# taz.de -- Disco aus Nigeria und Südostasien: Der Soundtrack zum Tigerkapital… | |
> Das Londoner Label Soundway pflegt das musikalische Erbe Nigerias und | |
> Südostasiens. Aktuell mit zwei Disco-Compilations aus den 1970ern und | |
> 1980ern. | |
Bild: Der Musiker Feladey | |
Berlin taz | Nichts Neues bei Soundway – und das ist gut so. Wie zwei | |
aktuelle Veröffentlichungen belegen, haben die Londoner Spezialisten für | |
alte und neue Musik aus dem Globalen Süden auch 23 Jahre nach Labelgründung | |
noch immer dieselben Lieblingsthemen: [1][Musik aus Westafrika] und aus | |
Südostasien, vorzugsweise aus dem Disco-Umfeld. Die Compilations „Nigeria | |
Special Volume 3 – Electronic Innovation Meets Culture & Tradition 1978–93�… | |
und „Ayo ke Disco – Boogie, Pop and Funk from the South China Sea | |
(1974–1988)“ zeigen, dass auch die Leidenschaft für diese Musik, die Liebe | |
zum Detail bei der Produktion und die Recherchetiefe gleich geblieben sind. | |
Mehr als ein Dutzend Compilations mit Bandwurmtiteln wie „Nigeria Disco | |
Funk Special: The Sound Of The Underground Lagos Dancefloor 1974–79“ weisen | |
das bevölkerungsreichste Land Afrikas als liebstes Forschungsgebiet von | |
Soundways-Gründer Miles Cleret und seinem Team aus. Hinzu kommen etliche | |
Künstler-Compilations sowie Wiederveröffentlichungen einzelner wegweisender | |
Alben. Wie man aber an jedem weiteren Werk sieht, ist damit die Geschichte | |
der nigerianischen Popmusik noch lange nicht zu Ende erzählt. | |
Der auf der neuen, drei Alben umfassenden Compilation eingegrenzte Zeitraum | |
1978–1993 ist insofern spannend, als in dieser Zeit die Elektrifizierung, | |
Digitalisierung und Synthetisierung des Musikmachens mit großen | |
Schritten vorankam. Das lud ein zu jeder Menge grenzüberschreitenden | |
Experimenten, führte mitunter zu abenteuerlichen Geschmacksverirrungen und | |
machte darüber hinaus die Musikproduktion einfacher, schneller und | |
billiger. | |
Sie machte die Studioarbeit aber auch einsamer: „In den Achtzigern | |
entwickelte sich die Produktion kommerzieller Musik in Nigeria von einer | |
Gemeinschaftsunternehmung zu einer Tätigkeit Einzelner“, schreibt der | |
Journalist Ezra Olaoya in den Liner Notes. Der Prototyp des | |
Schlafzimmerproduzenten, der sich im Globalen Norden erst in den | |
Neunzigern, eigentlich erst im Zusammenhang mit Techno und House | |
durchsetzen konnte, war in Nigeria schon in der Disco-Produktion der 1980er | |
die Regel. Wobei in Nigeria auch bei sogenannter kommerzieller Musik schon | |
immer unendlich viele Klein- und Kleinstlabels mitmischten, bei denen die | |
Standardisierungsvorgaben nicht so streng waren und Abweichungen vom | |
Mainstream nicht nur immer wieder mal durchrutschten, sondern mitunter auch | |
erwünscht waren. | |
## Keine Rundum-sorglos-Kuscheligkeit | |
Die beglückende Diversität dieser Triple-Compilation liegt aber auch an der | |
kulturellen [2][Diversität Nigerias], einem Land, in dem über 500 Sprachen | |
gesprochen werden und es unüberschaubar viele musikalische Traditionen, | |
Stile, Spielweisen und daraus immer wieder neu entstehende Hybride gibt. | |
Kommt eine starke musikalische Vorgabe aus dem mächtigen Globalen Norden, | |
soll sie bloß nicht glauben, dass sie das Land im Handstreich nehmen kann. | |
Im Gegenteil, sie wird freundlich hereingebeten, überall willkommen | |
geheißen, aber wenn sie nach einer mehrjährigen Reise durchs Land in den | |
Spiegel schaut, erkennt sie sich selbst nicht wieder. | |
Die Rundum-sorglos-Kuscheligkeit etwa der „Saturday Night Fever“-Beiträge | |
der Bee Gees findet sich hier nicht. Keine Streicher! Inspiration dürften | |
eher Prince, Janet Jackson und die Jonzun Crew geliefert haben, was zu | |
einer gewissen kalten, elektronischen Härte der Beats und der Bässe führte, | |
die dann aber wieder im harmonisch-melodischen Bereich, durch betont | |
emotionale Gesangsparts und immer wieder durch Rückgriffe auf traditionelle | |
