| # taz.de -- 80 Jahre Auschwitz-Befreiung: Neuer Name, neues Leben | |
| > In seiner Gedenkstunde für die NS-Opfer blickt der Bundestag auf die | |
| > Ukraine. Historikerin Ayelet Eva Herbst recherchiert zu Juden, die sich | |
| > wehrten. | |
| Bild: Am 29. Januar gedenkt der Bundestag der ukrainischen NS-Opfer. Hier zwei … | |
| Berlin taz | Es war Juni 1942, als Yirmiyahu Mützen damit begann, seine | |
| Flucht vorzubereiten. Ein Jahr zuvor hatte die Wehrmacht seine Heimatstadt | |
| Lemberg erobert. Nicht wenige Bewohner hatten den Einmarsch bejubelt, | |
| lösten die Deutschen doch die verhassten Sowjettruppen im Osten Polens ab, | |
| die die Region 1939 besetzt hatten. Mützen, Jahrgang 1921, zählte gewiss | |
| nicht zu diesen Nazi-Sympathisanten, denn er war Jude, so wie weit mehr als | |
| 100.000 Menschen in Lemberg. Und Juden galten einheimischen Antisemiten wie | |
| der SS gleichermaßen als Menschen, die es auszurotten gelte. Die Massaker | |
| begannen noch im Monat des Einmarsches. | |
| „Am Eingang der Zitadelle stehen Soldaten mit faustdicken Knüppeln und | |
| schlagen hin, wo sie treffen. Am Eingang drängen die Juden heraus, daher | |
| liegen Reihen von Juden übereinander wie Schweine und wimmern | |
| sondergleichen“, notierte SS-Hauptscharführer Felix Landau befriedigt. Er | |
| hatte sich freiwillig zum Einsatz im Osten gemeldet. | |
| Yirmiyahu Mützen wog ab, welche Möglichkeiten ihm blieben. Er könnte | |
| versuchen, versteckt bei christlichen Helfern zu überleben. Es bestand die | |
| vage Idee, sich sowjetischen Partisanen anzuschließen. Und schließlich gab | |
| es die Option, mit einer falschen Identität zu überleben. Nur hier, im von | |
| den Nazis eingerichteten Ghetto, zu bleiben und abzuwarten, das war für ihn | |
| keine Option. | |
| Anfang Juli 1942 verschleppte die SS 7.000 Ghetto-Bewohner in das Lager | |
| Janowska und ermordete sie dort. Einen Monat später waren es 50.000 | |
| jüdische Frauen, Kinder und Männer, die in Züge mit dem Ziel Belzec | |
| gezwungen wurden. Belzec war ein reines Vernichtungslager. | |
| ## Flucht gen Osten | |
| Mützen entschied sich schließlich für die dritte Option, das Leben unter | |
| anderer Identität. Es gab in Lemberg – Ukrainisch: Lwiw, Polnisch: Lwow – | |
| Helfer, die Papiere fälschten. Und es kursierten im Ghetto Informationen | |
| darüber, dass man weiter im Osten vielleicht überleben könnte, zwar auch | |
| unter deutscher Besatzung, aber doch nicht in einem Ghetto. | |
| [1][80 Jahre später] berichtet Ayelet Eva Herbst in einem Berliner Café von | |
| Yirmiyahu Mützens Entscheidung. Die israelische Historikerin recherchiert | |
| über ein unerforschtes Kapitel jüdischen Widerstands: die massenhafte | |
| organisierte Flucht aus Lemberg ins rund 1.000 Kilometer entfernte | |
| Dnepropetrowsk – heute das ukrainische Dnipro, damals ebenfalls von den | |
| Nazis besetzt. „Die Mehrheit derjenigen aus Lemberg, die den Holocaust | |
| überlebten, überstand den Massenmord irgendwo außerhalb der Stadt“, sagt | |
| Herbst. Vielleicht waren es Tausende, mit Sicherheit aber zweihundert | |
| Juden, die Zuflucht in Dnepropetrowsk suchten. | |
| Die Fluchten beweisen, dass Jüdinnen und Juden sich eben nicht | |
| widerstandslos deportieren und ermorden ließen, auch wenn sich dieses | |
| Narrativ vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute im kollektiven | |
| Gedächtnis hält. Sie kämpften um ihr Leben. | |
| 1941 hofften viele Lemberger Juden, sie könnten in der Stadt irgendwie | |
| davonkommen. Herbst sagt: „Bis zu der großen Deportation hatten viele | |
