# taz.de -- Massenproteste in Georgien: Im Widerstand | |
> In Georgien protestieren täglich Tausende gegen die neue prorussische | |
> Regierung. Deren Antwort ist brutal. | |
Bild: Europa hochhalten: Demonstrant*innen, durchnässt von Wasserwerfern, auf … | |
Tornike Tchelidse hat eine gebrochene Rippe, Spuren von Schlägen im | |
Gesicht, besonders unter den Augen. Sein Bart ist ungepflegt und seine | |
Kleidung schmutzig. Der 34-jährige Dichter und Lehrer ist vor wenigen Tagen | |
aus der Haft entlassen worden. In der Zelle, die er sieben Tage lang mit | |
einer weiteren Person teilte, sei das Licht ständig angeschaltet gewesen, | |
berichtet er, es habe keine Möglichkeit gegeben, sich zu waschen. Zurück in | |
seiner Wohnung in Tbilissi will er nun erst mal duschen und sich dann in | |
seinem eigenen Bett ausschlafen. | |
Zusammen mit etwa 15 weiteren Demonstranten war Tchelidse am 1. Dezember in | |
das Polizeigebäude in der kleinen Stadt Samtredia, 250 Kilometer von | |
Tbilissi entfernt, gebracht worden. Polizeistationen in der georgischen | |
Hauptstadt und den umliegenden Städten sind dieser Tage überfüllt mit | |
festgenommenen Demonstranten, die meist wegen „Ungehorsams gegenüber der | |
Polizei“ festgehalten werden und mindestens zwei Tage und Nächte in | |
geschlossenen Räumen verbringen, bevor ein Gerichtsverfahren stattfindet. | |
Die Südkaukasusrepublik Georgien erlebt derzeit regelrechte Gewaltexzesse. | |
[1][Nach den Parlamentswahlen am 26. Oktober], die die russlandfreundliche | |
Regierungspartei Georgischer Traum mit 54 Prozent der Stimmen gewonnen | |
haben will, war die Opposition zunächst in eine Art Schockstarre verfallen. | |
Vorwürfe massiver Wahlfälschungen stehen im Raum. Als Regierungschef Irakli | |
Kobachidze dann noch Ende November ankündigte, [2][die laufenden | |
EU-Beitrittsgespräche vorerst bis 2028 auszusetzen,] war das Maß voll, die | |
Schockstarre verwandelte sich in Wut: Seitdem gehen täglich Zigtausende bei | |
Protesten auf die Straße. Das Regime antwortet mit Brutalität und Gewalt. | |
„Während ich in der Haft geschlagen wurde, quälten mich nicht so sehr die | |
Schmerzen, sondern der Gedanke daran, was da draußen passiert“, erinnert | |
sich Tchelidse an seine Gefühle während der einwöchigen Haft. Er habe Sorge | |
gehabt, dass die Regierung es möglicherweise schaffen könnte, den | |
Widerstand in der Bevölkerung zu brechen. | |
Seinen Widerstand haben sie jedenfalls nicht klein bekommen. „Wir können | |
uns nicht mehr zurückziehen. Ein Rückzug würde jetzt einen Sturz in den | |
Abgrund bedeuten“, sagt Tchelidse, wenn er über die Proteste spricht. Es | |
gehe in Georgien heute um einen Krieg der Werte, denn die Regierung sei | |
bereit, alle Menschen physisch zu vernichten, die ihr widersprächen. | |
Anfang dieser Woche, ein kalter Dezemberabend in Tbilissi, etwa zehn | |
Teenager mit Steinen in der Hand stehen vor dem Parlamentsgebäude und | |
schlagen rhythmisch und energisch gegen eine große eiserne Wand, die das | |
Gebäude schützt. Ihr lärmender Protest ist so etwas wie der Soundtrack für | |
die wütenden Proteste. Zwei der Jungen tragen die georgische Flagge, einer | |
die EU-Fahne, ein weiterer hält beide zusammen – alle haben schwarze Masken | |
auf. Sie ziehen es vor, unerkannt zu bleiben. Denn mit Hilfe der | |
