# taz.de -- Fluxuskünstlerin Alison Knowles: Zum Glück darf man klauen | |
> Erfrischend überschreitet New Yorkerin Alison Knowles die Genres der | |
> Künste und ist auch sonst nah am Alltag, zeigt ihre Retrospektive in | |
> Wiesbaden. | |
Bild: Alison Knowles rasiert ihrem Ehemann Dick Higgins den Kopf bei den Intern… | |
In Wiesbaden ist ja immer irgendwie Fluxus, ohne dass man das der | |
beschaulichen Mittelstadt unbedingt anmerken würde. Die Antwort auf das | |
„Warum ausgerechnet hier“ mag wohl nicht zuletzt im US-amerikanischen | |
Einfluss Nachkriegshessens liegen und den Verbindungen und Zugängen, die er | |
mit sich brachte. | |
Der Kunst hat das merklich Schwung verschafft. Nicht nur lokal. Manch einer | |
blieb länger: Der Musiker und Installationskünstler [1][Ben Patterson aus | |
Pittsburgh, auch er ein Fluxus-Urgestein], hat bis zu seinem Lebensende | |
2016 immer wieder in Wiesbaden gelebt und gearbeitet. | |
Vielleicht passt es dann aber wieder sehr gut, dass gerade an diesem Ort | |
das gediegene Kulturpublikum 1962 im Rahmen der „Internationalen Festspiele | |
für Neueste Musik“ vier Wochen lang mit einem ganz anderen Verständnis von | |
Kunst konfrontiert, genervt und wohl auch belustigt werden konnte – | |
freilich durch eine, so ist das ja oft, Handvoll ihrerseits oft eher | |
bürgerlich sozialisierter junger Menschen. Aber die brachte einen Hauch | |
weite Welt in die hessische Landeshauptstadt. | |
Das Museum Wiesbaden präsentiert jetzt mit „Alison Knowles. Retrospektive“ | |
die bis dato größte Schau einer der Mitbegründerinnen jener legendären | |
Aktion in Deutschland. Geboren wurde Knowles 1933 in New York, wo sie bis | |
heute lebt und arbeitet. Wiewohl ihr Name hierzulande deutlich [2][seltener | |
fällt als beispielsweise Nam June Paik] oder George Macunias, mit denen sie | |
den Fluxus nach Wiesbaden brachte. | |
Fluxus als inklusive Angelegenheit | |
„Es ist nicht zu leugnen: Fluxus war eine inklusive Angelegenheit“, schrieb | |
die Kunsthistorikerin Kathy O’Dell 1997 in ihrem Aufsatz „Fluxus | |
Feminismus“. Schließlich habe es bis dato kaum eine zweite Kunstströmung | |
gegeben, mit der so viele Frauen und People of Color assoziiert seien wie | |
mit dieser. In der Geschichtsschreibung hatten dann aber meist wieder | |
andere den Vorrang. | |
Ein Besuch in Wiesbaden zeigt, was man im Falle Alison Knowles hierzulande | |
verpasst hat – zeitlich oder geografisch (in den USA, wo die Ausstellung in | |
abgewandelter Form zuerst zu sehen war, ist die Künstlerin immerhin | |
deutlich bekannter): die ganz frühen Fluxus-Performances natürlich, auf | |
denen Knowles ihrem Ehemann Dick Higgins hier, im Vortragssaal des Museums, | |
einst den Kopf rasiert hat; Fluxus-Plakate, gemeinsame Aktionen, aber auch | |
fabelhafte Buchobjekte, Collagen, Assemblagen, Materialsammlungen, die | |
scheinbar ohne viel Zutun schon hinreißend ausschauen. | |
Jana Dennhard hat die Wiesbadener Ausstellung kuratiert und bemerkte feine | |
Unterschiede. Alison Knowles’ Anleitungen respektive Vorschläge seien zum | |
Beispiel „weniger theatralisch“ formuliert als die einiger Fluxuskollegen. | |
Tatsächlich zeigt die Künstlerin eine besondere Offenheit für Resultate. | |
Ihre allererste in Wiesbaden aufgeführte proposition lautete schlicht: | |
„Shuffle“. Eine Einladung, kollektiv über den Boden zu schlurfen. So | |
einfach kann die Soundarbeit sein – unverkennbar die geistige | |
Verwandtschaft zum Komponisten und Musiktheoretiker John Cage, ein guter | |
Freund, der das Kunstverständnis der New Yorkerin ebenso geprägt hat wie | |
[3][Konzeptkunstpionier Marcel Duchamp.] | |
Der Geist des Fluxus durchzieht nicht nur Knowles’ Werk bis heute, sondern | |
auch die gesamten Museumsräume. Eine gute Idee zum Beispiel, Performances | |
und Aktionen als Fototapete übergroß auf die Wand zu packen, was eine | |
Anziehung ähnlich einer Schau verpasster Jugendbewegungen entfaltet. | |
Trotzdem wirkt die Retrospektive nicht wie eine Fluxusschau allein, und | |
schon gar nicht eine rein historisierende. | |
## Lauter Alltagsfundstücke | |
Was auch mit Alison Knowles’ ausgeprägtem Sinn für Farbe, Materialien, | |
Kombination zu tun hat, die ihren Arbeiten eine ausgesprochen visuelle | |
Präsenz verleihen. Die Künstlerin hat Blick und Gespür fürs Magische, das | |
den Dingen innewohnt. Obwohl sie nach dem Studium der Malerei sowie ersten | |
