# taz.de -- Wahlkampfchancen der Grünen: Da geht noch was | |
> Vom Hoch der Grünen ist wenig übrig. Doch ein Absturz droht nicht, wenn | |
> die Partei selbstbewusst mehrheitsfähige Visionen für Deutschland | |
> formuliert. | |
Bild: Welchen Kurs die Partei auch nehmen wird, eines steht fest: Die Sonnenblu… | |
Es ist nicht das erste Mal, dass die Grünen sich in ihrer 35-jährigen | |
Geschichte zu Tode zu schrumpfen drohen. Hausgemachte Fehler trugen dazu | |
ebenso bei wie strukturelle Verschiebungen der deutschen Politik und | |
Gesellschaft. Besonders drastisch war der Einbruch bei der ersten | |
gesamtdeutschen Wahl, als es der Hilfe der Ost-Grünen bedurfte, um im | |
Bundestag zu bleiben. Erst die letzte Bundestagswahl 2021 ließ die Partei | |
weit über die üblichen 5 bis 10 Prozent hinauswachsen. Doch nun scheinen | |
sie erneut weit entfernt zu sein von einer grünen Volkspartei. | |
Können sie also mit ihrem attraktiven Führungspersonal, einer wachsenden | |
Mitgliederbasis und einem weiter aktiven Öko-Milieu ein Comeback schaffen? | |
Der Parteitag wird die erste Gelegenheit bieten. | |
Die Zeiten haben sich radikal verändert. Umweltthemen fallen zurück, in der | |
Öffentlichkeit stehen die Grünen als Sündenbock am Pranger, und es herrscht | |
Krieg. Die radikale Rechte und die Pseudolinke geben nun auch in | |
Deutschland politisch den Ton an. In den letzten 30 Jahren hat sich die | |
politische Tektonik weit nach rechts verschoben, die Grünen nicht | |
ausgenommen. | |
Lassen wir Koalitionsoptionen zunächst beiseite. Prinzipiell wäre eine | |
stärkere Profilierung als sozialökologische Linke denkbar, wofür die | |
eklatante Entkräftung der SPD und der Absturz der Linkspartei Platz bieten. | |
Fiskalpolitisch legt das Vermögens- und Einkommenssteuern für Superreiche, | |
längst überfällige Konzentrationskontrollen und nachvollziehbare | |
Grundeinkommensprojekte nahe, um die deutlich gewachsene soziale | |
Ungerechtigkeit einzudämmen, die Liberale und Konservative mit | |
anachronistischen Schuldenbremsen und Steuerprivilegien vertieft haben. Und | |
es braucht eine Investitionsoffensive, die nicht fossile Industrien von | |
gestern aufpäppelt, sondern nachhaltige Akzente setzt. | |
## Eben keine Verzichts-Partei | |
Im Kern erfordert das eine entschiedene Klima- und Umweltpolitik, die sich | |
nicht länger im technokratischen Klein-Klein selbst im Wege steht und weit | |
stärker als bisher Wünsche und Ideen von Bürgern und Bürgerinnen aufgreift | |
und begleitet. Mit „weniger grün“ ist nichts zu gewinnen. Die Grünen müs… | |
wieder die Ökologiepartei werden und zeigen, dass das eben nicht Verzicht | |
und Verlust meint, sondern die besten Chancen für eine lebenswerte Zukunft | |
bietet. | |
Dazu gehört auch eine Erneuerung „heimatlicher“ Verhältnisse: nahe gelege… | |
Arztpraxen, Kindertagesstätten, Wirtshäuser, Kinos, Jugendclubs etc. sowie | |
bezahlbare Wohnungen und klimafreundliches (Um-)Bauen. Eine Politik für | |
alle kann nicht an identitätspolitischen Lieblingsagenden hängen. Das alles | |
hat eine weltpolitische Dimension: sich unmissverständlich an die Seite von | |
Gesellschaften zu stellen, die der russische und chinesische | |
Neoimperialismus militärisch und geoökonomisch dominiert, und | |
[1][islamistische Terrorstaaten] und -gruppen zu bedrohen. Es trifft nicht | |