Videoüberwachung am Parlamentsgebäude kann die Polizei leicht Personen | |
identifizieren, die einen „Sturm auf das Parlament“ versuchen oder „den | |
Betrieb eines staatlichen strategischen Objekts stören“, wie es im | |
Amtssprech heißt. Beides könnte mehrere Jahre Gefängnis bedeuten. | |
Auf der Fassade des Parlaments erscheinen jede Nacht neue Graffiti, die am | |
frühen Morgen von den Mitarbeitern der Stadtverwaltung dann wieder entfernt | |
werden. Rechts neben den Teenagern mit Steinen sind jetzt zwei Inschriften | |
zu lesen: „Wir werden den Krieg gewinnen“, und „Georgien wird niemals | |
Russland sein“. | |
Neben den Steinewerfern haben andere Demonstranten ebenfalls Aufgaben | |
gefunden. Ein junger Mann mit einer roten Weihnachtsmannmütze und festen | |
Wanderstiefeln klettert auf das Metallgerüst am Weihnachtsbaum vor dem | |
Parlament und hängt Fotos von Demonstranten auf, die in den vergangenen | |
Tagen von der Polizei festgenommen und brutal geschlagen wurden. Die Bilder | |
zeigen Menschen mit blauen Augen, gebrochenen Nasen, Kopfverletzungen und | |
zertrümmerten Gesichtern – über 80 Personen mussten laut | |
Gesundheitsministerium aufgrund von Polizeigewalt im Krankenhaus behandelt | |
werden. Neben den Fotos hängen auch Protestbanner: „Überall Polizei, | |
nirgendwo Gerechtigkeit“, „Angst frisst die Seele“, und – ein Wortspiel… | |
dem Namen der Regierungspartei – „Russischer Traum“. | |
Das Parlamentsgebäude in der Rustaweli-Allee ist der zentrale Ort der | |
Proteste. Seit dem 28. November fordern hier allabendlich zehntausende | |
Menschen politische Veränderungen. Der Protest verläuft meist ohne | |
politische Reden und ohne eine klare Führungsfigur. Die Menschen teilen | |
ihre Pläne, Ängste und Hoffnungen miteinander. | |
Seit Beginn der Proteste wurden in Georgien mehr als 400 Menschen | |
festgenommen. Rund 100 von ihnen erhielten hohe Geldstrafen wegen | |
„Ungehorsams gegenüber der Polizei“, etwa 70 sitzen noch immer in Haft, und | |
mehr als 30 sehen sich strafrechtlichen Anklagen gegenüber, die zu | |
mehrjährigen Gefängnisstrafen führen könnten. Die Polizei verfolgt aktive | |
Bürger überall: bei Protesten, zu Hause, auf den Straßen, in | |
Metrostationen. | |
In der Nacht des 7. Dezember setzte die Polizei mehrere Stunden lang | |
Tränengas ein, um die Menschenmenge auf der Rustaweli-Allee zu zerstreuen. | |
Die Demonstranten waren praktisch von mit Gummischlagstöcken und Schilden | |
bewaffneten Sicherheitskräften in voller Montur eingekesselt. Es gibt | |
Berichte, wie maskiert Polizisten jeden verhafteten, der seinen Unmut | |
gegenüber der Regierung oder der Polizei zum Ausdruck brachte. Unter den | |
Festgenommenen waren laut Medienberichten auch Minderjährige. | |
Shota Dimitrishvili wurde zwei Mal innerhalb einer Woche festgenommen. Bei | |
der ersten Festnahme am 29. November wurde er von maskierten Personen | |
brutal geschlagen – das Gericht verhängte gegen ihn eine Geldstrafe von | |
umgerechnet 1.000 Euro und erklärte ihn für schuldig, Widerstand gegen | |
einen Polizisten geleistet zu haben. | |
Ein weiteres Mal passierte es am 5. Dezember. Diesmal las er Polizisten aus | |
einem Aufsatz des georgischen Schriftstellers Vazha-Pshavela aus dem Jahr | |
1905 mit dem Titel „Kosmopolitismus und Patriotismus“ vor. Als ein | |
