| # taz.de -- Grenze zwischen Norwegen und Russland: Ganz im Norden, an der Grenze | |
| > Im norwegischen Kirkenes wohnen viele Russen. Seit Februar 2022 nimmt die | |
| > Stadt ukrainische Flüchtlinge auf. Wie lebt es sich in Kriegszeiten im | |
| > Nordosten Norwegens? | |
| Gegenüber dem [1][Russischen Generalkonsulat] in Kirkenes lehnt eine | |
| Europalette an einem Gebäude. Auf ihr sind sechs Bilder von Alexei Nawalny | |
| zu sehen. Auf einem Foto formt die Hand des im Februar 2024 verstorbenen | |
| russischen Aktivisten ein Peace-Zeichen. Darunter auf Englisch ein Zitat, | |
| [2][das oft fälschlicherweise dem irisch-britischen Schriftsteller Edmund | |
| Burke zugeschrieben wird]: „Das Einzige, was für den Sieg des Bösen | |
| notwendig ist, ist, dass gute Menschen nichts tun.“ Zwischen den | |
| Holzplatten stecken Rosen, einige echte, einige aus Plastik. „An einem Tag | |
| machen Leute das Denkmal kaputt, beschmieren es“, sagt Liza. | |
| Die Journalistin, die mit vollem Namen Elizaveta Vereykina heißt, ist in | |
| Russland geboren. In Skandinavien nennt man sich üblicherweise beim | |
| Vornamen – eine Tradition, die auch sie übernommen hat. Seit fünfzehn | |
| Jahren arbeitet sie als Journalistin, war unter anderem Korrespondentin für | |
| BBC World News. Sie lebte in Moskau, bevor sie nach Kirkenes kam. „Andere | |
| bauen das Denkmal dann wieder auf“, führt sie fort. Ein stiller Protest in | |
| einer Kleinstadt mit 3.500 Einwohnern im Norden Norwegens, von denen rund | |
| 500 aus Russland kommen. | |
| Wie Liza dürfen die meisten Russen, die auf der norwegischen Seite der | |
| Grenze Storskog Grensestasjon bei Kirkenes leben, weiterhin ein- und | |
| ausreisen, und das Gleiche gilt für ihre nahen Verwandten. Seit September | |
| 2022 war Storskog die letzte offene Landgrenze zwischen Russland und dem | |
| Schengen-Raum für russische Staatsbürger auf Einkaufs- oder Urlaubsreise. | |
| Seit Mai 2024 ist sie dafür dicht. Norweger, die bis zu 30 Kilometer | |
| entfernt von der Grenze wohnen, dürfen mit einer Sondererlaubnis weiterhin | |
| die Grenze passieren. | |
| 2019 war Liza das erste Mal in Kirkenes für eine Recherche. Damals hatte | |
| sie mit Journalisten von The Barents Observer Kontakt, einem norwegischen | |
| Online-Medium, das Nachrichten in Englisch und Russisch veröffentlicht. | |
| „Bis Herbst 2022 war ich in Moskau, merkte aber ab Kriegsbeginn, wie sich | |
| schleichend etwas veränderte“, erzählt sie. | |
| ## Russland war nicht so autoritär wie jetzt | |
| Vor dem Krieg filmte sie Anti-Regierungs-Proteste in Russland, als Tausende | |
| von Menschen auf den Straßen waren, um Navalny zu unterstützen. „Es war | |
| immer ziemlich angespannt und autoritär in Russland, im Vergleich zu | |
| Europa. Aber nicht so autoritär wie jetzt. Man konnte noch protestieren.“ | |
| Bis die Polizei härter gegen Protestierende vorging – und auch gegen | |
| Journalisten. „Es wurden verrückte Gesetze erlassen, es stand unter Strafe, | |
| den Krieg Krieg zu nennen, wir mussten über die ‚spezielle | |
| Militäroperation‘ schreiben“, erinnert sie sich. | |
| Als ihr Kollege aus London sie am Morgen des 24. Februar 2022 anrief, sagte | |
| er: „Liza, Russland ist tatsächlich in die Ukraine einmarschiert.“ Sie | |
