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# taz.de -- Massenproteste in Georgien: Ein Land wehrt sich
> Tausende demonstrieren auf den Straßen Georgiens für einen europäischen
> Kurs und Neuwahlen. Die Putinfreunde in der Regierung reagieren
> autoritär.
Bild: Hoffen auf die EU: Demonstrierende auf den Straßen Georgiens
Berlin taz | Im Gedicht „Das Negativ“ des georgischen Dichters Swiad
Ratiani geht es um Menschen, die den Kampf für die Freiheit aufgegeben
haben. Anders als seine Protagonisten aber ist Ratiani, der 2018 verhaftet,
von der Polizei misshandelt, einer Hetzkampagne ausgesetzt und letztlich
zum Auswandern gezwungen wurde, noch immer vorne mit dabei. Als die
[1][Demokratieproteste in Georgien] im November wieder aufflammten, hielt
er es nicht mehr aus und kehrte in sein Land zurück. Viele Exil-Georgier
folgten seinem Beispiel.
Meine und Ratianis Generation demonstrierte schon vor 35 Jahren auf dem
Rustaweli-Prospekt gegen das Sowjetregime, heute übernehmen vor allem die
Jüngeren. Damals wie heute geht es um Freiheit und Demokratie.
Doch nie zuvor war die Hoffnung größer, dass Georgien es wirklich schafft,
mit seiner autoritären sowjetischen Vergangenheit zu brechen. Gleichzeitig
war auch die Angst nie größer, dass das Land auf seinem Weg in die
Europäische Union scheitern könnte. Vielleicht sind die Proteste heute so
etwas wie der letzte Kampf um die Zukunft Georgiens.
## Widerstand trotz massiver Polizeigewalt
Am 28. November erklärte der aktuelle Premierminister Georgiens, Irakli
Kobachidse von der Partei „Georgischer Traum“, dass das Land von seiner
Seite aus bis Ende 2028 keine Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen
werde. Kurz nach dieser Ankündigung gingen Zehntausende Georgierinnen und
Georgier in der Hauptstadt Tbilisi auf die Straße. Seit sechs Tagen
protestieren sie [2][trotz massiver Polizeigewalt] entschlossen und
erbittert für eine europäische Zukunft Georgiens. Sie fordern Neuwahlen.
Am ersten Tag versammelten sich rund 180.000 Menschen allein auf dem
Rustaweli-Prospekt in Tbilisi. Der Ruf aus der Hauptstadt wurde gehört und
beantwortet: Auch in Batumi, Kutaissi, Sugdidi, Gori und vielen anderen
Städten protestieren alte und junge Menschen, Künstler und Arbeiter,
Hochschullehrer und Schulkinder. Die 80 Prozent der proeuropäischen
Georgierinnen und Georgier, die in Umfragen immer wieder genannt werden,
werden nun endlich auf den Straßen sichtbar.
[3][Georgien, die Ukraine] und Moldau sind Schauplätze des revanchistischen
Kampfes Russlands, seinen Einfluss im postsowjetischen Raum und in
Osteuropa wiederherzustellen. Russlands Präsident Wladimir Putin versucht
eine Entwicklung Richtung Europa mit militärischen und hybriden Mitteln zu
verhindern.
In Georgien, wie auch in der Ukraine und in Moldau, bedeutet der russische
Einfluss die Rückkehr zu den Zuständen, von denen sie sich in den Jahren
1989 bis 1991 befreit haben. Wenn die Menschen in Georgien für die
europäische Zukunft ihres Landes demonstrieren – für einen demokratischen
Rechtsstaat, für bessere Bildung und Gesundheitsversorgung, für mehr
Sicherheit am Arbeitsplatz und für ein Leben ohne Bedrohung von außen und
ohne Angst, für ein falsches Wort entlassen oder gar polizeilich verfolgt
zu werden –, kämpfen sie gleichzeitig darum, die damals erstrittene
Freiheit zu bewahren.