| geglaubt, sie könnten überleben, wenn sie für die Machthaber nützlich seien | |
| – als Sklavenarbeiter. Aber nun wurden auch viele Menschen deportiert, die | |
| eine Arbeit hatten. Die Menschen begannen zu begreifen, dass | |
| [2][Zwangsarbeit] sie nicht vor der Ermordung schützen würde.“ | |
| ## Besser gar nicht sprechen | |
| Für eine Flucht bis nach Dnepropetrowsk waren die Hürden enorm hoch. Es | |
| galt nicht nur aus dem Ghetto zu entkommen, falsche Papiere zu besorgen und | |
| einen Zug zu besteigen. Die Probleme für die größtenteils Jiddisch | |
| sprechenden Verfolgten begannen viel früher. Herbst erklärt: „Man musste | |
| die christliche Mehrheitsgesellschaft kulturell und sozial verstehen und | |
| sich ihr anpassen. Man musste fließend und akzentfrei Polnisch sprechen | |
| können. Es gab sehr viele Faktoren, die es einzuhalten galt, um mit | |
| falscher Identität zu überleben.“ | |
| Deshalb war es besonders religiösen Juden nahezu unmöglich, diesen | |
| Rettungsweg einzuschlagen. Nur die wenigsten von ihnen sprachen akzentfrei | |
| Polnisch. Sie kannten die christlichen Gebräuche nicht. Herbst kennt nur | |
| einen einzigen Fall von einem Mann, der sehr religiös war und die Flucht | |
| überlebt hat. | |
| Juden hätten alles nur Denkbare unternommen, um ihren verräterischen Akzent | |
| loszuwerden. „Es gibt Berichte, dass geflüchtete Juden Papier in die Backen | |
| stopften und den Nichtjuden erzählten, sie hätten eine Zahnoperation hinter | |
| sich und würden deshalb so seltsam sprechen – oder besser gar nicht | |
| sprechen“, berichtet Herbst über ihre Recherche. | |
| Die 1982 geborene Herbst hat Dutzende Fluchtgeschichten recherchiert. Sie | |
| hat Archive durchwühlt, autobiografische Notizen gefunden und Kontakt zu | |
| den Kindern von Überlebenden geknüpft. Nach dem Krieg verstreuten sich | |
| diese in alle Welt, deshalb finden sich Berichte in Australien ebenso wie | |
| in Israel. Nur in Lwiw ist Ayelet Eva Herbst bisher nicht gewesen. Zuerst | |
| kam die Pandemie, dann der Krieg. „Ich bin in Kontakt mit Kollegen in | |
| Lemberg. Wir schauen, wann es endlich mit der Reise klappt. Ich möchte sehr | |
| gerne dort hin“, sagt sie. | |
| ## Bauarbeiter gesucht | |
| Im Sommer 1942 erhielt Yirmiyahu Mützen Hilfe von Nachbarn seiner Tante, | |
| der über Kontakte zur polnischen Untergrundbewegung verfügte. So bekam er | |
| Papiere auf den Namen Yan Kot. Die Dokumente waren echt: Sie stammten von | |
| einem christlichen Mann, der seit dem Krieg 1939 vermisst wurde und dessen | |
| Eltern sich dazu bereit erklärt hatten, den neuen Namensträger als ihren | |
| Sohn zu identifizieren. | |
| Andere Illegalisierte verließen sich auf Fälschungen, die der junge | |
| jüdische Grafiker Marian Pretzel im Ghetto in großen Mengen herstellte. Er | |
| besaß nach seiner eigenen Flucht den Mut, nach Lemberg zurückzukehren, nur | |
| um dort weitere Juden mit falschen Ausweisen auszustatten, berichtet Ayelet | |
| Eva Herbst. Dazu stellte sich Pretzel unter dem Namen Smolinski selbst | |
| einen „Marschbefehl“ aus, verziert mit einem Stempel seines angeblichen | |
| Arbeitgebers. Darin heißt es: „Der bei uns angestellte polnische Arbeiter | |
| Marian Smolinski ist vom 21. Dezember 1942 bis zum 22. Januar 1943 | |
| beurlaubt und begibt sich nach Lemberg und zurück. Es wird gebeten, ihn | |
| ungehindert passieren zu lassen und jede notwendige Hilfe und Unterstützung | |
| zu gewähren.“ Zusammen mit gleich 20 Männern sei er wieder aus Lemberg | |
| abgereist. | |
| Illegalisierte Juden wie Pretzel und Mützen machten es sich zunutze, dass | |
| im fernen Dnepropetrowsk dringend Bauarbeiter gesucht wurden. Sie ließen | |
