# taz.de -- Zum Tod von Künstler Daniel Spoerri: „Das beste an mir sind mein… | |
> Der „Topograph des Zufalls“ Daniel Spoerri war bekannt für seine | |
> Fallenbilder. Er hinterlässt ein barock opulentes Werk – und Erinnerungen | |
> bei einem Begleiter. | |
Bild: Künstler Daniel Spoerri steht vor dem Kunstwerk „Tableau piege“ | |
Am 17. Oktober 1961 machte Daniel Spoerri tabula rasa: Alle Gegenstände, | |
die sich um 15:45 Uhr auf seinem Arbeitstisch im Zimmer Nr. 13 des Hotel | |
Carcassonne in Paris befanden, wurden der Reihe nach durchnummeriert und | |
fein säuberlich beschrieben (z.B. „Schwarzer Kugelschreiber, Marke Bic, | |
erinnert mich an nichts – wenn nicht an etwas, worüber ich lieber schweige. | |
Ich schreibe damit diese Zeilen.“). Eine Art Inventur also, aus der | |
zunächst ein bescheidener kleiner Katalog zu Spoerris erster | |
Einzelausstellung in der Galerie Lawrence entstand. | |
Wenig später aber rückten nacheinander seine Künstlerfreunde Robert | |
Filliou, Emmett Williams, Dieter Roth und Roland Topor mit Anmerkungen, | |
Fußnoten und Zeichnungen auf den Plan, und die „Anekdoten zu einer | |
Topographie des Zufalls“ wuchsen sich über die Jahre zum weltweit | |
meistverbreiteten Künstlerbuch nach 1945 aus. | |
Mit ihm fand Spoerris „Tableau Piège“ (das „Fallenbild“), das ihn ein … | |
zuvor in der Kunstszene schlagartig bekannt gemacht hatte, ein | |
überzeugendes literarisches Äquivalent – nach Meinung des britischen | |
Pop-Artisten Richard Hamilton „genau das Buch, das Tristram Shandys Onkel | |
Toby geschrieben haben könnte, wäre er etwas weniger verrückt gewesen“. | |
Der Berufung zum Topographen des Zufalls – dem er nach eigenem Bekunden | |
fast alles verdankte – blieb Daniel Spoerri lebenslang treu. Seine | |
künstlerischen Aktivitäten waren schon früh so zahlreich wie raumgreifend, | |
und das Gesamtwerk ist von einer derart barocken Fülle, dass hier ein paar | |
Wegmarken genügen müssen. | |
## Frechheit über dem Schweinskopf | |
1930 als Sohn eines jüdischen Missionars im rumänischen | |
Donau-Hafenstädtchen Galati geboren, kam die zwölfjährige Halbwaise Daniel | |
Isaac Feinstein mit seiner Schweizer Mutter Lydia Spoerri nach Basel. Mit | |
18 fiel er in einem halb Dixieland-, halb Existenzialisten-Club in Zürich, | |
wo auch Max Terpis verkehrte, als heißer Tänzer auf. Der spätere | |
Ballettmeister der Berliner Staatsoper vermittelte ihm einen | |
Ausbildungsplatz für klassischen Tanz in Paris. Als Spoerri fünf Jahre | |
später wieder in der Schweiz auftauchte, fand er in Bern via Claus Bremer | |
zum experimentellen Theater, freundete sich mit [1][Dieter Roth] und | |
Bernhard Luginbühl an und ging für zwei Jahre als Regieassistent nach | |
Darmstadt. | |
Aus der Summe dessen, was er in seinen ersten knapp 30 Lebensjahren so | |
getrieben und vernachlässigt hatte, resultierte 1959 die Selbstberufung zum | |
„Universaldilettanten“. Spoerri zog wieder nach Paris und legte sich | |
entsprechend ins Zeug. Für seine erste Multiple-Edition MAT ging er, | |
Frechheit siegt, [2][auch Marcel Duchamp] um Mitwirkung an, als der sich | |