## Georgien entwickelt sich zunehmend zur Autokratie
Georgien galt unter den postsowjetischen Staaten lange als Vorreiter der
EU-Integration. Doch mit der Machtübernahme der Partei Georgischer Traum,
geführt von dem in Russland reich gewordenen Oligarchen [4][Bidsina
Iwanischwili], entwickelt sich Georgien zunehmend zu einer Autokratie.
Iwanischwili hat nie verheimlicht, dass persönliche Interessen für ihn
wichtiger sind als die seines Landes. Selbst wenn er einen
Mitarbeiterausweis des russischen Geheimdienstes in der Schublade hätte,
hätte er die Abkehr Georgiens vom Westen kaum erfolgreicher orchestrieren
können.
Die Integration in die EU und Nato sind als außenpolitisches Ziel in der
georgischen Verfassung verankert. Seit 1991 hat jede Regierung – trotz
massiver innenpolitischer Differenzen – an diesem außenpolitischen Kurs
festgehalten.
Vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wurde die Idee eines
Beitritts von Georgien in der EU oft mit einem müden Lächeln quittiert.
Doch nach Russlands Invasion 2022 öffnete sich ein Fenster der
Möglichkeiten: Mit der Ukraine und Moldau laufen bereits
Beitrittsverhandlungen, 2023 erhielt Georgien den Kandidatenstatus. Doch
ausgerechnet jetzt, da der EU-Beitritt für Georgien greifbar scheint,
torpediert die eigene Regierung den Prozess.
Die Beitrittsverhandlungen mit der EU sind mittlerweile ausgesetzt, die
strategische Partnerschaft mit den noch demokratisch regierten USA wurde
erst vor wenigen Tagen beendet. Georgien ist außenpolitisch isoliert und
Russland ausgeliefert – eine Entwicklung, die Putin persönlich gelobt hat.
## Verdacht auf Wahlmanipulation
Die Parlamentswahlen am 26. Oktober sollten eine Entscheidung bringen über
den zukünftigen Kurs. Im Wahlkampf hetzte die Regierung gegen die
Opposition und die Zivilgesellschaft, [5][setzte Schlägertrupps auf den
Straßen ein], kaufte Stimmen und drohte Staatsbeamten sowie Angestellten
des öffentlichen Dienstes mit ihrer Entlassung, sollten sie und ihre
Familienangehörigen nicht die Regierungspartei wählen. Zudem schürte sie
Angst vor einem Krieg mit Russland, falls sie abgewählt würde.
Auch wenn keine freien und fairen Wahlen erwartet wurden, prognostizierten
die Meinungsforschungsinstitute noch am Wahltag einen Sieg der Opposition.
Am Ende erreichte jedoch die Regierungspartei eine Mehrheit von 54 Prozent.
Der Verdacht auf Wahlmanipulation war groß. Die Wählerinnen und Wähler
waren frustriert und fühlten sich wie von Hütchenspielern ausgetrickst. Die
Opposition versuchte Demonstrationen zu organisieren, jedoch mit wenig
Erfolg. Noch-Präsidentin [6][Salome Surabischwili] legte Beschwerde beim
Verfassungsgericht ein.
Das Präsidialamt ist das letzte Verfassungsorgan, das sich Iwanischwilis
heimlicher Herrschaft noch entzieht. Doch auch das will er jetzt unter
Kontrolle bringen. Im Dezember stehen die Präsidentschaftswahlen an. Zum
ersten Mal soll das Staatsoberhaupt nicht mehr direkt, sondern von einem
durch die regierende Partei dominierten Wahlgremium gewählt werden. Als
Kandidat wurde Micheil Kawelaschwili vorgeschlagen, ein ehemaliger
Fußballspieler ohne Hochschulabschluss, der in der letzten
Legislaturperiode der antieuropäischen Partei „Kraft des Volkes“ angehörte
und durch frauenfeindliche, homophobe und fremdenfeindliche Äußerungen
auffiel. Von ihm wäre kein Widerstand gegen den autoritären Kurs der
Regierung zu erwarten.
## Regierung reagiert mit Gewalt
Doch die im November erneut aufgeflammten Proteste wuchsen und übertrafen
zuletzt selbst die Massendemonstrationen vom Mai. Sie überstiegen sogar die
Menschenmengen der Rosenrevolution im November 2003 und erreichten das
Ausmaß der nationalen Befreiungsbewegung von 1989.
