# taz.de -- „Holy Fluxus“-Ausstellung in Berlin: Alles, was das Eisfach umg… | |
> Alles kann Kunst sein, war die Überzeugung der Fluxus-Künstler. In der | |
> St.-Matthäus-Kirche am Berliner Kulturforum sind 250 Werke zu sehen. | |
Bild: Viel zu gucken gibt es in der Ausstellung, zum Beispiel Emmett Williams �… | |
Gleich am Eingang der Ausstellung „Holy Fluxus“ in der St.-Matthäus-Kirche | |
am Kulturforum begrüßt das Publikum ein gammeliger, alter Kühlschrank. Auf | |
dessen Tür hat [1][der amerikanische Künstler Allan Kaprow], bekannt als | |
Begründer des Happenings, mit schwarzem Filzstift geschrieben: „Look Inside | |
for a Good Idea“. Wer hinter die leicht geöffnete Kühlschranktür guckt, | |
findet auf der Klappe des Tiefkühlfachs eine weitere künstlerische | |
Botschaft: „Look Outside for a Good Idea.“ | |
Auch wenn Kaprow nicht im eigentlichen Sinne zur Fluxus-Gruppe gehörte, um | |
die es bei der Ausstellung geht – die Arbeit von 1997 passt doch zum | |
Programm des weltweit agierenden Netzwerks von Künstlerinnen und Künstlern, | |
das seit den 1960er Jahren daran arbeitete, die Trennung von Kunst und | |
Leben aufzuheben: Kunst kann alles sein, auch ein Schrottkühlschrank, | |
ebenso wie Lebenspraktiken, Handlungsanweisungen, Kommunikationsakte oder | |
Gelage mit Freunden. | |
Und Kunst ist überall da, wo man sie findet, und sei es im Eisfach. Oder in | |
allem, was das Eisfach umgibt. | |
Auch dass die Präsentation der über 250 Arbeiten von Fluxus-Künstlern und | |
Geistesverwandten in einer Kirche stattfindet, leuchtet ein: Die wundersame | |
Verwandlung von Alltagsgegenständen in Kunstwerke war ein Mirakel, das | |
[2][der heilige Marcel (Duchamp)], der Apostel des Readymade und einer der | |
wichtigsten Schutzpatrone der Fluxus-Künstler, 1913 zum ersten Mal | |
vollbracht hatte. | |
## Internationale Glaubensgemeinschaft der Neo-Avantgarde | |
„Holy Fluxus“ dokumentiert, wie die internationale Glaubensgemeinschaft der | |
Neo-Avantgarde auch den geringsten ihrer Brüder und Schwestern die | |
kunsthistorische Weihung zukommen ließ, wenn sie nur lange genug gute | |
(Kunst-)Werke vollbrachten und diese in den richtigen Galerien, Museen und | |
Ausstellungen zelebrierten. | |
Und dabei Wohltäter fanden wie [3][den italienischen Galeristen und | |
Verleger Francesco Conz], aus dessen Sammlung – die sich seit 2016 in | |
Berlin-Charlottenburg befindet – die meisten der gezeigten Arbeiten | |
stammen. Der 2010 verstorbene Conz, der auch Werke der Wiener Aktionisten, | |
der französischen Lettristen und konkreter Dichter aus der ganzen Welt | |
sammelte, dürfte sich nicht nur qua seines Vornamens mit christlichen Riten | |
gut ausgekannt haben: Er stammte aus einer österreichisch-ungarischen | |
Familie, die im 19. Jahrhundert unter Thurn und Taxis das Monopol besaß, | |
Pilgerreisen zwischen Innsbruck und seinem Geburtsort Padua zu | |
organisieren. | |
Die Galerien und Ausstellungsräume, die er in Venedig, Asolo und Verona | |
betrieb, waren auch Konvente für die Ökumene der rund um den Globus | |
pilgernden Künstler der Fluxus-Bewegungen, die als Dank für die Herberge | |
und offensichtlich großzügige und delikate Speisung Werke hinterließen, die | |
im Mittelpunkt der Ausstellung auf einer überdimensionalen Festtafel | |
arrangiert sind. | |
Hier finden sich nicht nur von Künstlern wie Otto Mühl, Ann Noël, Ben | |
Patterson oder Philip Corner entworfene, signierte, bemalte oder | |
anderweitig verzierte Flaschen Wein, Grappa und Veuve Clicquot für die | |
Transsubstantiation während des Abendmahls bei den Gottesdiensten, die in | |
St. Matthäus immer noch mehrmals pro Woche stattfinden. Für Anhänger | |
anderer Glaubensgemeinschaften stehen eine Olivenölflasche von Joseph | |
Beuys, eine Kaffeekanne von [4][Carolee Schneemann], eine Whiskey-Buddel | |
von Ben Patterson oder Bierdosen von Michael Morris zur Verfügung. | |
## Glaubenssystemen und Kunstpraktiken | |
Direkte christliche Bezüge haben auch die Kirchenglasfenster von Emmett | |
Williams, die „Stained Glass Windows for the Fluxus Cathedral“ (1988), die | |
in den Fensterlaibungen der St.-Matthäus-Kirche installiert sind und auch | |
als Akt der Selbstkanonisierung kontempliert werden können. Konkrete Poesie | |
von Dichtern wie Augusto de Campos, Eugen Gomringer, Julio Plaza oder Jiri | |
Valoch und Partituren von Künstlern wie Nam June Paik, Charlotte Moorman | |
oder Tom Johnson kontextualisieren Fluxus in der Nachkriegsavantgarde. | |
Da gibt es viel zu gucken. Denn in der Ausstellung dominieren kleine und | |
kleinste Arbeiten, Multiples, Skizzen, Texte, Flux-Boxen und Spiele, die in | |
zahllosen Vitrinen betrachtet werden können. Umgeben sind sie von einigen | |
wenigen größeren Installationen – unter anderem ein tolles Musik-Dreirad | |
von Joe Jones, das immer noch irisierende Geräuschmusik macht. | |
Fluxus wollte das Leben zur Kunst machen. Im neoromanischen Kirchenbau von | |
Friedrich August Stüler kann man die gezeigten Werke freilich undogmatisch | |
auch ganz anders lesen: Als Reliquien – auch wenn wir hier in einer | |
evangelischen Kirche sind. | |
Die ganzen leeren Teller und Gläser, die zurückgebliebenen Kleidungsstücke | |
und Spielsachen, die endlosen Postkarten und Briefe und Umschläge und | |
Pakete und Kistchen und Kästchen und Schachteln wirken in der Ausstellung | |
auch ein bisschen wie die irdischen Überreste eines vergangenen | |
(kunst-)historischen Mysteriums, an das man glauben muss, wenn man es nicht | |
selbst erlebt hat – so wie an religiöse Wunder. Bezüge zu den | |
Glaubenssystemen und Kunstpraktiken der Gegenwart bietet die Ausstellung | |
nicht, obwohl die präsentierten Arbeiten sie unglaublich nahe legen würden. | |
5 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
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