| sich, ausgestattet mit falschen Papieren unter der Identität eines | |
| christlichen Polen, in Lemberg anwerben. So konnten sie die Reise mit der | |
| Bahn wagen. | |
| Dnepropetrowsk galt für Jüdinnen und Juden als vergleichsweise | |
| ungefährlich, allerdings aus entsetzlichen Gründen. Dort, im | |
| „Reichskommissariat Ukraine“, hatten Angehörige der Einsatzgruppe C im | |
| Herbst 1941 nahezu alle Jüdinnen und Juden ermordet. Dies führte dazu, dass | |
| der Verfolgungsdruck sank. | |
| ## Stets drohten Kontrollen | |
| Herbst berichtet, dass Yirmiyahu Mützen alias Yan Kot im Oktober 1942 | |
| zusammen mit seinem Freund Yanek Levovski durch einen Onkel aus dem | |
| Lemberger Ghetto geschmuggelt wurde. Bald darauf fand ein gewisser Yan Kot | |
| einen Job bei einer deutschen Baufirma namens Kellner in Dnepropetrowsk. | |
| Der vorgebliche polnische Bauarbeiter nahm einen Zug und fuhr hin. Diese | |
| Art der Tarnung war nur Männern möglich. Deshalb, so Herbst, sei nur | |
| wenigen Jüdinnen die Flucht gelungen. „Frauen kamen in vielen Fällen | |
| zeitlich später an, als es schon ein Netzwerk von Juden mit falscher | |
| Identität gab“, sagt sie. „Manche Frauen erreichten Dnepropetrowsk auch | |
| unter dem Deckmantel einer Dolmetscherin.“ | |
| Wirklich sicher waren auch die männlichen Verfolgten keineswegs. Ihre | |
| christlichen Kollegen auf dem Bau durften keinen Verdacht schöpfen. Stets | |
| drohte, dass Polizei und SS bei einer Kontrolle ein gefälschter Ausweis | |
| auffallen würde. Auch in Dnepropetrowsk gab es Razzien. Bei einer solchen | |
| sollen 1943 mehrere hundert Juden verhaftet worden sein. | |
| Die Historikerin Herbst vermutet, dass die Mehrheit der Geflüchteten nicht | |
| überlebt hat. „Sie haben aber keine Spuren hinterlassen, die ich finden | |
| konnte“, sagt Herbst. Wer nicht überlebte, habe in der Regel auch nichts | |
| hinterlassen. Allerdings gebe es Berichte von Überlebenden über Kameraden | |
| oder Familienangehörige, die es nicht geschafft haben. | |
| Uri Lichter, ebenfalls ein geflüchteter Lemberger, erinnerte sich, dass er | |
| sich als Frau verkleidete, um einer Kontrolle zu entgehen. Herbst sagt | |
| dazu: „Bei einer gewissen Gefahr wechselte er wieder zu einer Frau, für | |
| Stunden oder Tage. Das gab es offenbar häufiger.“ | |
| ## Verdächtige Uniform | |
| Yirmiyahu Mützen, der als Yan Kot geflüchtet war, arbeitete bis Januar 1943 | |
| als Maler bei der Eisenbahn in Dnepropetrowsk. Weil seine jüdische | |
| Identität aufzufliegen drohte, ging er danach in die Stadt Poltawa und | |
| erhielt dort Arbeit als Bauarbeiter bei der deutschen Luftwaffe. Dazu | |
| erhielt er sogar eine Luftwaffenuniform, freilich ohne Rangabzeichen. | |
| „Wenn es etwas gab, dass dir Schutz versprach, dann waren es diese | |
| Wehrmachtsuniformen“, meint Herbst. „Damit wurdest du nicht von der | |
| Schutzpolizei angehalten. Sie fragten nicht nach deinen Papieren.“ Später | |
| allerdings, als die Rote Armee immer näher rückte, seien diese Uniformen | |
| gefährlich geworden. Ihre Träger gerieten in den Verdacht, deutsche Spione | |
| zu sein. Man kaum erklären, dass man eine deutsche Uniform besaß und | |
| gleichzeitig Jude war. | |
| Mützen entging dem sowjetischen Geheimdienst. Er befand sich gegen | |
| Kriegsende in Rumänien. Später wanderte er nach Israel aus. Seine alten | |
| Namen legte er ab. Yirmiyahu Mützen nannte sich nach dem Mann, dessen | |
| Papiere ihm das Leben gerettet hatten: Yan Kot. | |
| 27 Jan 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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