| erinnert sich, was in den darauffolgenden Tagen passierte: „Sofort haben | |
| die russischen Behörden Gesetze erlassen, die jeglichen Journalismus | |
| verbieten. Die Regierung wollte, dass man nur offizielle Pressemitteilungen | |
| veröffentlicht, obwohl die meisten Journalisten wussten, dass es um die | |
| Verbreitung von Falschmeldungen ging“, erklärt Liza. | |
| [3][Für BBC World News arbeitete sie zunächst weiter in ihrem Heimatland]. | |
| „Es war verdammt anstrengend und harte Arbeit“, sagt sie. Doch es brachte | |
| sie als Journalistin weiter, weil sie direkt vor Ort war und der Welt die | |
| Geschichten ihres Landes erzählen konnte. Sie erinnert sich an Gespräche | |
| mit Müttern, deren Söhne in Gefangenschaft geraten oder im Krieg gefallen | |
| waren, und an Massengräber in abgelegenen Dörfern. Doch je länger der Krieg | |
| dauerte, desto seltener wollten Menschen mit ihr sprechen – aus Angst vor | |
| Bestrafung durch die Regierung. | |
| Als im September 2022 die Oblast Charkiw durch die Ukraine befreit wurde, | |
| startete Russland die Mobilmachung in Russland. Angst machte sich im Kopf | |
| der Journalistin breit, sie fragte sich, ob bald auch Frauen eingezogen und | |
| an die Front geschickt werden würden. Die Entscheidung, Russland zu | |
| verlassen, fiel ihr nicht leicht. Doch sie ging. „Lange dachte ich, dass es | |
| mich schützt, dass ich für ein Medium im Ausland arbeite“, sagt sie. Nach | |
| der Verhaftung des US-Reporters Evan Gershkovich im März 2023 in Moskau | |
| wurde ihr noch einmal bewusster, wie gefährlich Russland für | |
| Pressevertreter geworden war. | |
| ## Der kleine Newsroom The Barents Observer bot Exil | |
| Dann bekam sie von einer Gelegenheit in Norwegen mit. Dass das Medium, mit | |
| dem sie 2019 für ihre Recherche in Norwegen in Kontakt stand, vier Stellen | |
| für russische Journalisten geschaffen hatte, die ihr Heimatland verlassen | |
| wollten. Der kleine Newsroom The Barents Observer bot ihr Exil. Der Name | |
| des auf Englisch und Russisch erscheinenden Lokalmediums bezieht sich auf | |
| die Barentssee, ein Randmeer des Arktischen Ozeans nördlich von Norwegen | |
| und dem europäischen Teil Russlands. Möglich machte das der Chefredakteur | |
| Thomas Nilsen. Nach Beginn des Kriegs sammelte er Spenden. „Wir nahmen die | |
| Telefone in die Hand und erhielten Geld von Stiftungen, Privatleuten und | |
| von der Universität Tromsø. Am Ende hatten wir genug, um vier Exilrussen | |
| einzustellen“, erklärt Nilsen. | |
| Seit über 20 Jahren gibt es den kleinen Newsroom in Kirkenes. Von außen | |
| wirkt das graue Gebäude wie ein Wohnhaus. Im zweiten Stock arbeitet das | |
| fünfköpfige Team, neben anderen Firmen. Die Büros sind durch Glaswände | |
| getrennt. Im Büro von Thomas Nilsen hängt eine kleine EU-Flagge, auf einer | |
| Kommode klebt ein Sticker mit der Aufschrift „Slava Ukraini“, auf ihr steht | |
| ein finnisches Bier, auf dessen Dose ein nackter Putin mit Atombombe in der | |
| Hand thront. | |
| Ein Kollege von ihm gründete 2002 ein Medium namens Barents News, das über | |
| das Geschehen auf beiden Seiten der Grenze berichten sollte. Einige Zeit | |
| später wurde es in Barents Observer umbenannt, Thomas Nilsen ist seit 2008 | |
| dabei. Ein idealer Ort, denn bis zum Ende des Kalten Krieges war Kirkenes | |