gerade in einem Restaurant über einen Schweinskopf beugte – und Spoerri für | |
dessen Kunst-Bauchladen prompt einige seiner Rotoreliefs von 1935 zusagte. | |
Was von heute aus betrachtet beneidenswert verspielt und hierarchiefrei | |
anmutet, war auf der anderen Seite ernüchternd profan, denn im Unterschied | |
zu Duchamp hatte der spätere Eat-Artist Spoerri da noch nicht viel zu | |
beißen und somit auch wenig Ahnung vom Kochen. | |
## Eine Bratpfanne, ein Joghurtbecher, ein Päckchen Gauloises – der Rest | |
ist Kunstgeschichte | |
Doch dann ergab sich eines, man kann wohl sagen, schönen Tages an Spoerris | |
mobilem Esstisch im Hotel Carcassonne die folgende Zufallssituation: Zwei | |
Teller vom Hochzeitsgeschirr seiner ersten Frau Vera Mertz, eine | |
Bratpfanne, ein Joghurtbecher, ein Glas, ein Füller, ein Päckchen Gauloises | |
und ein Behelfsaschenbecher wurden von Spoerri mit Klebstoff auf der | |
Tischplatte fixiert, in die Vertikale gekippt und an die Wand gehängt – | |
fertig war das Fallenbild! Ob ihm da schon bewusst war, dass er sich | |
soeben, knapp am Readymade vorbei, als Künstler unverzichtbar gemacht | |
hatte? Es dauerte jedenfalls nicht lange, da huldigten ihm die | |
einflussreichen Kritiker Alain Jouffroy und Pierre Restany, letzterer | |
nominierte ihn kurzerhand für das Gründungsmanifest der Nouveaux Réalistes | |
nach, der Rest ist Kunstgeschichte. | |
Doch während die Karrieren von Arman, Yves Klein, Tinguely und Christo | |
alsbald durchstarteten, nahm Spoerri eine Auszeit und verpflanzte sich mit | |
Kichka Baticheff, unter der man sich laut Spoerri „ein Brigitte | |
Bardot-ähnliches Wesen“ vorzustellen hat, auf die griechische | |
Dodekanes-Insel Symi. „Vielleicht war das genau der Moment, in dem ich | |
diesen Abschluss gefunden hatte und nicht mehr der sein wollte, der als | |
Assemblagist irgendwelche schönen Objekte macht. Das stank mir | |
tatsächlich.“ Es sind dann allerdings (und auch schon auf Symi) noch | |
aberhunderte schöner und verstörender und sogar verstörend schöner Objekte | |
dazugekommen in den folgenden Dekaden. | |
Zunächst aber praktizierte der Künstler als junger Hund in seinem | |
selbstgewählten Exil das, worüber die arrivierten Kollegen vorzugsweise | |
Manifeste schrieben. „Kunst? Vielleicht eine Möglichkeit zu leben“, dachte | |
sich Spoerri, nah an Robert Fillious zugespitztem Motto „Art is what makes | |
life more interesting than art“. | |
In seinem „Gastronomischen Tagebuch“ aus dieser Zeit huldigte Spoerri der | |
Gastrosophie von Carl Friedrich von Rumohr, aber auch der Cucina Povera und | |
seinem mehr als skurrilen Vermieter Kosta Theós. Zurück auf dem Festland | |
lancierte er bald darauf in Düsseldorf sein legendäres Restaurant Spoerri | |
mit der Eat-Art-Galerie. Es folgten Ausstellungen in den weltweit | |
wichtigsten Museen, die Heirat mit Marie-Louise Plessen, Bühnenbilder für | |
Peter Zadek, Happenings an den unmöglichsten Orten und zwölf Jahre | |
hochgradig unakademische Lehrtätigkeit in Köln und München. | |
Hier die Metropolen mit Großwesiren wie Duchamp, Tinguely und Beuys, da die | |
Kleinstädte mit den damaligen artist's artists Luginbühl, [3][Meret | |
