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# taz.de -- Buch „Big Fiction“ von Dan Sinykin: Wie Literatur wirklich gema…
> Der Wissenschaftler Dan Sinykin untersucht in „Big Fiction“, wie das
> kommerzialisierte US-Verlagswesen die Literatur selbst beeinflusst.
Bild: Da war die Buchbranche noch unschuldig und die Konsumenten wohlhabend: de…
Die häufigste Klage, die man von den Lesern von Dan Sinykin zu hören
bekommt, ist die, dass er große Fragen stellt, aber keine Antworten
liefert. Sein viel diskutiertes Buch „Big Fiction“, das zunächst noch nur
auf Englisch vorliegt, aber auch in Deutschland schon für einige Furore
gesorgt hat, behauptet schon im Untertitel zu erklären, wie die
Konglomerisierung des US-amerikanischen Verlagswesens die Literatur
verändert hat.
Doch wer nach 200 Seiten eine griffige Formel erwartet, die etwa eine
Trivialisierung der Erzählkunst durch die Turbo-Kommerzialisierung
behauptet, der wird enttäuscht. Sinykin wartet nicht mit einem linearen
Narrativ auf, das die Entwicklung der US-Literatur von den 60er Jahren bis
heute, von Norman Mailer bis [1][Colson Whitehead,] erklärt. Stattdessen
gibt es viele Geschichten, es gibt Entwicklungslinien und Trends, es gibt
schillernde Figuren und unterhaltsame Anekdoten. Aber eine klassische
Analyse gibt es nicht.
Das ist allerdings auch nicht verwunderlich, wenn man versteht, von welcher
Seite her er sich seiner materialistischen Literaturgeschichtsschreibung
annähert. Es dauert keine Minute im Gespräch mit dem jungen
Literaturprofessor an der Emory University in Atlanta, bis der Name
Frederic Jameson fällt. Und wer auch nur einmal ein Referat zu Jameson
gehört hat, weiß, dass er an ein „Meta-Narrative“ nicht mehr wirklich
glaubt.
Woran er jedoch durchaus glaubt, ist, dass die Produktionsbedingen
kulturelle Hervorbringungen ebenso formen wie bei jeder anderen Art der
Produktion. Die Skepsis gegenüber großen Erzählungen etwa ist für Jameson
und Sinykin ein intellektueller Habitus, der direkt dem Spätkapitalismus
entspringt. Ähnliches gilt für die Erkenntnis, dass es keinen Punkt
außerhalb des Systems gibt, von dem aus man dieses objektiv beschreiben
könnte. Und so ist sich Sinykin zutiefst bewusst, dass er an genau jenen
Mechanismen partizipiert, die er beschreibt.
## Als es den Konsumenten noch blendend ging
Es gibt freilich trotz allem Bewusstsein für die Postmoderne in „Big
Fiction“ noch allerlei Handfestes zu erfahren. Alleine als Geschichte des
amerikanischen Verlagswesens seit dem Zweiten Weltkrieg ist das Buch
überaus lesenswert. Sinykin nimmt uns mit auf die Reise in die 40er und
50er Jahre, als es dem amerikanischen Konsumenten wirtschaftlich blendend
ging und ein Massenmarkt für Literatur entstand. Die überraschende
Erkenntnis dabei ist, wie demokratisch das System war. Ganz dem
US-Kulturideal entsprechend, machten weder Verlage noch Konsumenten einen
Unterschied zwischen U- und E-Literatur. William Faulkner und [2][James
Baldwin] verkauften sich ebenso gut wie Pulp-Novellen und Science-Fiction.
Erst mit den 70er Jahren, mit Inflation und Arbeitslosigkeit, veränderte
sich die Ökonomie des Buchmarkts und mit ihr auch die Produktion. Verleger
wurden mehr zu Verlagsmanagern. Buchhandelsketten eröffneten
Niederlassungen in Einkaufszentren, der Vertrieb wurde stromlinienförmig
gemacht. Marketingabteilungen und Agenten gewannen an Einfluss,
Liebesromane und Krimis wurden als „Genre Fiction“ gezielt für den
Massenverkauf geschrieben. Anspruchsvolle Literatur hatte es zunehmend
schwer und wurde in die unabhängigen Buchläden der großen Städte verbannt.
Die Reaktion darauf begann in den 80er Jahren, als „literarische“
Schriftsteller begannen, „Genre“-Techniken anzuwenden. Der sperrige,
düstere [3][Cormac McCarthy] legte etwa mit „All the Pretty Horses“ einen
recht konventionellen Western hin, Autoren wie [4][Joan Didion,] John
Irving oder später Colson Whitehead und Jonathan Lethem produzierten
„literarische Bestseller“. So brachten Marktkräfte und
betriebswirtschaftliche Organisationsformen wenn nicht eine Gattung, so
doch zumindest eine Welle großartiger amerikanischer Literatur hervor, die
den Raum zwischen hoher Kunst und dem Trivialen okkupierte.