Demonstrant den Leiter der Spezialeinheit, Zviad Kharazishvili, auch | |
bekannt als „Khareba“, mit einem Schimpfwort beleidigte, kam es zu mehreren | |
Festnahmen – auch Dimitrishvili war darunter. | |
Khareba ist berüchtigt für seine Brutalität, er überwacht die Auflösung von | |
Protesten regelmäßig von einem teuren Auto aus. „Sie brachten mich zu | |
Khareba, als Beute“, so habe er es empfunden, schildert Dimitrishvili. | |
Kharebra habe ihn fotografiert und befragt. „Ich sagte ihm, dass an der | |
Spitze des Landes eine Person stehe, die mit den Feinden meiner Heimat ganz | |
einverstanden sei. Und deshalb stehe ich hier.“ Daraufhin habe man ihn | |
ausgelacht, geschlagen und erneut befragt. | |
„Ich sagte jedem, dass derjenige, den ich ablehne, Bidzina Ivanishwili sei, | |
der Verräter an der Heimat“, erinnert sich Dimitrishvili an seine letzte | |
Begegnung mit den Mitgliedern der Spezialeinheit. Der milliardenschwere | |
Oligarch Bidzina Ivanischwili ist Gründer des Georgischen Traums und zieht | |
in der Politik Georgiens nach wie vor die Strippen. | |
Angesichts der Brutalität, mit der die Polizei gegen das eigene Volk | |
vorgeht, gibt es inzwischen Berichte über Unzufriedenheit unter | |
Mitarbeitern des Innenministeriums: Einige Polizisten verlassen offenbar | |
ihren Posten, andere weigerten sich, Befehle auszuführen. Parallel dazu | |
plant das neue georgische Parlament – das Präsidentin Salome Zurabischwili | |
und die Oppositionsparteien als illegitim betrachteten – ein Gesetz zu | |
ändern, das die Zugangshürden zum Polizeidienst senkt. Künftig soll dann | |
kein spezielles Auswahlverfahren mehr erforderlich sein. Allerdings läuft | |
das Mandat der proeuropäischen Präsidentin bereits im Dezember aus. | |
Die Änderungen im Polizeigesetz sind nicht die einzigen Maßnahmen, die die | |
georgische Regierung plant, um die Proteste zu schwächen. Das Parlament | |
beabsichtigt, das Tragen von Masken bei Demonstrationen gesetzlich zu | |
verbieten und die „Reorganisation“ öffentlicher Einrichtungen zu | |
vereinfachen. Die Praxis der vergangenen Jahre zeigt, dass solche | |
Reorganisationen in staatlichen Institutionen meist dazu genutzt werden, | |
Gegner der Regierungspartei zu entlassen. | |
Von einem Krankenhauszimmer aus verfolgt Maka Tschikhladze, eine der | |
aktivsten Investigativjournalistinnen des Landes, die aktuellen Proteste. | |
Am Samstag, dem 7. Dezember, berichtete Maka Tschikhladze live für ihren | |
Kanal TV Pirveli über das Vorgehen der Spezialeinheiten und deckte die | |
Identität der Befehlsführenden auf. Daraufhin wurden Tschikhladze und ihr | |
Kameramann Giorgi Schetsiruli von maskierten Männern in Zivil angegriffen. | |
Anwesende Polizisten unternahmen nichts, sagt sie, um sie zu schützen. | |
„An diesem Tag war ich tapferer, vermutlich wegen des Adrenalins. Ich habe | |
sogar meinem Kind am Telefon geantwortet, das ebenfalls bei den Protesten | |
war und mich gefragt hat, ob ich in Ordnung sei“, erzählt Tschikhladze. Als | |
sie am nächsten Tag die Fernsehaufnahmen sah, sei das sehr schwer gewesen: | |
„Da wurde mir wirklich klar, was passiert war, sie wollten uns töten“, sagt | |
die Journalistin. Der US-Botschafter und Diplomaten mehrerer europäischer | |
