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# taz.de -- 150 Jahre Albert Schweitzer: Worüber der Theologe schwieg
> Albert Schweitzers Tropenspital „Lambarene“ bot den Nachkriegsdeutschen
> tröstlich ablenkende Afrika-Fantasien. Der jüdische Anteil an der
> Leistung blieb tabu.
Bild: Albert Schweitzer (1875-1965) – Mediziner, Musiker, Theologe – 19…
Acht Jahre alt war Klaus-Dieter, als er 1955 einen Brief an Albert
Schweitzer schrieb, den „Urwalddoktor“ von Lambarene. „Bleibe nur lange
gesund“, schrieb der Schüler. „Ich wünsche Dir, dass Dich die wilden Tiere
nicht auffressen. Die Neger werden Dir ja nichts tun, weil Du sie gesund
machst.“ Er fügte an: „Ich träume oft: Ich wohne in Afrika und ich habe
dort ein Haus auf einer Palme. Wenn ich dorthin kann, möchte ich Dir gern
helfen, wenn ich darf.“
Ähnlich gratulierten damals Tausende deutscher Kinder dem alten Arzt zum
Achtzigsten. Er war großväterlicher Namenspatron von rund 200 Schulen in
der Bundesrepublik geworden, 690 Straßen im Land waren nach ihm benannt.
Ursprünglich ein elsässischer Theologe, hatte Schweitzer Medizin studiert,
um als Arzt nach Französisch-Äquatorialafrika zu gehen. Dort, in Gabun,
gründete er 1913 das Tropenspital „Lambarene“. Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde er in der Bundesrepublik und später weltweit, man würde heute sagen:
gehypt. 1953 erhielt er den Nobelpreis für Frieden.
## Töten und Krieg sind schlecht
Woher aber der Hype? Schweitzers Botschaften waren schlicht und deutlich,
ohne konkret zu werden: Leben und Frieden sind gut, Töten und Krieg sind
schlecht. Dazu suggerierten Bilder seines Spitals ein so exotisches wie
hybrides Idyll. Neben schwarzen Patienten liefen verwaiste Tiere frei
umher, Pelikane, Hunde, Affen, Antilopen. Kinder, die zwischen Trümmern
aufwuchsen, sogen diese Bilderwelt begeistert auf. Viele ahnten wohl, dass
die Erwachsenen entsetzliche Verbrechen begangen hatten, doch Schweitzer
konnten sie vertrauen.
Er wurde zum Urwalddoktor im deutschen Nachkriegsdschungel, und ein Biograf
schrieb, der Name Lambarene wirke „wie eine Zauberformel“. Adenauer merkte
1957 an: „Was Albert Schweitzer sagte, wurde von einem großen Teil der
deutschen Bevölkerung als eine Art Evangelium hingenommen.“
Eben noch „Herrenvolk“ mit kolonialen Ambitionen, sahen sich die Deutschen
nach der Niederlage zunächst selbst kolonisiert von den Alliierten. 1948
hielten Demonstranten in München ein Protestschild hoch, das klarstellen
wollte: „Wir sind Deutsche und kein Kolonial-Volk!“
Zur Kompensation konnte man auf Schweitzers Miniaturkolonie in Afrika
blicken, wo zwar Elende in primitiven Baracken auf Holzpritschen lagen,
aber alles einem guten Zweck folgte. Hier entstand einer der ersten
postkolonialen Shifts: Wie eine Kulisse ließ sich „Afrika“ vor den
Holocaust schieben. Das war umso eher möglich, als Schweitzer öffentlich
nie ein Wort über den Holocaust verlor. Wer an Lambarene spendete, konnte,
wie beim Ablasshandel, an einer Wiedergutmachung mitwirken, die völlig
entkoppelt war von jüdischen Opfern.
## Das reale Lambarene
Das tatsächliche Lambarene in Gabun hätte weniger dazu getaugt, das „Dritte
Reich“ zu verdrängen. Aber weder Schweitzer noch seine Biografen erwähnten,
dass der Spitalbetrieb am Fluss Ogowe während des Zweiten Weltkriegs in den
Händen jüdischer Exilanten lag oder dass NS-Verfolgte dort gearbeitet
hatten.
Schweitzers Ehefrau Helene war die Tochter des jüdischen Gelehrten Harry
Bresslau, der als einer der ersten Treitschkes infames Diktum „Die Juden
sind unser Unglück“ zurückgewiesen hatte. Seine Kinder hatte er nach dem
Berliner Antisemitismusstreit evangelisch taufen lassen, um sie zu
schützen. Vergebens.
Helene Schweitzer, die in Deutschland lebte, floh 1941 über Lissabon und
Angola zu ihrem Mann nach Gabun, wo sie bis Kriegsende arbeitete. Zwei
ihrer Cousinen nahmen sich vor der Deportation das Leben. Schweitzer
erwähnte niemals öffentlich die jüdische Herkunft seiner Frau.