Die Regierung reagiert mit Gewalt und Drohungen. Sie setzt Spezialeinheiten
auf den Straßen ein, die mit Wasserwerfern und Tränengas versuchen, die
Demonstranten zu vertreiben. Die Protestierenden werden in Polizeiwagen
geprügelt, gefoltert, mit Tod und Vergewaltigung bedroht. Die Wohnungen und
Büros von Aktivisten, NGOs und Politikerinnen werden durchsucht. Der von
Polizisten krankenhausreif geprügelte Dichter Zwiad Ratiani wurde von einem
Iwanischwili-Richter für acht Tage ins Gefängnis geschickt. Den
Fernsehjournalisten Guram Rogawa hat eine Polizeispezialeinheit am Kopf
verletzt, er liegt im Krankenhaus.
Diese massive Gewalt verfolgt nur ein Ziel: die Menschen einzuschüchtern.
Sie sollen, wie in Belarus, Angst bekommen, zum Protest auf die Straße zu
gehen. Vor allem die jungen Menschen, die nicht in einer Diktatur leben
wollen, organisieren sich trotzdem, kaufen Motorradhelme, Atemschutzmasken
und wasserfeste Kleidung, um sich vor der Polizeigewalt zu schützen. Sie
lernen die Tränengasbomben zu entschärfen und schlagen mit Silvesterböllern
zurück. Schulklassen und Universitäten stricken Pläne und rufen zum
Generalstreik auf.
Der Protest soll die autoritäre Regierung zu Neuwahlen zwingen.
Außenpolitisch setzt die ihre Hoffnung jetzt auf Donald Trump. Entgegen dem
vulgär-prahlenden Ton, den Premier Kobachidse der EU gegenüber anschlug,
versucht er sich nun beim designierten US-Präsidenten anzubiedern: „Es wird
so sein, wie Donald Trump es sagen wird.“
## Hoffen auf die EU
Obwohl die Signale aus den USA der georgischen Regierung wenig Hoffnung
machen, spielt diese auf Zeit. Sie möchte den Protesten den Wind aus den
Segeln nehmen und versucht, ihre verbliebenen Anhänger zu mobilisieren. Die
glauben tatsächlich immer noch daran, dass die Regierung das Land
irgendwann in die EU führen will.
Die proeuropäischen Georgierinnen und Georgier brauchen jetzt
Unterstützung. Die Angst, dass sich die Geschichte wiederholt und Georgien
wie im Winter 1921 seine Unabhängigkeit an Russland verliert, ist groß.
Damals kam die erhoffte Hilfe aus Europa nicht. [7][Wenn die EU nicht klar
Position bezieht], wird das die jetzige Regierung ermutigen, noch brutalere
Gewalt anzuwenden. Das EU-Parlament hat bereits Neuwahlen in Georgien
gefordert. Der Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
zweifelt daran, dass die jüngsten Wahlen den Willen der Wählerinnen und
Wähler widerspiegelten. Der Bericht einer OSZE-Beobachtermission steht noch
aus.
Doch die EU als Ganze, inklusive ihrer Mitgliedstaaten, muss sich jetzt
rasch, klar und deutlich positionieren. Jeder Tag des Schweigens und jedes
Foto, das europäische Politiker mit den Funktionären des
Iwanischwili-Regimes machen, bedeutet mehr Polizeigewalt, mehr verhaftete
und misshandelte georgische Aktivistinnen und Aktivisten. Sollte die
EU-Kommission die jüngsten Wahlergebnisse nicht anerkennen, dann müsste sie
Neuwahlen fordern, Sanktionen ins Spiel bringen und auch durch persönliche,
hochrangige Besuche dem Regime nicht erlauben, den friedlichen Willen der
georgischen Bevölkerung zu brechen.
6 Dec 2024
## LINKS
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[4] /Georgiens-Oligarch-Bidzina-Iwanischwili/!5979535
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[7] /Proteste-in-Georgien/!6049860
## AUTOREN
Zaal Andronikashvili
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