# taz.de -- Vermarktung alter Popsongs: Die Angstblüte der „Greatest Hits“… | |
> Künstler*innen unter 50 weigern sich, Best-of-Compilations auf den | |
> Markt zu bringen. Doch bei den Boomern boomen sie ohne Ende. | |
Bild: Keine Verwendung mehr in Zeiten von Streaming-Plattformen | |
Berlin taz | Wir armen, armen Boomer, wir! Stück für Stück demontieren sie | |
uns unsere kuschelige „Truman Show“-Idylle, nehmen uns alle Gewissheiten, | |
Utopien, Werte und: ja – auch den ganzen Spaß und stoßen uns in ein | |
finsteres, stinkendes Schlammloch der Unsicherheit, Existenzangst und | |
Gewissensnot. | |
Eigentlich bleibt einem nur noch das Wegtauchen in die Vergangenheit, in | |
die herrlich analogen Zeiten unserer Jugend, als man sich maximal darüber | |
aufregen konnte, dass „graue B-Film-Helden“ [1][(Peter Hein)] die Welt | |
regieren. Hach! | |
Aber die Zerstörung unserer Existenz geht weiter und die Sadisten da oben | |
nehmen jetzt gezielt unsere letzten kleinen treuen Freunde unter Feuer, | |
die, die immer für uns da waren. Aktuell: das „Greatest Hits“-Album. Ich | |
bin ja unter hysterischen Musiknerds aufgewachsen, deswegen weiß ich vieles | |
nicht, was außerhalb dieser Blase normal oder wichtig ist bzw. war. | |
Ich persönlich besitze genau ein „Greatest Hits“-Album („The Best Of | |
[2][Bill Withers“).] Ein Jugendzimmer, in dem vor dem Plattenspieler „Simon | |
& Garfunkel’s Greatest Hits“ stand, habe ich seinerzeit immer schnell | |
wieder verlassen. Aber aus der Ausgabe Nr. 35 von „Shoddy Goods“, dem | |
Newsletter von Meh, einer texanischen „community for the cynical consumer“, | |
habe ich gelernt, dass viele Music Lover, darunter sogar solche, die diese | |
Liebe zum Beruf gemacht haben, ihre tiefere Beziehung zur Musik solchen | |
Hit-Compilations verdanken. | |
„Als Knabe war mein Budget für Musik so gering, dass ich es größtenteils | |
für 'Greatest Hits-Alben ausgab, um sicher zu sein, dass ich keine Platte | |
voller Füllmaterial bekam, nachdem ich den einen tollen Song im Radio | |
gehört hatte“, schreibt „Shoddy Goods“-Autor Dave Rutledge. | |
## Wie soll man Gitarre lernen? | |
Und er verweist auf die Guardian-Autorin Annie Zaleski, die angibt, REMs | |
„Eponymous“, Depeche Modes „Catching Up“, The Smiths’ „Best 1“ un… | |
Durans „Decade“ seien drei der einflussreichsten Alben ihres Lebens | |
gewesen, und zitiert den Buchautor und Rolling Stone-Mitarbeiter Dan | |
Epstein: „Ich lernte Gitarre zu The Whos ‚Meaty, Beaty Big And Bouncy‘, T… | |
Byrds’ ‚Greatest Hits‘ und ‚All Wrapped Up: The Best of The Undertones�… | |
Die junge Generation (bei welchem Buchstaben sind wir eigentlich gerade? | |
Generation µ?) wird keine Möglichkeit mehr haben, Gitarre zu lernen. Auf | |
den ersten Blick mag es zwar so wirken, als sei das Hits-Compilation-Format | |
erfolgreicher denn je – im März 2025 befanden sich 32 solcher Alben in den | |
„Billboard“-Top-200, im März 1990 waren es nur 13, wie „Shoddy Goods“ | |
recherchierte. | |
Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es sich hierbei wohl eher | |
um das handelt, was im Pflanzenreich „Angstblüte“ genannt wird: Wenn man | |
merkt, dass es zu Ende geht, treibt man schnell noch mal ein paar Blüten | |
aus, um womöglich einen letzten Fortpflanzungserfolg zu erzeugen. Denn | |
Künstler*innen unter 50 weigern sich, solche Compilations auf den Markt | |
zu bringen, die genannten 32 „Billboard“-Erfolge stammen fast | |
ausschließlich von Künstler*innen, die schon ewig dabei sind (12 von | |
Künstler*innen, die ihre Karriere vor mehr als 50 Jahren starteten). | |
## Flüchtigkeit der Listen | |
[3][Taylor Swift,] Bruno Mars, Harry Styles, noch nichtmal Beyoncé, Lady | |
Gaga oder Justin Timberlake haben je eine Hits-Compilation veröffentlicht. | |
It’s the streaming economy, stupid – gerne stellen sie stattdessen | |
thematisch oder nach Schaffensphasen sortierte Listen für die Portale zur | |
Verfügung. Aber solche Listen kommen und gehen, sind flüchtig, es fehlt | |
ihnen das Kanonhafte. Eigentlich kann sich jede*r Hörer*in selbst solche | |
Listen basteln (und tut es auch). | |
Aber den Boomer*innen, die angesichts dieser Entwicklung schon die großen | |
Tränentücher hervorziehen, sei gesagt: Es kommt immer noch schlimmer. | |
Nächster Halt: der Untergang des Band-Formats … | |
30 Mar 2025 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
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