| der einzige europäische Ort, an dem die Nato eine direkte Landesgrenze zur | |
| Sowjetunion hatte. Bis 1988 gab es fast überhaupt keinen Kontakt zwischen | |
| den Ländern. „Wir sahen die Notwendigkeit eines Informationsaustauschs“, | |
| sagt er. Bisher reicht das Budget dafür, die vier russischen | |
| Exiljournalisten bis Ende 2025 zu beschäftigen. Liza ist nun seit mehr als | |
| einem Jahr hier und als Videoreporterin angestellt. | |
| „Ab 2012 wurden die Dinge ein wenig problematischer, als der Machtwechsel | |
| zwischen Dmitri Medwedew und Wladimir Putin stattfand“, sagt der | |
| Chefredakteur. „Als wir im nordrussischen Murmansk recherchierten, wurden | |
| wir vom FSB, dem russischen Sicherheitsdienst, verfolgt. Sie mischten sich | |
| nicht ein, aber wir sahen, dass sie da waren, und sie wollten, dass wir es | |
| sehen“, erzählt Nilsen. Dadurch wurden die Menschen in Russland immer | |
| vorsichtiger und wollten kaum noch mit den norwegischen Journalisten | |
| sprechen. | |
| ## Die junge Ukrainerin lebt dort seit November 2023 | |
| Im Jahr 2017 wurde er in Russland zur Persona non grata erklärt. 2019 kam | |
| eine Mail aus Moskau, dass nun Barents Observer dort gesperrt ist. Das | |
| hielt ihn und seine Kollegen jedoch nicht davon ab, weiter zu berichten – | |
| bis heute. Thomas Nilsen ist es wichtig, dass auch die Menschen in Russland | |
| weiterhin Zugang zu Informationen aus Europa haben. Die Sperre seines | |
| Mediums in Russland umgeht er unter anderem mit Mirror Sites – Kopien der | |
| Website von Barents Observer, unter einem anderen Link. | |
| Auch Kseniia zog wegen des russischen Übergriffs auf die Ukraine nach | |
| Kirkenes. Die junge Ukrainerin lebt dort seit November 2023 als Flüchtling | |
| und arbeitet im Restaurant Aurora als Servicekraft. Wegen der Nähe zu | |
| Russland und ihrem Status als Geflüchtete möchte sie ihren vollen Namen | |
| nicht nennen. Sie lebt nun seit einem Jahr in Norwegen. „Vorher hatte ich | |
| anderthalb Jahre meine Eltern nicht gesehen“, erzählt Kseniia. | |
| In einem skandinavisch-simplistisch eingerichteten Café erzählt die junge | |
| Frau aus Odessa von den letzten zweieinhalb Jahren. Sie spricht mit ruhiger | |
| Stimme und teilt ihre Geschichte, achtet darauf, detailliert und stringent | |
| zu erzählen. Als der Krieg ausbrach, wartete sie gerade darauf, einen Job | |
| auf der Fähre eines US-Unternehmens anzutreten. Der Arbeitsbeginn | |
| verzögerte sich, doch im März 2022 ging der Job auf dem Kreuzfahrtschiff | |
| dann doch los. Dort lernte sie ihren jetzigen Ehemann kennen – einen | |
| Peruaner, der wie sie auf dem Schiff arbeitete. Nachdem ihr Arbeitsvertrag | |
| endete, kehrte sie nicht in die Ukraine zurück, sondern reiste nach Peru, | |
| wo sie und ihr Freund heirateten und einige Zeit blieben. Ihre Eltern waren | |
| zu dem Zeitpunkt noch in Odessa. | |
| „Wir wollten versuchen, ein normales Leben zu führen“, sagt sie. Als sie | |
| noch in Peru war, überlegten sie und ihr Ehemann, nach Kanada auszuwandern. | |
| Doch für ihn war es schwierig, dort ein Visum zu erhalten. „Meine Eltern | |
| haben angefangen, am Telefon viel Gutes über Kirkenes zu erzählen und über | |
| Norwegen.“ | |
| Nach dem ersten Kriegsjahr beschlossen ihre Eltern, die Ukraine zu | |