Elemente abgemildert wurde: Wie etwa in Dizzy K.s „Omoge“, bei dem sich | |
sanfter Juju-Gesang vor einem knalligen Jam-&-Lewis-artigen Backing | |
behaupten muss. | |
Die Schlafzimmer-Produzent*innen waren oft ehemalige Band- oder | |
Session-Musiker*innen, die mit Gitarren und Keyboards umgehen konnten und | |
Drums und Bläserparts kurzerhand nach Gusto programmierten. Mitunter kommt | |
ihre Vergangenheit als Instrumentalist*innen überdeutlich durch, wenn | |
etwa ausgiebig auf der Gitarre soliert wird wie in Feladeys „Experience“ | |
oder in Jimi Solankes „Owo Orisas Ancestral Respects“, in dem sich | |
Rock-Gitarren-Virtuosität vor einem merkwürdig blökenden Bass und fiebrigem | |
ADHS-Schlagzeug entlädt. | |
## Psychedelisches mit gegrunztem Sprechgesang | |
Es sind diese Momente, an denen die Compilation am meisten Spaß macht, wenn | |
die Genres gegen den Strich gebürstet werden, Dinge miteinander kombiniert | |
werden, die bis dato nichts voneinander gewusst hatten oder einfach mal | |
wild herumprobiert wird. Weitere Beispiele: der Elektro-Funk von Jejes | |
Track „Jeje“, der an die Synthesizer-Experimente des großen Francis Bebey | |
erinnert oder „Farofa Dancer“ von Eppi Fanio aus dem Jahr 1978, das mit | |
seiner superpsychedelischen Mischung aus Synthies, verzerrten Gitarren und | |
gegrunztem Sprechgesang europäische Tänzer jener Zeit mit Sicherheit | |
überfordert hätte. | |
Viel mehr dem Klischee der Disco als einem flitternd-glitterigem Ort | |
entspricht „Ayo Ke Disco“. Dabei ist das Raster, das bei dieser | |
Veröffentlichung angelegt wurde, deutlich größer: „Boogie, Pop and Funk“ | |
aus fünf Ländern, die kulturell höchst unterschiedlich sind, wobei ein | |
deutlicher Schwerpunkt mit fünf von zehn Titeln auf Indonesien liegt. Das | |
Ganze besteht aus einem einzigen Album, das Booklet muss man sich extra | |
kaufen. Es liefert allerdings mit einem historischen Abriss der Entwicklung | |
der Musikindustrie in Südostasien sowie etlichen Interviews mit | |
Plattensammlern und DJs viele hochinteressante Fakten und Anekdoten. | |
Musikalisch findet sich hier mehr Glamour und Glitter, dafür weniger | |
Experiment und Elektronik und wenig bis nichts Lokales außer den jeweils | |
verwendeten Sprachen. „Regalado“ von Pinoy Funk mit seinen prominent | |
eingesetzten Kulintang-Gongs ist da eine auffällige Ausnahme. Der | |
Soundtrack zum Tiger-Kapitalismus der späten Siebziger und Achtziger, der | |
„hopefull buzz“ wie es Norsicaa, die Kompilatorin des Albums (und | |
Geschäftsführerin von Soundway) in ihren Liner Notes nennt, klingt | |
westlich-hochpreisig. Man erahnt zwischen den Tönen allerdings immer wieder | |
die Sehnsüchte und Träume und die Hoffnung prekär beschäftigter Menschen, | |
endlich Zugang zur großen weiten Welt von Luxus, Verschwendung und | |
immerwährendem Spaß zu erhalten. | |
Und dann hat Norsicaa auch noch ein paar Titel in den Mix gemogelt, die | |
einen ganz anderen Buzz vermitteln wie etwa „Mangge Mangge“ von den wild | |
aussehenden Black Brothers, ebenfalls aus Indonesien, die ihren Bandnamen | |
aus der Solidarität mit der US-Black-Power-Bewegung ableiteten und aufgrund | |
ihrer kritischen Texte und Statements zur Unterdrückung der indigenen | |
Bevölkerung in den Tigerstaaten bis nach Vanuatu und Neukaledonien hohes | |
Ansehen genossen. Oder auch der arabisch klingende Song „Habibi“ des | |
malaysischen Sängers Ahmadi Hassan, der seine Inspiration aus ägyptischen | |
und Bollywood-Filmen bezog. | |
Was Diversität und Sophistication angeht, hätte Nigeria hier im | |
Direktvergleich allerdings die Nase vorn. Was Tanzbarkeit und Usability bei | |
einer [3][Rare-Groove-Tanzparty] in deiner Nachbarschaft angeht, sind | |
allerdings beide Veröffentlichungen ausgesprochen ergiebig. Wie eigentlich | |
immer bei Soundway. | |
23 Jan 2025 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
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