Erfolgen mit abstrakt-expressionistischen Bildern alle Werke verbrannte und | |
nie mehr Malerin sein wollte, gingen etliche Arbeiten durchaus als | |
erweiterte Malerei durch. Großformatige Cyanotypien auf Stoff, von der | |
Sonne oder der Künstlerin selbst bedruckt, Foto- und Materialcollagen, | |
Setzkästchen mit Alltagsfundstücken, große Bahnen naturgeschöpfter Papiere, | |
die zum Relief über- und untereinandergelegt wurden. Konzentriert sind ihre | |
Zusammenstellungen, oft aus dem gewöhnlichen Alltag geschöpft, aber reich. | |
Und dann gibt es dreidimensionale Arbeiten wie das „Fingerbook 3“, ein | |
Tableau zum Durchfahren mit den Fingern – Literatur zum wörtlichen | |
Begreifen, hier leider den Umständen geschuldet hinter Glas. Stellenweise | |
erinnert die Schau an einen Abenteuerplatz für Erwachsene, den man leider | |
heute größtenteils nicht mehr betreten darf. Die Kunstmaterie ist fragiler | |
als die Kunstideen. | |
Einen Raum weiter trifft man auf das einst begehbare, meterhohe | |
Künstlerinnenbuch zum Thema Nautik, mit dem Alison Knowles früher um die | |
Welt reiste und auch schon auf der Frankfurter Buchmesse zu Gast war (wo es | |
altersmüde in sich zusammengefallen sein soll). Ein Gedanke drängt sich auf | |
beim Betrachten der gigantischen Buchseiten mit allerlei Knoten, Collagen, | |
einer blauen Stoffröhre zum Durchklettern: Zum Glück darf man ja klauen. | |
Alison Knowles ist großherzig mit ihren Ideen, die ja dem Namen nach | |
zumindest teilweise Vorschläge sind, ergo von anderen aufgegriffen und | |
fortgeführt werden können. Das Format begehbarer Künstlerinnenbücher zum | |
Beispiel scheint jedenfalls noch längst nicht ausgereizt. | |
## Fluxus und die Kunst heute | |
Der Einfluss, den Fluxus auf die zeitgenössische Kunstproduktion hatte, | |
lässt sich jedenfalls nicht mehr auseinanderrechnen. Wenn heute | |
selbstverständlich im White Cube gekocht und gegessen wird (der Künstler | |
[4][Rirkrit Tiravanija] hat ein ganzes Werk darauf aufgebaut), dann denkt | |
man unweigerlich an eine von Knowles’ bekanntesten Arbeiten, die in | |
Wiesbaden nicht gezeigt wird (die Künstlerin ist inzwischen 91 und verreist | |
nicht mehr mit dem Flugzeug): „Make a salad“! Die Zubereitung einer | |
gigantischen Portion Salat wurde seit 1962 etliche Male an diversesten | |
Orten aufgeführt; in London schnitt und schnippelte Alison Knowles | |
erstmalig Salatzutaten zum Beat einer Liveband, schmiss sie sodann in die | |
Luft, um sie auf einer großen Fläche zusammenzumixen. | |
Die häusliche Sphäre, sagte die Künstlerin einmal, habe wohl sie in den | |
Fluxus getragen. Insbesondere Bohnen ziehen sich durchs gesamte Werk; | |
Knowles’ „Bean Garden“ darf man hier auf Socken betreten, Kontaktmikrofone | |
verstärken das Knirschen beim Waten durch das Becken voll getrockneter, | |
typisch amerikanischer, weißer Bohnen. Wie überhaupt der Sound in vielen | |
Arbeiten eine Rolle spielte und spielt, aber ebenso längst nicht immer | |
reproduziert werden kann. | |
Vielleicht lässt sich diese Retrospektive nicht zuletzt als eine | |
Offenlegung begreifen: Das Primat des Visuellen schüttelt der Kunstbetrieb | |
so schnell nicht ab. Alison Knowles’ Werk ist eben nicht nur visuell oder | |
ephemer, sondern oft auch auditiv, situativ, kollaborativ, gustatorisch – | |
für all diese Formen ist schlicht noch kein wirklich adäquater Umgang | |
gefunden. Die Verhältnisse auflösen, das wäre doch ein wenig viel verlangt | |
von Fluxus. Ist es doch gerade das Wesen der Kunst, sich nicht mit ihren | |
Versprechen immerzu gemein machen zu müssen. | |
Und trotzdem: „Ich möchte nicht, dass die Kunst jemals stillsteht, fertig | |
ist“, wird Alison Knowles zitiert, „Ich möchte, dass sie jemandem zur | |
Verfügung steht, der etwas anderes damit machen kann … [etwas], an das ich | |
nicht gedacht hätte.“ Im Rahmenprogramm zur Ausstellung sind neben | |
interaktiver Vermittlung auch aktuelle Arbeiten wie Laila Zaidi Touis’ | |
„Dinner with the Stranger“ gefasst. | |
Fluxus als Haltung und Ansatz denn als abgeschlossene Bewegung: So kann es | |
also theoretisch immer weitergehen. Alles ist Kunst? Die Losung muss hier | |
eher lauten: Alles kann Kunst werden. Fluxus ist dabei wohl einfach | |
besonders generös. | |
24 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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