| verlassen. „Ich machte mir Sorgen – meine Eltern sprechen kein Englisch, | |
| geschweige denn Norwegisch“, sagt sie. „30 Jahre arbeitete Papa im selben | |
| Unternehmen, im Hafen von Yuzhny, in der Region Odessa“, erzählt sie. Ihre | |
| Eltern wollten nicht flüchten. Als immer wieder der Strom ausfiel, auch im | |
| Winter, und ihre Eltern immer wieder im Auto saßen, weil es dort wärmer war | |
| als in ihrem Haus, entschieden sie sich zur Flucht. | |
| „Sie flogen zunächst nach Oslo und beantragten Asyl“, sagt sie. Freunde | |
| ihrer Eltern waren zuvor nach Norwegen geflüchtet. „Mein Vater ist 54 und | |
| meine Mutter ist 52. Sie kamen im August 2022, das Wetter war gut und die | |
| Leute freundlich. Norwegische Freiwillige holten sie am Flughafen mit dem | |
| Auto ab, zeigten ihnen die Wohnungen, zeigten ihnen alles.“ | |
| [4][Kseniia und ihr Ehemann entschieden sich dazu,] auch nach Kirkenes zu | |
| ziehen. Möglich war das, weil Kseniias Eltern schon der nordnorwegischen | |
| Kommune zugewiesen worden waren. Kommt ein Geflüchteter in Norwegen an und | |
| hat noch keine Angehörigen im Land, kann er nicht entscheiden, wo im Land | |
| er leben wird. Die Behörden weisen ihm eine Kommune zu. | |
| Kseniia spricht offen, chronologisch und detailliert. In ihren Worten | |
| schwingt Dankbarkeit, Resilienz und Reflexion mit, von Bitterkeit keine | |
| Spur. Den Kuchen vor ihr lässt sie erst mal stehen. Die junge Frau mit dem | |
| klaren Blick, der runden Brille und den schulterlangen Haaren erzählt von | |
| ihren Erinnerungen an die Monate der Unsicherheit. „Ich bin so stolz auf | |
| meine Eltern“, sagt sie. Vor ihrer Flucht haben sie ihr ganzes Leben nahe | |
| Odessa verbracht. | |
| Dann räumt sie mit Vorurteilen auf. Oft werden Menschen in Skandinavien von | |
| der Außenwelt als kühl und schwer nahbar angesehen. Sie erzählt hingegen | |
| von der Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft der Norweger, die ihren Eltern | |
| beim Ankommen halfen. Gab es auch unangenehme Situationen für ihre Eltern | |
| hier? „Ja, aber selten“, sagt Kseniia. Ein russischer Arbeitskollege ihres | |
| Vaters hier in Kirkenes hörte auf, mit ihm zu sprechen, als er sagte, dass | |
| er aus der Ukraine kommt. | |
| Einen Wunsch, den Kseniia hat? Ihrem Ehemann die Ukraine zeigen. „Er hat | |
| mir sein Leben in Peru gezeigt. Wo er aufgewachsen ist, wie er gelebt hat. | |
| Aber ich kann ihm mein Leben dort nicht zeigen. Wo mein Leben war. Ich | |
| vermisse meine Stadt sehr.“ Wann sie und ob zurückkehren kann, kann niemand | |
| sagen. Nach ihrer Ankunft in Norwegen konzentrierte sie sich erst mal | |
| darauf, schnell einen Vollzeitjob finden. „Hier gibt es gute Regeln für die | |
| Arbeit, man arbeitet nicht zu viel, hat ein normales Gehalt. Norwegen ist | |
| gut“, sagt sie. | |
| Hier im Norden Norwegens trennt an einigen Stellen nur ein Flüsschen „den | |
| Osten“ vom „Westen“. Würde man hindurchlaufen, wäre das eine Straftat. | |
| Würde man nicht auf Google Maps schauen, wüsste man das möglicherweise gar | |
| nicht. Denn wenig weist darauf hin, dass ein paar Meter weiter Europa endet | |
| und ein Land anfängt, das mit der Ukraine, die mit Waffen durch Europa | |
| unterstützt wird, im Krieg ist. | |
| Doch Russland war nicht immer der Feind Europas. Früher war der Feind ein | |