zu, dass Europa im Nahen Osten keine Rolle spiele; auch dort können „bottom | |
up“ binationale Verständigungs- und Kooperationsinitiativen unterstützt | |
werden. | |
Exemplarisch sind das Schweigen der Grünen zur Situation im Sudan und ihre | |
dürftigen Ideen zu Afrika insgesamt. Aber die Grünen können Union und SPD | |
mit gutem Recht vorhalten, dass Schröder und Merkel Putin gewähren ließen. | |
Nur mit einer Politik der Stärke lassen sich Waffenstillstandsverhandlungen | |
und Friedensschlüsse erreichen, während wohlfeile Forderungen von AfD/BSW | |
auf Kapitulation vor Putin und landesverräterischen Defätismus | |
hinauslaufen. Ost-CDU und SPD drohen vor den Erpressungen von AfD und BSW | |
wieder einzuknicken. Das erhöht die Kriegsgefahr. | |
## Weg von wirklichkeitsfremden Forderungen | |
Daraus folgt zweierlei. „Unten“ müssen die Grünen zurück an die Basis; i… | |
Regeneration erfolgt weniger aus dem Apparat und der Regierung als aus der | |
kommunalen Politik und lokal verankerten Nichtregierungsorganisationen, die | |
nicht in wirklichkeitsfremden und mehrheitsfernen Forderungen stecken | |
bleiben, sondern konkrete, mehrheitsaffine Politikvorschläge unterbreiten. | |
„Oben“ muss dann Robert Habeck als Kanzlerkandidat und Minister für | |
Wirtschaft und Klima (eine nach wie vor ausbaufähige Kombination!) Union | |
und SPD deutlich herausfordern und die Grünen als Hort der ökologischen, | |
migrations- und geopolitischen Vernunft etablieren, die gegen lähmende | |
Ängstlichkeit und Fantasielosigkeit ein beherztes „Yes, we can“-Momentum | |
aufbauen. | |
Dass die derzeitige 12-Prozent- Partei [2][eine Kanzlerkandidatur | |
beansprucht], macht insofern Sinn, als sich koalitionstechnisch die | |
rot-grüne Option erledigt hat, ohne dass eine schwarz-grüne Koalition sich | |
per se aufdrängt. Die war bei den Grünen nie sonderlich beliebt und ist im | |
Lauf der Jahre trotz beachtlicher landespolitischer Erfolgsallianzen nicht | |
populärer geworden. Friedrich Merz und Markus Söder haben das von [3][AfD | |
und BSW] aufgebrachte Meme, die Grünen seien der Gottseibeiuns, weit ins | |
bürgerliche Milieu hineingetragen. Das dürfte sich rächen. Die Mehrheit der | |
Deutschen ist weiterhin nur für migrationspolitische Maßnahmen zu gewinnen, | |
die menschen-, völker- und europarechtlich einwandfrei sind, und die durch | |
Donald Trump alarmierte Majorität will im Grundsatz auch eine aktive Klima- | |
und Sicherheitspolitik. Die Grünen können gangbare Wege aufzeigen, wie | |
Europa auch nach der US-Wahl in der veränderten Welt bestehen kann. | |
Einen neuerlichen Absturz und Bedeutungsverlust der Grünen muss das Aus der | |
Ampelkoalition [4][und die Rückkehr Trumps] nicht bedeuten. Befreit vom | |
Kompromiss- und Kooperationszwang mit unvereinbaren Positionen der FDP (und | |
SPD) können sie jetzt selbstbewusst eine Vision für Deutschland 2030 | |
formulieren, welche die einstigen Volksparteien nicht zu bieten haben. Und | |
gegen den allgemeinen Rechtsruck können sich [5][die Grünen] als Anwälte | |
jener „Vernunft und Verantwortung“ präsentieren, die der Bundespräsident … | |
Recht reklamiert hat. | |
15 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Cohn-Bendit | |
Claus Leggewie | |
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