# taz.de -- Friedensbewegung heute: Gespalten und orientierungslos | |
> Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat einen alten Grundkonflikt | |
> der deutschen Friedensbewegung wieder aufbrechen lassen. | |
Bild: Friedensdemonstration am 27. Februar 2022 in Berlin: Hundertausende einte… | |
Berlin taz | Viele scheinen sie schon vergessen zu haben: Als nach dem | |
Überfall Russlands auf die Ukraine der sozialdemokratische Bundeskanzler | |
Olaf Scholz am 27. Februar 2022 seine eigentümliche „Zeitenwende“-Rede im | |
Bundestag hielt, fand nur wenige hundert Meter davon entfernt eine | |
[1][riesige Friedensdemonstration] statt. | |
Nach Polizeiangaben waren es mindestens 100.000 Menschen, die | |
Veranstalter:innen zählten sogar 500.000. Sie alle einte ihr tiefes | |
Erschrecken über den russischen Angriff, ihre große Solidarität mit den | |
überfallenen Menschen in der Ukraine und der drängende Wunsch nach Frieden. | |
Blau-gelbe Ukraine-Fahnen wehten neben | |
Weiße-Taube-auf-blauem-Grund-Transparenten. | |
Zu der Großdemonstration hatte ein breites Bündnis aufgerufen: von | |
klassischen Friedensorganisationen wie der DFG-VK oder Pax Christi über | |
Gewerkschaften bis zu Umweltschutzverbänden und der Evangelischen Kirche in | |
Deutschland (EKD). „Wir fordern die russische Regierung auf, sofort alle | |
Angriffe einzustellen, sich aus der Ukraine zurückzuziehen und deren | |
territoriale Integrität wiederherzustellen“, hieß es in ihrem gemeinsamen | |
Aufruf. | |
Das war ihr Minimalkonsens. Es hätte der Beginn einer neuen, dringend | |
notwendigen Antikriegsbewegung werden können, die sich auch dem | |
geschichtsvergessenen Ansinnen entgegenstellt, Deutschland müsse wieder | |
„kriegstüchtig“ werden. Daraus ist leider nichts geworden. | |
## Tiefe Gräben und Ratlosigkeit | |
Als der Ukrainekrieg im vergangenen Oktober wieder Menschen auf die Straße | |
des 17. Juni in Berlin zog, da waren es nicht nur wesentlich weniger, | |
sondern die Fahnen wehten nicht mehr neben-, sondern auf getrennten | |
Veranstaltungen gegeneinander. Den einen scheint die Empathie für die | |
Menschen in der Ukraine verloren gegangen zu sein. Sie wollen einfach nur | |
noch ihren Frieden haben. | |
Bei den anderen hat sich das Denken ins Militärische verschoben, hin zu dem | |
nicht besonders realitätstauglichen Glauben, dass sich der russische | |
Imperialismus auf dem Schlachtfeld besiegen ließe. Die einen stehen den | |
anderen unversöhnlich gegenüber. Und bei denen, die dazwischen stehen, | |
herrscht Ratlosigkeit. | |
Der Krieg in der Ukraine hat auch die deutsche Friedensbewegung in Trümmer | |
gelegt. Ein Grund dafür ist eine befremdliche Doppelmoral bei einem | |
relevanten Teil der Bewegung. Als die Initiative „Nie wieder Krieg – Die | |
Waffen nieder“ um die Altfriedensbewegten [2][Reiner Braun] und [3][Willi | |
van Ooyen] für den 3. Oktober 2024 zu ihrer „Friedensdemonstration“ in | |
Berlin aufrief, benannte sie in ihrem Aufruf nicht mal mehr, wer wen | |
angegriffen hat. Entsprechend fehlte auch die Forderung nach dem Rückzug | |
der russischen Truppen aus der Ukraine. | |
## Doppelte Standards | |
Da habe man sich nicht festlegen wollen, begründete das Braun in einer | |
Pressekonferenz wenige Tage vor der Demonstration. Eine eigentümliche | |
Antwort, denn bei früheren Kriegen war es gar keine Frage, was die | |
Friedensbewegung fordert, etwa „Amis raus aus dem Irak!“. „Wir hatten | |
damals eine ganz andere historische Situation, eine ganz andere | |
Vorgeschichte zu diesem Krieg“, befand der frühere Co-Präsident des | |
Internationalen Friedensbüros (IPB) in Genf. Das stimmt: Seinerzeit ging es | |
gegen die USA, jetzt geht es um Russland. | |
Diese Doppelmoral hat in einem bestimmten politischen Spektrum Tradition. | |
Und sie führte schon einmal zum Bruch. In der Nacht zum 21. August 1968 | |
marschierten Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR ein und schlugen | |
gewaltsam den [4][„Prager Frühling“] nieder. Einen Tag nach dem Einmarsch | |
stellten zentrale pazifistische Träger der Kampagne für Demokratie und | |
Abrüstung, die bis dahin die Ostermärsche in der Bundesrepublik organisiert | |
hatte, den in der Bewegung aktiven Kommunist:innen in einem offenen | |
Brief eine entscheidende Frage: Ob sie bereit seien, kritisch zum Einmarsch | |
in die ČSSR Stellung zu beziehen? | |
Die Antwort auf diese Frage entscheide „jetzt über die Möglichkeiten | |
weiterer Zusammenarbeit in der außerparlamentarischen Opposition“, schrieb | |
der Kreis um [5][Andreas Buro], Arno Klönne und Klaus Vack. | |