| heutiges EU-Land: Deutschland. Und die Russen, die Guten, die „Befreier“ in | |
| den Augen einiger in Norwegen. Damals, 1944, waren deutsche Soldaten im | |
| Gasthaus untergebracht, das Johns Eltern gehörte. | |
| Daran erinnert sich der Norweger John Ottar Eriksen. Er wohnt mit seiner | |
| Frau Olga einige Kilometer außerhalb der Stadt Kirkenes. John ist 70 Jahre | |
| alt und liebt Geschichte. Sein Wohnzimmer bewegt sich optisch irgendwo | |
| zwischen Geschichts- und Heimatmuseum. Im Glaskasten seines Couchtisches | |
| liegen Relikte aus dem letzten Weltkrieg, auf dem Fernseher läuft eine | |
| Geschichtsdoku und in seinem prall gefüllten Bücherregal stehen drei Bände | |
| „Norwegens Krieg 1940–1945“, die Anthologie „70 Jahre Frieden an einer | |
| Grenze: 1944–2014“ und Tolstois „Krieg und Frieden“. | |
| John trinkt aus einer Stalin-Tasse. Er sei ein stolzer Norweger, sagt er. | |
| Der Rentner arbeitete in der Holzindustrie und Fischerei. „Ich war schon | |
| viel in der Welt, Australien, Japan, China“, sagt er. Seine Erinnerungen | |
| erzählt er in Anekdoten, mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. | |
| Er kritisiert „die Medien“. Und schenkt gleichzeitig einer Journalistin aus | |
| Deutschland das Vertrauen. Im großen Garten vor seinem Haus steht eine | |
| Rakete aus dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen die Sätze baut er zotige Witze | |
| und schwelgt in den Erinnerungen von Ausflügen nach Murmansk, wo er als | |
| „junger Mann“ Wodka mit „schönen russischen Frauen“ trank, nachdem der | |
| eiserne Vorhang gefallen war. | |
| John fährt auch jetzt regelmäßig nach Russland. Die Mutter seiner Ehefrau | |
| Olga wohnt in Murmansk, die Familie hat dort ein Ferienhaus. „Wenn man sich | |
| an die Regeln hält, hat man nie Probleme“, sagt er. Er erzählt, dass er | |
| letztens nach einem Russlandbesuch einen Benzinkanister mit Wasser füllte | |
| und die norwegischen Beamten für einige Minuten im Glauben ließ, er | |
| schmuggele das Benzin, das von der EU sanktioniert wird. Der wasserbefüllte | |
| Benzinkanister scheint Johns stille Kritik zu sein: „Ich finde es paradox, | |
| dass ich eine Gurke kaufen kann, aber keine Zahnbürste. Ich kann in | |
| Russland Brot kaufen, ich kann Fisch kaufen, ich kann Bier kaufen. Aber | |
| kein Toilettenpapier, das ist verboten.“ | |
| Magnus Mæland, der Bürgermeister von Kirkenes, ist anders als John ein | |
| lautstarker Kritiker Russlands, seit Moskau seinen Angriff auf die Ukraine | |
| gestartet hat. Wiederholt hat er an Unterstützungskundgebungen für die | |
| Ukraine teilgenommen und angedeutet, dass er den Vorschlag unterstützt, die | |
| Straße vor dem örtlichen russischen Generalkonsulat in | |
| „Aleksei-Nawalny-Straße“ umzubenennen. | |
| Der Blick auf Russland unterscheidet sich in Kirkenes von Gesamtnorwegen | |
| und selbst von Nordnorwegen. Im Jahr 2023 untersuchte eine Studie der Oslo | |
| Metropolitan University die Einstellung der Norweger zu Russland, mit | |
| besonderem Fokus auf Finnmark, zu dem auch Kirkenes gehört. Die Ergebnisse | |
| zeigen, dass die Menschen in dieser Region leicht unterschiedliche | |
| Meinungen zu Russland haben im Vergleich zu anderen Teilen Norwegens. 15 | |
