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# taz.de -- Helon Habila über die Lage der Literatur: „Es gibt eine neue Dri…
> Der Schriftsteller Helon Habila kuratiert das Internationale
> Literaturfestival Berlin mit. Er widmet es mehr den sozialen und
> ökologischen Krisen.
Bild: „Ich glaube, viele wollen keine ehrlichen, einfachen Geschichten über …
taz: Herr Habila, Sie sind der Curator in Residence, der erste, den das
Internationale Literaturfestival Berlin in seiner 24-jährigen Geschichte
jemals ernannt hat. Worauf freuen Sie sich beim Festival?
Helon Habila: Auf alles natürlich. Vielleicht aber besonders auf unser
erstes Panel zum hundertjährigen Jubiläum von James Baldwin. Baldwin war
Schriftsteller, ein Bürgerrechtler und Verfechter der Rechte von
Homosexuellen. Es ist wichtig, auch angesichts der bevorstehenden
US-Wahlen, über ihn zu sprechen.
Und auch über die Fortschritte, die wir in Sachen Bürgerrechte und
Gleichberechtigung gemacht haben. Ich freue mich außerdem sehr auf unsere
Eröffnungsrednerin Beata Umubyeyi Mairesse. Sie ist eine Überlebende des
Völkermords, den 1994 Angehörige der Hutu an den Tutsi in Ruanda verübten.
taz: Was bedeutet das eigentlich, Curator in Residence?
Habila: Es bedeutet eine Menge Verantwortung. Ich kuratiere zum ersten Mal
etwas, aber zum Glück habe ich sehr eng mit dem ILB-Team
zusammengearbeitet. Fünfzehn Veranstaltungen habe ich kuratiert, und werde
auch selbst an einigen teilnehmen.
taz: Nach welchen Kriterien haben Sie die Teilnehmer:innen denn
ausgewählt?
Habila: Ich habe die Autoren ausgewählt, deren Arbeit ich wirklich mag. Die
Leute kommen zu Literaturfestivals, um ihre Lieblingsautoren zu sehen, aber
auch, um neue Autoren zu entdecken. Deshalb freue ich mich darauf, den
Berlinern neue Autoren vorzustellen, die außerhalb des europäischen
Mainstreams stehen. Ein Beispiel: Noo Saro-Wiwa hat ein tolles Buch über
Afrikaner, die in China leben, geschrieben. Interessanterweise hat es sich
so ergeben, dass fast alle Autoren, die ich eingeladen habe, Frauen sind.
taz: Sie stammen aus Nigeria, leben aber seit über 20 Jahren in den USA.
Sie kennen also den Literaturbetrieb in beiden Ländern gut?
Habila: Die Literaturwelt Nigerias ist mit der amerikanischen eng
verknüpft. Viele Nigerianer lassen sich von amerikanischen Schriftstellern
beeinflussen, wenn sie nach Amerika kommen, um den Master of Fine Arts
(MFA) zu machen, weil es in Nigeria keine MFA-Programme gibt.
Manche fürchten daher sogar, dass es keine [1][nigerianische Literatur]
mehr gibt, sondern nur noch eine internationale Literatur, die von Amerika
beeinflusst ist. Aber so ist das nun einmal. Die Welt hat sich verändert.
Sie ist internationaler geworden, allerdings hauptsächlich in eine
Richtung. Ich glaube nicht, dass Amerika stark von Afrika beeinflusst ist.
taz: Das Motto des Literaturfestivals lautet „Seltsame neue Welt“. Ist die
Welt für viele ihrer Bürger:innen wirklich so seltsam und neu?
Habila: Wir haben noch nie in einer Zeit gelebt, die so ist wie diese. Wir
stehen mit dem Klimawandel vor einer existenziellen Bedrohung. Keiner von
uns weiß, wie und ob wir ihn bewältigen werden. Außerdem haben wir gerade
Covid hinter uns, eine Pandemie, von der niemand sagen konnte, ob sie nicht
die gesamte Menschheit auslöschen würde.
Wir sind immer noch dabei, uns von diesem Trauma zu erholen. In Europa gibt
es zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder einen Angriffskrieg.
Dann ist da noch die Situation in Gaza, im Sudan, wo Millionen von
Flüchtlingen leben, über die niemand spricht. Und die Situation dort
verschlimmert sich weiter. Die Frage ist, wie man als Schriftsteller damit
umgeht.
taz: Wie gehen Sie als Schriftsteller damit um?
Habila: Ich denke, in Zukunft müssen alle meine Bücher den Klimawandel in
irgendeiner Form berücksichtigen. Man muss nicht ein ganzes Buch der
Klimakrise oder der Flüchtlingskrise widmen, aber ich glaube, jeder
Schriftsteller hat die Pflicht, Probleme dieser Art anzuerkennen. Es gibt
eine neue Dringlichkeit.
taz: In Ihrem Buch [2][„Öl auf Wasser“] beschreiben Sie die Korruption in
Nigeria, gewalttätige Rebellen, aber auch die Umweltzerstörung, die die
millionenschweren Ölfirmen im Land anrichten. Geschichten dieser Art stehen
nicht gerade im Scheinwerferlicht in der deutschen Literaturlandschaft.
Habila: Deshalb bringe ich all diese Autoren nach Deutschland, damit sie
übersetzt und veröffentlicht werden! Aber es gehört zur Realität der
Verlagspolitik: Wir fördern einige Autoren, einige Geschichten, weil wir
sie als „native“, als einheimische Geschichten betrachten. Das sind die
Geschichten, die wir jeden Tag in den Nachrichten hören.