Alleine an dieser Beschreibung merkt man, dass der Postmodernist Sinykin
nicht an einer moralisierenden Kapitalismuskritik interessiert ist. Kommerz
ist für ihn nicht per se schlecht, ebenso wenig wie er den Profitverzicht
per se für tugendhaft oder der hochwertigen Kulturproduktion zwingend
zuträglich hält. Ihn interessiert allein die jeweilige Bedingtheit. Während
kommerzielle Verlage auf den Markt schauen müssen, sind Kleinverlage oft
auf Förderungen angewiesen, die ihrerseits an Bedingungen geknüpft sind.
Ein Mechanismus, der in den USA etwa oft Writers of Color auf bestimmte
Themen festlegt und es für sie schwer macht, den ihnen zugewiesenen Nischen
zu entkommen.
## Literatur ist ein kollaboratives Produkt
Diese Art, Strukturen aufzudecken, ist die eigentliche Stärke von Sinykin.
Und auch dabei blitzt immer wieder seine verinnerlichte Jameson-Lektüre
durch. Eines der spannenderen Konzepte, die er entwickelt, ist jenes der
conglomerate authorship. Im Zeitalter der literarischen Mega-Konzerne,
behauptet Sinykin, sei es schon lange nicht mehr nützlich, vom
modernistischen Begriff des auktorialen Genies Gebrauch zu machen.
Literatur ist heute ein kollaboratives Produkt, an dem Agenten, Lektoren
und Marketingabteilungen ebenso beteiligt sind wie die ausführenden
Schreibenden. Wenn man als Konsument etwa nach Literatur sucht, die einem
gefällt, sei es mindestens ebenso hilfreich, nach den Lektoren zu schauen,
die diese produziert haben, wie nach den Schriftstellern.
Die eigentlich tote AutorIn geistert freilich weiterhin durch das
Verlagswesen – allerdings als reines Werbekonstrukt. Sein oder ihr Foto
prangt weiterhin auf den Katalogen und in den Klappentexten, ihre Biografie
wird von Lesern und Rezensenten noch immer mit dem Text in Verbindung
gebracht, weil es das Produkt attraktiver macht. Nichts wäre tödlicher für
den Verkauf, als zuzugeben, dass das Werk Produkt eines kollektiven
Verkaufskalküls ist.
Die Autorinnen selbst durchschauen das freilich und reagieren ihrerseits
mit klassisch postmodernen Gesten: der Ironie und der Selbstreflexion. So
hebt Sinykin zwei literarische Formen als typisch für die Ära des
Literatur-Konglomerats hervor: die Allegorie, die, wie etwa [5][Toni
Morrison]s „Beloved“ oder David Foster Wallaces „Infinite Jest“, als
Kommentar auf ihre Produktionsbedingungen gelesen werden können; und die
„Autofiktion“, wie etwa bei Paul Auster oder Ben Lerner, in welcher der
Autor sich selbst und das Schreiben zum Thema macht und sich somit wieder
ein Stück Autonomie zurückholt.
Diese Dinge bleiben freilich Einzelbeobachtungen, die, wie das gesamte Buch
von Sinykin, keinen Geltungsanspruch für die gesamte Literatur der Epoche
der Konglomerisierung zu erheben wagt. Was bei der Masse an Literatur, über
die Sinykin spricht, freilich auch gar nicht möglich wäre. Alleine Penguin
Random House, der größte der „Big Five“-Verlage, veröffentlicht jährlich
15.000 Bücher. Da wären allgemeingültige Aussagen auch mit digitalen
Analysemethoden niemals glaubhaft.
## Unabhängige Kleinverlage florieren durchaus
Ganz im Sinne seines Erzählstils ist Sinykins Fazit und Ausblick dann auch
weder optimistisch noch pessimistisch. Er bietet nur ein paar Beobachtungen
an. Etwa, dass in der Fan-Fiction online neue und interessante Formen der
kollektiven Autorschaft entstehen. Oder dass trotz der Macht der Big Five
unabhängige Kleinverlage mit interessanten Konzepten durchaus florieren und
auch Autoren ohne Verbindungen oder große Agenten einen Marktzugang
verschaffen. Ist das gut oder schlecht? Weder noch, meint Sinykin. Es ist
vor allem interessant.
5 Sep 2024
## LINKS
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[5] /Nach-dem-Tod-von-Toni-Morrison/!5614140
## AUTOREN
Sebastian Moll
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