| Prozent der Befragten in Finnmark denken, dass Norwegen alle Sanktionen | |
| gegen Russland aufheben sollte, während es in Nordnorwegen nur 6 Prozent | |
| sind. 20 Prozent in Finnmark sind der Meinung, dass Norwegen keine Waffen | |
| mehr an die Ukraine liefern sollte, im Vergleich zu 13 Prozent in | |
| Nordnorwegen. 93 Prozent der Menschen in der Grenzregion glauben, dass es | |
| wichtig ist, gute nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland zu haben, | |
| während es in Nordnorwegen nur 84 Prozent sind. | |
| Auch John blickt kritisch auf die Distanz, die aufgrund des Kriegs zwischen | |
| Norwegen und Russland entstanden ist. „Wir hatten früher eine sehr gute | |
| Freundschaft mit Russland. Russische Musiker kamen nach Norwegen. Jedoch | |
| ist es derzeit sehr beliebt, Russland zu hassen“, sagt er. | |
| Während des Zweiten Weltkriegs war Kirkenes einer der am häufigsten von | |
| sowjetischen Kräften bombardierten Orte Europas. Aufgrund ihrer | |
| strategischen Lage und der Stationierung deutscher Truppen und | |
| Versorgungseinrichtungen in der Region war Kirkenes ein wichtiges Ziel. Die | |
| Stadt war seit der Besetzung Norwegens durch die Deutschen im Juni 1940 ein | |
| wichtiger Marine- und Luftwaffenstützpunkt der Nazis. Rund 30.000 deutsche | |
| Soldaten waren hier stationiert. Als die Rote Armee ab Oktober 1944 die | |
| deutschen Truppen aus Nordnorwegen und Finnland vertrieb, befahl Hitler | |
| eine Zwangsräumung der gesamten Provinz Finnmark. Bewohner der Grenzstadt | |
| weigerten sich, das zu tun, und versteckten sich in den Höhlen und | |
| Minenschächten der Gegend. Angesichts des unerwarteten Widerstands der | |
| Norweger begannen die Deutschen mit der systematischen Zerstörung der | |
| Finnmark mit der Taktik der „verbrannten Erde“ – in der Region sollte kein | |
| einziges Haus übrig bleiben. Die versteckten Bewohner wurden schließlich | |
| von der Roten Armee gerettet, die am 25. Oktober 1944 in Kirkenes | |
| einmarschierte. | |
| ## Die Menschen sprechen selten in Absoluten | |
| Als Zeichen ihrer Dankbarkeit für die Befreiung errichtete die Stadt | |
| Kirkenes das Denkmal eines Soldaten der Roten Armee und zahlreiche | |
| Gedenktafeln in den umliegenden Dörfern. Am 23. Februar 2022 verneigte sich | |
| der russische Botschafter in Norwegen, Teimuraz Ramishvili, dort und legte | |
| Blumen nieder, um der sowjetischen Soldaten zu gedenken, die Finnmark | |
| befreiten. Wenige Stunden später begann der Ukrainekrieg. | |
| John sagt, dass er aufgrund der Befreiung durch die Rote Armee im Zweiten | |
| Weltkrieg auch positive Gefühle gegenüber Russland hat. Schließlich war der | |
| Hof seines Großvaters – eines Kommunisten – während des Zweiten Weltkriegs | |
| besetzt. Sein Opa war Bauer und hatte den schönsten Hof in Pasvik, einer | |
| Provinz in Finnmark, mit Kühen, Pferden und Sägemühlen. Großvater und | |
| Großmutter wohnten im ersten Stock des Bauernhofs, während im Stockwerk | |
| darüber ein deutscher Offizier lebte. „Bis heute hat das deutsche Militär | |
| ihre Zimmer nicht bezahlt“, scherzt er. | |
| Liza sieht das allerdings etwas anders: „Die Sowjetunion hat Norwegen am | |
| Ende des Zweiten Weltkriegs befreit. Und die bestand aus verschiedenen | |
| Republiken: Russen, Weißrussen, Ukrainer, Kirgisen, Turkmenen, also sehr | |
