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# taz.de -- Bürgerräte in Deutschland: „Der emotionale Klamauk fällt weg“
> Gisela Erler war Staatsrätin für Bürgerbeteiligung. Sie sieht in
> Bürgerräten einen Weg, die gesellschaftliche Polarisierung zu überwinden.
Bild: Im Bürgerrat frisst nicht jeder jeden, sondern man hört einander zu
taz: Frau Erler, die einen rufen angesichts der zunehmenden
Parteienverdrossenheit und des Erstarkens der AfD nach Bürgerräten, die
anderen sind skeptisch. Sie haben als Staatsrätin die Bürgerbeteiligung in
Baden-Württemberg entwickelt. Was sagen Sie dazu?
Gisela Erler: Ich halte es für sinnvoll, dieses Instrument lokal, aber
auch auf Bundes- und Landesebene einzusetzen. Es entsteht ein Mehrwert
durch Bürgerräte, die man zu konkreten politischen Fragen oder auch zu
grundsätzlichen Themen einberuft.
Den Skeptikern sage ich: Natürlich werden Bürgerräte in Sachsen oder
Ungarn oder wo auch immer die Gesellschaft sehr polarisiert ist, die
Situation nicht über Nacht verändern. Aber sie können dazu beitragen,
Leuten, die jetzt verhärtet, verunsichert, apathisch, wütend oder
orientierungslos sind, ein Gefühl von Mitsprache und Austausch zu geben.
Ein Bürgerrat, wie funktioniert das genau?
[1][Bürgerräte] werden per Losverfahren bestimmt. Dabei werden Namen aus
dem Melderegister nach dem Zufallsprinzip gezogen. Für die Endauswahl per
Los werden immer zur Hälfte Frauen ausgewählt. Menschen mit
Migrationshintergrund und junge Leute unter 25 werden ebenfalls
entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil einbezogen.
Ein ähnliches Verfahren gab es schon in der attischen Demokratie. In den
letzten Jahren wurde es erfolgreich in vielen Ländern wiederbelebt. Im
katholischen Irland führte es zur gesetzlichen Zulassung des
Schwangerschaftsabbruchs und zur gesetzlichen Akzeptanz der
gleichgeschlechtlichen Ehe.
Der [2][Soziologe Steffen Mau hat Bürgerräte für Ostdeutschland
vorgeschlagen], um dort die politische Partizipation zu erhöhen. Eine gute
Idee?
Ja. Viele Leute in der Mitte haben Ängste, sind aber noch nicht in
populistischen Diskursen und Gefühlen gefangen. Bürgerräte bringen Leute
zusammen, die verlernt oder nicht gelernt haben, miteinander über einen
Gegenstand strittig zu debattieren oder auch zum Konsens zu kommen. Und das
vor dem Hintergrund, dass Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Verbände –
diese ganzen gesellschaftlichen Vermittlungsinstitutionen – für viele Leute
nicht mehr wichtig und nicht mehr attraktiv sind und sie sich ohnmächtig
fühlen.
In einem Bürgerrat erleben sie sich selbst neu, als echte Gesprächspartner
von Politik und Verwaltung. Dabei lernen sie auch, die Regeln der
Demokratie zu schätzen oder wieder zu schätzen.
Ist das für die institutionalisierte Politik nicht eher störend?
Bürgerräte sind auch ein Mittel, damit Verwaltung und Politik lernen, mit
den Menschen umzugehen und zu erkennen, dass in ihnen nicht nur Wut und
Aggression steckt, sondern auch Vernunft und gute Ideen.
Bürgerräte sind ein Wechselspiel zwischen Bürgern und Bürgerinnen
untereinander und zwischen ihnen und den sogenannten Eliten, also
Funktions- und Mandatsträgern. Die Politik fürchtet sich zu Beginn oft vor
diesem Format, lernt es aber in der Praxis meist sehr zu schätzen. Denn es
ist eine echte Alternative zu den heute üblichen unflätigen
Konfrontationen.