Sein Neffe Pierre-Paul Schweitzer, 1912 in Straßburg geboren, arbeitete
nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich als Finanzexperte für die
Résistance. Im März 1944 wurde er in Paris von der Gestapo gefasst,
gefoltert und im KZ Buchenwald inhaftiert. Später war er Generaldirektor
des Internationalen Währungsfonds. Über ihn hörte man vom ruhmreichen Onkel
nie ein Wort.
## Bildbände des Spitals
1933 verloren jüdische Ärzte in NS-Deutschland ihre Approbation, viele
emigrierten. Anna Wildikann, eine lettische Medizinerin, in Jena
promoviert, kam 1933 nach Lambarene und blieb, bis sie 1946 nach Israel
zog. Ihre Schwester Naama und ihr Bruder Benjamin waren Opfer des Massakers
von Rumbula in Riga 1941. Mit Wildikanns Fotografien publizierte Schweitzer
zwei schmale Bildbände zu Lambarene und beteiligte sie an den Tantiemen.
Wer Wildikann war, sagte er, soweit zu erfahren ist, nirgends.
Ebenso schwieg er über Ladislas Goldschmid. Der jüdische Ungar, der Geige
spielte und mehrere Sprachen konnte, hatte in Budapest und Wien
praktiziert, ehe er 1933 nach Lambarene gelangte, wo er bis 1947
unermüdlich im Dienst war. Goldschmid heiratete in Gabun eine
Krankenschwester aus der Schweiz, wo heute sein Sohn lebt, der 1945
staatenlos in Lambaréné geboren wurde.
Mit beiden, Wildikann wie Goldschmid, pflegte Schweitzer noch lange eine
herzliche Freundschaft, und beide ließen nichts auf ihn und das Spital
kommen. Sichtbar gemacht wurden sie nie.
## Jüdische Ärzte und Krankenschwestern
Ein weiterer jüdischer Arzt war Heinz Barrasch aus Breslau, der von 1935
bis 1937 in Lambarene war, ehe er in der Region an ein Missionshospital
wechselte. Bis 1939 war die Krankenschwester Rosa („Rösli“) Näf aus der
Schweiz in Lambarene, die jüdischen Jugendlichen bei der Flucht aus
Frankreich half. Näf wird von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte der
Völker“ geehrt.
Ihre Freundin und Kollegin Emma Ott, von 1936 bis 1939 in Lambarene,
verfasste 1942 den ersten Bericht über Deportationen aus dem französischen
[1][Lager Gurs], und verhalf wie Näf jüdischen Jugendlichen zur Flucht.
Überflüssig zu fragen, ob sie bei Schweitzers Biografen vorkommen.
Zu den Ungenannten gehören auch die Ärzte Victor Nessmann und Roger Le
Forestier. Nessmann, von 1924 bis 1926 in Lambarene, war bei der Résistance
und starb in Limoges an der Folter durch Schergen der Gestapo. Roger le
Forestier war 1934 in Lambaréné und wurde Lazarettarzt bei der Résistance.
Im August 1944 wurde er auf Befehl des Gestapo-Chefs von Lyon, [2][Klaus
Barbie], hingerichtet. Forestier soll Vorbild gewesen sein für die Figur
des Dr. Rieux in Camus’ „Die Pest“.
Mit einer Schlacht zwischen den Vichy-Truppen und den Forces françaises
libres von General de Gaulle drang Ende 1940 der Zweite Weltkrieg bis zum
Spitalgelände vor, das Schweitzer für „neutral“ erklärt hatte. Wie
bedrohlich Vichy auch in Frankreichs Kolonien war, zeigt der Spielfilm
„Casablanca“, an den das Szenario erinnert. Der Schrecken für die
Exilierten war erst vorüber, als die Vichy-Garnison von Lambaréné im
November kapitulierte und De Gaulle einen neuen Gouverneur einsetzte.
## Schweitzer verschwieg jüdische Kollegen
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der jüdische Arzt Richard Friedmann von
Oktober 1956 bis Mai 1962 zu einer der wichtigsten Stützen des alternden
Schweitzer, und galt eine Zeitlang als dessen designierter Nachfolger.
Schweitzer wusste, dass Friedmann Auschwitz überlebt hatte und die
Häftlingsnummer auf dem Arm trug. Gesprochen hat er auch von Friedmann nie
– und nie von allem, wofür [3][Auschwitz] steht.
Was sollte Schweitzers Schweigen? War es Scham? Egozentrik? War er vor
allem Fundraiser, der sich die Spendenfreude von Antisemiten erhalten
wollte? Anna Wildikann erzählte in Jerusalem von ihrem Eindruck, dass
Schweitzer beim Empfang des Nobelpreises in Oslo der überbordende
Enthusiasmus dort, mit Chören und Fackelzug, unangenehm war. Vielleicht
dachte er an die Anderen, die mit ihm gearbeitet hatten. Vielleicht dachte
er an sein Schweigen.
2 Apr 2025
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## AUTOREN
Caroline Fetscher
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