| unterschiedliche Nationalitäten“, sagt sie. | |
| Hier, wo der Krieg so nahe ist, sprechen die Menschen selten in Absoluten. | |
| Sie koexistieren. Laufen auf den selben Straßen. Reißen manchmal eine Rose | |
| ab, stecken manchmal eine dazu. Verschieben aus Protest auch mal | |
| Blumenkränze. Vor einigen Monaten kursierte das Video einer Russin, die | |
| einen russischen Blumenkranz vor den norwegischen am sowjetischen Denkmal | |
| niederlegte: Olga, Johns Frau. Der Bürgermeister Magnus Mæland schob den | |
| russischen Kranz wieder zur Seite. Hinter der Kamera war Liza, die | |
| Journalistin, die das Ganze für Barents Observer filmte. | |
| Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Texts wurde die Grenze bei | |
| Kirkenes als „EU-Landesgrenze“ bezeichnet. Das ist falsch. Es handelt sich | |
| um eine Grenze zwischen Russland und dem Schengenraum. Wir haben dies | |
| dementsprechend angepasst. | |
| 3 Mar 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Krieg-in-der-Ukraine/!6068729 | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Edmund_Burke#F%C3%A4lschlich_zugeschriebenes_… | |
| [3] /Strack-Zimmermann-zur-politischen-Lage/!6072999 | |
| [4] /Essay-fuer-eine-neue-europaeische-Politik/!6070057 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaudia Lagozinski | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Russland | |
| Norwegen | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| GNS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) | |
| Arktis | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt USA unter Trump | |
| Marie-Agnes Strack-Zimmermann | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kaum Perspektive für Drittstaatler: Geflüchtete aus der Ukraine nun ohne Schu… | |
| Sie lebten zu Kriegsbeginn in der Ukraine, sind jedoch keine ukrainischen | |
| Staatsbürger:innen. Jetzt läuft bei vielen der Schutzstatus in Deutschland | |
| aus. | |
| Studie zu Geflüchteten: Viele Ukrainer:innen wollen bleiben | |
| Die Integration von ukrainischen Geflüchteten läuft in vielen Bereichen | |
| gut, zeigt eine neue Studie. Bei Arbeit und Kinderbetreuung gibt es noch | |
| Hürden. | |
| Arktis erhitzt sich: Ein Drittel ist zur CO2-Quelle geworden | |
| Seit Jahrtausenden bindet die Arktis mit ihren Mooren, Wäldern und Tundren | |
| Treibhausgase. Mittlerweile hat die Erderhitzung sie stark zerstört. | |
| Krieg in der Ukraine: „Was haben wir davon?“ | |
| Die Ukraine steht hinter Selenskyj und macht sich Sorgen. In den letzten | |
| Nächten gab es neue Angriffe. Doch es sind auch Erfolge zu verzeichnen. | |
| Essay für eine neue europäische Politik: Jetzt Europa! | |
| Der Schritt zu einer nach innen und außen wehrhaften Demokratie ist nie | |
| getan worden. Weltweit kommt es zur Kumpanei der Antieuropäer. | |
| Strack-Zimmermann zur politischen Lage: „Das ist eine komplett neue Weltordnu… | |
| Die FDP-Europapolitikerin begrüßt Gespräche über eine Waffenruhe in der | |
| Ukraine. Das entbinde die EU jedoch nicht von mehr | |
| Verteidigungsinvestitionen. | |
| Krieg in der Ukraine: Fragwürdiger Deal um Ukraine-Bodenschätze mit den USA | |
| Ein gemeinsamer Entwurf für ein Rohstoffabkommen zwischen den USA und der | |
| Ukraine liegt jetzt vor. Sicherheitsgarantien enthält es nicht. |