Oppenheim] und André Thomkins: Beide Stränge formten Spoerris Biografie, | |
und vice versa haben sich in vielen dieser Orte und Personen Spoerris | |
Spuren erhalten. | |
## Gute Figur mit Gehstock | |
Selbst als zuletzt gebrechlich gewordener Gastgeber machte Spoerri noch | |
eine gute Figur, wie er mit Gehstock zwar, aber sonst recht forsch übers | |
Gelände seines Ausstellungshauses in Hadersdorf am Kamp führte. Als wollte | |
er den ehemaligen Tänzer dann doch nicht ganz verleugnen. Und weit | |
ausholende Gesten mit dem Geh- und Zeigestock waren durchaus nötig, um in | |
all die Innen- und Hinterhöfe seines Anwesens im Weinviertel nahe Wien zu | |
weisen – und dabei auch nicht das eiserne Ungetüm zu vergessen, das in | |
einer großen Scheune zwischen all den Kunstobjekten verwirrte Blicke auf | |
sich zog. „Das ist eine Kettenhemdwaschmaschine“, erklärte der Besitzer mit | |
fast kindlichem Jäger- und Sammlerstolz. | |
Auch an diesem letzten Wirkungsort von Daniel Spoerri war, durchgeführt von | |
seiner Gefährtin Barbara Räderscheidt, nochmals eine regelrechte Landnahme | |
erfolgt: Neben dem Trakt mit Ausstellungs-, Stiftungs- und Wohnräumen gibt | |
es, drei Häuser weiter am ehemaligen Marktplatz, mit dem „Esslokal“ und | |
einem Saal für Veranstaltungen noch weitere Schauplätze. Und doch ist hier | |
alles ein paar Nummern kleiner als auf dem einst mit seiner dritten Frau | |
Katharina Duwen entdeckten Areal von Spoerris 1990 gegründeter Stiftung „Il | |
Giardino“ mit dem angegliederten Skulpturengarten im toskanischen Seggiano, | |
wo gemäß dem Motto „Hic terminus haeret“ all seinem Wirken schon mal das | |
Ende hätte anhaften sollen. | |
In Hadersdorf – so weit donauabwärts hatte er seit seiner Geburt nie mehr | |
festgemacht – brachte er unter dem schattigen Vordach seiner Treppe die | |
Rede auf Titus Lukretius Carus, dessen „De Rerum Natura“ in den letzten | |
Jahren eine seiner Lieblingslektüren war. Lukrez' Lehrgedicht über die | |
Natur der Dinge hatte es Spoerri so gründlich angetan, weil sein eigenes | |
Werk die materialistischen Ideen des römischen Dichters und Philosophen in | |
verblüffender Weise bestätigt: Was man isst, wird ausgeschieden, zum Werden | |
gehört das Vergehen und, wie es bei Lukrez auch heißt: „Der Tod betrifft | |
uns nicht.“ | |
Einmal gefragt, wo Spoerri sich ungefähr verorten würde, wenn zufällig ein | |
Maler aus ihm geworden wäre, antwortete er sinngemäß, das hätte sowieso nur | |
dann geklappt, wenn er 50 Jahre früher geboren [4][und anstelle El | |
Lissitzkys] bei den Konstruktivisten gelandet wäre. | |
Zeitlebens machte er keinen Unterschied zwischen gefeierten Künstlerinnen | |
und Künstlern aller möglichen Genres, verkannten Genies zwischen allen | |
Stühlen und dem ganz normalen Bodenpersonal. „Das Beste an mir sind meine | |
Freunde“, sagte er gern. Er hat sie fast alle überlebt und ihre | |
Hinterlassenschaften gehütet. Mit Daniel Spoerri ist aus seiner Epoche der | |
großen Aufbrüche nun auch der Last Man Standing 94-jährig abgetreten. | |
7 Nov 2024 | |
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