Aber: Wie oft lesen oder hören Sie wirklich [3][etwas über den Krieg im
Sudan?] Dort sterben so viele Menschen. Millionen wurden vertrieben.
Niemand spricht darüber. Mit den Verlagen ist es ähnlich. Es gibt
Geschichten, die gepusht werden. Auch in finanzieller Hinsicht:
Internationale Verlage zahlen einem westlichen Autor mehr Tantiemen als
einem nichtwestlichen Autor.
taz: Internationale Verlage beziehungsweise Leser:innen scheinen sehr an
Geschichten interessiert zu sein, die sich dem Postkolonialismus zurechnen
lassen. Ist dieses Interesse auch mit westlicher Selbstbezogenheit zu
begründen? Wer nur die Vergangenheit, also Menschen, die vor 100 oder im
Falle Portugals vor bis zu 500 Jahren gelebt haben, für die Probleme in
ehemals kolonisierten Staaten verantwortlich macht, braucht über die
komplizierten Machtstrukturen heute nicht zu sprechen.
Habila: Ja, das könnte ein Grund sein. Es gibt ja eine Menge Geschichten,
die geschrieben werden. Die Leute müssen nur neugierig sein. Wir müssen uns
die gesamte Struktur der Verlagswelt vor Augen halten. Wer hat
Übersetzungen in Auftrag gegeben, wer kauft welche Geschichten von welchen
Autoren? Ich glaube, viele wollen keine ehrlichen, einfachen Geschichten
über Menschen in Afrika – oder über glückliche Menschen in Afrika lesen.
Sie wollen von Menschen lesen, die in Afrika sterben.
Haben Sie in den Nachrichten jemals glückliche Afrikaner gesehen, die
händchenhaltend und lachend über die Straße gehen? Nein. Da explodiert
immer eine Bombe oder es gibt einen Staatsstreich. Ich weiß, Storys dieser
Art liegen in der Natur der Nachrichten. Aber in gewisser Weise ist es in
der Literatur genauso. Die Leute wollen über Kriege in Afrika lesen, über
den Kolonialismus, all diese Dinge.
taz: Was ist Ihr Verhältnis zum Postkolonialismus?
Habila: Ich schreibe meine Bücher nicht auf der Grundlage von Theorien. Ich
schreibe einfach über Figuren, das Leben, und ich überlasse es den
Kritikern, mein Schreiben zu kategorisieren und zu analysieren. Aber wenn
man sich die Beschaffenheit der Welt so ansieht, kommt man nicht umhin,
über Postkolonialismus zu sprechen.
In ehemals kolonialisierten Ländern wie Nigeria oder Indien ist unsere
gesamte Gegenwart vom Kolonialismus geprägt. Die Tatsache, dass wir in
Nigeria eine Demokratie haben, die aus dem Westen importiert wurde, ist
ebenfalls eine Folge des Kolonialismus. Man kann dem also nicht entkommen.
Oder nehmen Sie mein Buch „Reisen“: Warum „reisen“ die Menschen darin
wirklich?
taz: Der Roman handelt von Geflüchteten und der afrikanischen Diaspora in
Berlin.
Habila: Warum können sie nicht in ihrem eigenen Land leben? Mitunter sind
Kriege schuld. Oder aber sie verlassen ihr Land, weil die Umwelt von
multinationalen Konzernen zerstört wird, die Öl aus dem Boden holen. Im
Grunde ist die Macht von der Kolonialregierung bloß auf die multinationalen
Konzerne aus dem Westen übergegangen. Es gibt also eine Kontinuität des
Kolonialismus oder dessen, was man heute Neokolonialismus nennt. Sie
manifestiert sich auf unterschiedliche Weise.
Ich glaube jedoch, wenn man als Bürger eines ehemals kolonialisierten
Landes zu viel über den Kolonialismus nachdenkt, steht man sich selbst im
Weg. Es gibt viel Ungleichheit in der Welt, aber wenn man das Gefühl hat,
dass man nicht der sein kann, der man sein möchte, weil sein Land früher
kolonisiert war, dann sabotiert man sich selbst.
taz: Die Ölkrise in Nigeria ist nicht überwunden und sie war es auch nicht,
als Sie 2010 in „Öl auf Wasser“ darüber schrieben. Hatte die
Veröffentlichung politische Konsequenzen für Sie?
Habila: Nein, eigentlich nicht. Ich habe nichts als die Wahrheit
geschrieben. Ich weiß, die Wahrheit kann gefährlich sein, aber nein. Die
Menschen, die in der Region des Nigerdeltas leben und die Dinge erleben,
die ich in dem Buch beschreibe, die Gewalt, die industrielle Verschmutzung
durch die Ölindustrie, sie mochten das Buch sehr. Es ist ein Bestseller in
Nigeria, es wird sogar in den Schulen gelesen. Mich erreichen regelmäßig
Briefe von Schülern.
Es ist eines der ersten Bücher, das die Umweltprobleme in Nigeria
detailliert behandelt. Ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass die
nigerianischen Politiker es lesen. Bücher dieser Art interessieren sie
nicht, es sei denn, es geht um etwas, das sie persönlich bedroht.
Vielleicht habe ich deshalb Glück.
taz: Sie sagten, Sie arbeiten an einem neuen Roman. Wovon handelt er?
Habila: Von Covid, aber nicht nur. Ich will nicht schon wieder ein
deprimierendes Buch schreiben. Es geht um Familie. Und es wird mein erstes
Buch sein, das in Amerika spielt – und teilweise wieder in Nigeria. Es wird
sogar ein bisschen lustig.
5 Sep 2024
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## AUTOREN
Julia Hubernagel
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