Sie kämen „zu einer grundsätzlichen anderen Beurteilung des Eingreifens der | |
fünf sozialistischen Länder“, antworteten am 31. August 1968 der | |
marxistische Philosoph [6][Robert Steigerwald] und andere führende | |
Kommunist:innen, die knapp einen Monat später zu den Gründer:innen der | |
DKP gehörten. Es sei ihre „Überzeugung, dass das militärische Eingreifen | |
zur Sicherung der sozialistischen Ordnung in der ČSSR und damit des Status | |
quo in Europa vor der akuten Gefahr eines gegenrevolutionären | |
Auflösungsprozesses unvermeidlich war“, teilten sie mit. | |
## Ungelöster Grundkonflikt | |
Daraufhin zerfiel die Kampagne für Demokratie und Abrüstung. Ein Jahrzehnt | |
lang gab es keine Ostermärsche mehr in der Bundesrepublik. Erst nach dem | |
Nato-Doppelbeschluss im Dezember 1979 lebte die Ostermarschbewegung wieder | |
auf. Die gemeinsame Angst vor der atomaren Bedrohung ließ Trennlinien in | |
den Hintergrund treten. Aber der Grundkonflikt blieb ungelöst. | |
Je kleiner die Friedensbewegung in den vergangenen Jahrzehnten geworden | |
ist, desto mehr an Einfluss scheint jener Teil gewonnen zu haben, der schon | |
immer ein eher taktisches Verhältnis zu Pazifismus und Antimilitarismus | |
hatte. Wobei zwar von dieser Fraktion weiterhin die USA als singulärer | |
Hauptfeind von Frieden und Entwicklung begriffen wird, von der einstigen | |
Sowjethörigkeit aber nur ein dumpfer Antiimperialismus geblieben ist. Die | |
Folgen sind ebenso kurios wie fatal. | |
Die westliche Friedensbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich stets | |
als humanistisch und in ihrer weit überwiegenden Mehrheit als linksliberal | |
oder links verstanden. Über die realsozialistischen Staaten und deren | |
Potentaten gab es zwar kontroverse Auffassungen. Über rechte europäische | |
Diktatoren wie António de Oliveira Salazar in Portugal, Francisco Franco in | |
Spanien oder Georgios Papadopoulos in Griechenland gab es die jedoch nicht. | |
Sich damit gemeinzumachen, wäre keiner Fraktion der Friedensbewegung auch | |
nur im Traum eingefallen. Bei der Haltung gegenüber Wladimir Putin sieht | |
das heute anders aus. Obwohl er unzweifelhaft ein verbrecherischer rechter | |
Autokrat ist. | |
## Pfeifkonzert für Tatsachen | |
Auf der Demonstration am 3. Oktober 2024 erntete der | |
SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner bereits für die bloße Feststellung, | |
bei dem Überfall auf die Ukraine handele es sich um „einen russischen | |
Angriffskrieg, der jeden Tag Tod und Zerstörung“ bringt, [7][ein wütendes | |
Pfeifkonzert]. Wer jedoch schon die Aussprache einer solch unbestreitbaren | |
Tatsache für unerträglich hält, der oder die demonstriert nicht für den | |
Frieden, sondern für den Okkupanten. | |
Obwohl ein Angriffskrieg nach geltendem Völkerrecht an sich schon ein | |
Kriegsverbrechen darstellt, sehen jene, die sich heute im Umfeld des | |
Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) bewegen, ihn im Fall Russlands nur als | |
„Fehler“ eines Staates an, dem man aufgrund seiner Widerständigkeit gegen | |
den Dominanzanspruch des westlichen Kapitalismus grundsätzlich wohlwollend | |
gegenübersteht. | |
Entsprechend relativiert wird der Völkerrechtsbruch mit dem Verweis, dass | |
die USA doch schon viel mehr und schlimmere Völkerrechtsbrüche begangen | |
hätten, wie es Oskar Lafontaine auf dem BSW-Bundesparteitag am 12. Januar | |
in den Saal gebrüllt hat. | |
Viel ist durcheinandergeraten. Selbst die Forderung nach Schutz und Asyl | |
für Kriegsdienstverweiger:innen und Deserteur:innen aus Russland, | |
Belarus und der Ukraine in Deutschland und der EU gehört dank des zu großen | |
Einflusses des flüchtlingsfeindlich orientieren BSW nicht mehr zum | |
friedensbewegten „Minimalkonsens“. | |
## Kann die Friedensbewegung eine Renaissance erleben? | |
„Unser Marsch ist eine gute Sache, weil er für eine gute Sache geht“, hei�… | |
es in dem bekanntesten Ostermarschlied, geschrieben Anfang der 1960er | |
Jahre. Doch daran haben heutzutage viele aus gutem Grund erhebliche | |
Zweifel. Weiterhin gibt es in der Friedensbewegung höchst integre Menschen | |
und Organisationen, wie zum Beispiel die DFG-VK. | |
Sie scheinen jedoch derzeit zu schwach zu sein, um den problematischen Teil | |
an die Seite zu drängen. Das wäre aber eine Voraussetzung für eine | |
Renaissance der Friedensbewegung, die doch angesichts des so gefährlichen | |
gegenwärtigen Wettrüstens eigentlich so dringend notwendig wäre. | |
23 Jan 2025 | |
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Pascal Beucker | |
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