiert und immer
weitere Restriktionen fordert, bis hin zur Revision des Staatsbürgerrechts.
Auch Angela Merkel meinte 2019 statuieren zu müssen, Multikulti sei
„absolut gescheitert“. Das war ein bewusst in die Welt gesetztes
[2][Missverständnis von Multikulturalismus]. Sie sah darin nur ein
beziehungsloses Nebeneinander der Kulturen, was übrigens genau das ist, was
sich die Neue Rechte global vorstellt: „Ethnopluralismus“ respektive
Ethnonationalismus auf völkischer Grundlage.
Alle, außer Profisportler und IT-Nerds, sollen schön „bei sich“ bleiben.
Eben dieses Trennungs- und Säuberungsprogramm wird gerade durchexerziert –
von Donald Trump, der beispielsweise Puerto Rico als „schwimmende
Müllinsel“ denunziert hatte, bis zu Indiens Premier Narendra Modi, der
Indien hinduistisch homogenisieren will.
Das hatten Theoretiker und Praktiker des Multikulturalismus von Kanada über
Frankfurt/Main bis Australien wahrlich nicht im Sinn. Wir forderten die
wechselseitige Anerkennung unter anderem migrationsbedingter Diversität,
die ein Volk als Demos und nicht länger als Ethnos begreift, das heißt:
nicht länger als Abstammungs-, sondern als Zustimmungsgemeinschaft, die
allen Beteiligten die Respektierung demokratischer Normen und Spielregeln
abverlangt.
Dem verweigern sich exklusionsbesessene Inländer (darunter MigrantInnen der
ersten bis vierten Generation) genau wie inklusionsresistente Ausländer,
die einzig „ihre Kultur“ (und namentlich Religion) ausleben wollen, oft in
einem Ausmaß, das ihnen im Herkunftsland selbst nicht gewährt worden war.
Eine humanitäre Alternative gibt es weiterhin nicht. Das sture Beharren auf
dem jeweils Eigenen hat eine schiefe Ebene in den ethnischen Bürgerkrieg
und finstersten Rassismus. Multikulturalismus ist weder eine „linke Utopie“
noch ein „grünes Programm“, sondern der schlichte und bei klarem Verstand
schwer zu ignorierende Realzustand der Weltgesellschaft. Er wird im Inneren
vermeintlich homogener Nationen verleugnet, obwohl auch diese bei näherer
Betrachtung ethnisch, sprachlich und kulturell pluralistisch
zusammengesetzt und so geblieben sind.
## Adressiert ist vor allem „die“ Politik
Bleibt also die Frage nach dem Subjekt. Wer ist WIR, hat [3][Navid Kermani]
gefragt, und der frühere Bundespräsident Joachim Gauck rief ein „neues Wir�…
auf. Waren es „die“ Deutschen, „die“ Europäer, „die“ Gesellschaft�…
bekanntlich keine Adresse haben?
Adressiert ist vor allem „die“ Politik, was sich nicht auf überforderte
Amtspersonen, Grenzschützer, Schulsozialarbeiter und Migrantenvereine
reduziert, denen man die „Drecksarbeit“ überlassen möchte. Und auch nicht
intersektional gestimmte Akademiker, die immer neue Facetten von
„Diversity“ entdecken und [4][identitäre Selbst-Behauptung gerne zur
militanten Selbstbehauptung steigern]. Diversität ist mehr als ein
„Patchwork der Minderheiten“.
Erforderlich sind Entscheidungen, die nicht auf das Krisenmanagement bei
Messerattacken beschränkt bleiben. Und die zur Kenntnis nehmen, dass die
meisten „Migrationsprobleme“ nicht „von außen“ importiert sind und dor…
„zurückgeschoben“ werden können, sondern, genau wie „einheimische“
Rechtsradikale und Gewalttäter, hausgemachte Ursachen haben.
Statt wie Innenminister Alexander Dobrindt fragile Errungenschaften der
Einwanderungsgesellschaft per Salamitaktik kleinzuhacken, bedarf es endlich
einer kohärenten Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik auf europäischer
Ebene. Andernfalls wird der AfD gerade an jedem Grenzstau die Europäische
Union geopfert.
## Beachtliche Integrationserfolge
Statt retroaktivem Merkel-Bashing also: Unterm Strich ist Immigration allen
Unzulänglichkeiten, Pannen und Silvesternächten zum Trotz erfolgreich
verlaufen. Sachverständige belegen seit Jahren empirisch, dass auch die von
manchen als besonders problematisch empfundenen SyrerInnen beachtliche
Integrationserfolge hingelegt haben, genauso wie es Hunderttausende
UkrainerInnen, die Putins Terror entkommen sind, im Alltag „schaffen“.
Gegner von „Multikulti“ (bei Wikipedia exklusiv als Schimpfwort rubriziert)
beeindruckt Empirie bekanntlich nicht. Für die einen bedeutet
Multikulturalismus „Volkstod“, für die anderen eine durch und durch
rassistische Gesellschaft. Natürlich kann noch vieles besser werden. So wie
hiesige Einwanderungs- und Flüchtlingsgegner von ihrem dummen Stolz,
Deutsche zu sein, ablassen könnten, sollten MigrantInnen mehr
Verfassungspatriotismus, Menschenrechtsbewusstsein und Alltagstugenden an
den Tag legen.
Die „deutsche Leitkultur“ ist ein Fantasma, aber es darf auch keine – von
politischen und religiösen Unternehmern genährte – Parallelgesellschaft
geben, die auf dem Umweg über Quotierungen einzubeziehen wäre. Kaum zu
glauben ist die Duldsamkeit gegenüber einer politisch-religiösen Maschine
wie des türkischen Diyanet, das den Interessen des Autokraten in Ankara
dient, oder gegenüber Muslimbrüdern, die westliche Werte bewusst
herabwürdigen. Eine liberale Demokratie mit klaren Regeln darf das nicht
tolerieren.
Schließlich fehlten 2015 auch dem Prädikat SCHAFFEN realistische Maßstäbe.
Die Messlatte ist kein Idealzustand, den keine Einwanderungsgesellschaft
jemals erreichen wird. Zu schaffen ist eher ein „gelingendes Scheitern“,
was in der pragmatischen Businesswelt als Erfolg verbucht wird.
Die deutsche Gesellschaft hat seit 1950, 1990 und 2010 erhebliche
Kompetenzen erworben und unter Beweis gestellt, dass Vielfalt in der
Arbeitswelt, genau wie in Kunst & Kultur und vor allem im alltäglichen
Zusammenleben, Vorteile bietet, die von Fundamentalisten beider Seiten
angerichtete Tragödien und eine überdrehte Wokismus-Schelte nicht
überdecken sollten. Angesichts der wirklichkeitsfremden Politik des großen
Merkel-Kritikers Friedrich Merz muss man resümieren: Wir könnten schon
weiter sein.
19 Aug 2025
## LINKS
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[4] /Linksliberale-und-die-Hamas/!5968347
## AUTOREN
Claus Leggewie
Daniel Cohn-Bendit
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