Länder besuchten die Journalistin im Krankenhaus. Diese Unterstützung sei | |
für sie sehr wichtig gewesen, sagt Tschikhladze, „insbesondere in einer | |
Zeit, in der die georgische Regierung die Medien mit allen möglichen | |
Mitteln bekämpft und die Ermittlungen nicht darauf abzielen, die Schuldigen | |
zu finden“. | |
77 Journalisten sollen in den vergangenen zwei Wochen Opfer körperlicher | |
Gewalt geworden sein. In keinem der Fälle wurde irgendjemand zur | |
Verantwortung gezogen. Neben Journalisten sind Schauspieler, Regisseure, | |
Künstler und aktive Bürger mit großem Einfluss in sozialen Netzwerken die | |
offensichtlichen Ziele der Repressionsmaschine. Viele Menschen erinnert | |
diese Situation an die sowjetischen Repressionen, die anfangs in Georgien | |
ebenfalls auf die Zerstörung der kulturellen Elite zielten. | |
## Schläge auf Kopf und Gesicht | |
Tornike Tchelidse, der Lehrer und Lyriker, ist nicht der einzige | |
Schriftsteller, der in den vergangenen Tagen von der Polizei festgenommen | |
wurde. In der Nacht zum 29. November wurde der Dichter und Übersetzer Zviad | |
Ratiani neben dem Parlamentsgebäude in der Tschitschinadze-Straße brutal | |
geschlagen und von Polizeikräften abgeführt. Auf Videoaufnahmen ist | |
deutlich zu sehen, wie Ratiani, eingeschlossen von Hunderten von Beamten, | |
auf den Kopf und ins Gesicht geschlagen wird. | |
Zur Unterstützung von Zviad Ratiani, Tornike Tchelidse und eines weiteren | |
Übersetzers, Data Kharaischwili, der nach seiner Festnahme am 3. Dezember | |
so schwer von den Mitgliedern der Spezialeinsatzkräfte geschlagen wurde, | |
dass er mehrere Tage im Krankenhaus verbringen musste, begaben sich andere | |
Schriftsteller, Übersetzer und Literaten ins sogenannte Schriftstellerhaus. | |
Das Schriftstellerhaus untersteht dem Kulturministerium. Die georgische | |
Kulturpolitik ist enorm repressiv. | |
Das historische Gebäude befindet sich in der Altstadt von Tbilisi; der | |
bekannte georgische Mäzen David Sarajishvili hat es Anfang des 20. | |
Jahrhunderts bauen lassen. Nach dem Ende der sowjetischen Besatzung 1921 | |
wurde das Haus den georgischen Schriftstellern übergeben. Hier nahm sich | |
der Dichter Paolo Iaschwili 1937 das Leben: Der sowjetische Terror zwang | |
Schriftsteller entweder zur Zusammenarbeit mit den Bolschewiken, etwa durch | |
Propagandaliteratur, oder er zerstörte sie gnadenlos – sowohl moralisch als | |
auch physisch. | |
Heute erinnert die georgische Kulturpolitik viele Vertreter dieser Branche | |
an den sowjetischen Terror. Die gezielten Repressionen gegen Künstler | |
werden als ein weiteres Zeichen dafür gewertet, dass der Schatten der | |
sowjetischen Repression zurückgekehrt ist. | |
Zwei Tage nach seiner Freilassung geht Tchelidse erstmals wieder an die | |
Privatschule, wo er Georgische Sprache und Literatur unterrichtet. Obwohl | |
er dachte, die Traumata seiner Inhaftierung bereits hinter sich gelassen zu | |
haben, verspürt er nach einigen Stunden körperliche Schmerzen. Um | |
vollständig in sein normales Leben zurückzukehren, so sagt Tchelidse, | |
brauche er noch Zeit. So es ein Zurück in sein altes Leben im neuen | |
Georgien überhaupt gibt. | |
13 Dec 2024 | |
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Nastasia Arabuli | |
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