Gerade im Osten wären jede Menge AfD-Wähler in so einem Rat, wenn die
Breite der Gesellschaft abgebildet würde.
Selbst wenn es hypothetisch überall 40 Prozent wären, gäbe es immer noch 60
Prozent andere. Und in der Regel gelingt es Leuten mit emotionalen,
vorurteilsgeprägten oder gar hasserfüllten Positionen nicht, sich in einem
Bürgerrat durchzusetzen. Das sind ernsthafte und respektvolle
Diskussionen. Es wird nicht geschrien, die Leute hören einander zu und
lassen einander ausreden. Der ganze emotionale Klamauk fällt weg. Und vor
allem: Das Ziel eines Bürgerrats sind konstruktive Lösungsvorschläge, und
die sind nicht die Stärke der AfD.
Die Skeptiker sagen, dass trotz des Zufallsprinzips letztlich nur
diejenigen kommen, die sich ohnehin schon engagieren. Es gibt keinen Zwang.
Die anderen bleiben schön zu Hause.
Das ist definitiv falsch. Ja, es ist freiwillig. Wir brauchen um die 30 bis
40 Bürger, und auf das erste Anschreiben antworten in der Regel auch nur
zwischen 4 und 10 Prozent. Man muss also sehr viel mehr Leute anschreiben.
Aber am Ende ist der Rat immer sehr gemischt. Und vor allem: Er ist sozial
ganz anders zusammengesetzt als eine Parteiversammlung oder eine normale
Bürgerversammlung. Wir haben die Krankenschwester, den Dachdecker und die
Fabrikarbeiterin. Viele Teilnehmende stehen der Politik im Allgemeinen sehr
skeptisch gegenüber.
Haben die denn eine Chance gegen die Profis?
Sie werden mit Experten, aber auch mit Politikern und Verwaltungsleuten,
mit Bürgermeistern und Regierungsmitgliedern konfrontiert. Die hören ihnen
ernsthaft zu und verpflichten sich, die Empfehlungen ernsthaft zu prüfen.
Bürgerräte sollten deshalb von einem Parlament oder einer Regierung
beziehungsweise Verwaltung [3][beauftragt werden], sonst laufen sie ins
Leere.
Am Ende eines Bürgerrats entstehen aber nur Empfehlungen.
Was ein Bürgerrat erarbeitet, [4][wird nicht immer eins zu eins
umgesetzt]. Es ist nicht rechtsverbindlich und es kann auch dauern. Aber
die Idee, dass da nichts umgesetzt wird, ist falsch. Ein Beispiel:
Bürgerräte – das haben wir in Hunderten von Verfahren gesehen – kommen bei
der Planung von Infrastruktur in der Regel zu machbaren Ergebnissen, die
sich an der Umsetzung und nicht an der Verhinderung von Großprojekten
orientieren.
Verhindern kann man also nicht?
Wenn ich etwas verhindern will, muss ich politisch mobilisieren und
demonstrieren. Das kann nötig und richtig sein. Mit Bürgerräten kann ich
geplante Projekte aber sehr wohl in der Größe und der Qualität verändern
und beeinflussen. Bei Volksentscheiden geht es nur ums Ja oder Nein.
Bei Bürgerräten kommen in der Regel differenzierte Positionen raus –
größer, kleiner, anders, umweltfreundlicher. Das kann man erreichen, und es
ist nicht trivial. Bürgerräte nehmen oft Kompromisse vorweg, die die
Politik ohnehin finden muss, und erleichtern ihr diesen Schritt.
Langfristige nationale Zukunftspolitik bei den großen oder umstrittensten
Fragen: Klima-, Einwanderungs-, Geschlechterpolitik. Ginge das auch?
Es gibt große Themen, die mitten in einem Kulturkampf stecken, die man
gerade deshalb in Bürgerräten diskutieren sollte. In Frankreich gab es
einen sehr erfolgreichen Bürgerrat zur Sterbehilfe. Die Bevölkerung wollte
die Sterbehilfe, viele Vertreter der konservativen Parteien und teilweise
auch der Grünen wollten sie nicht.
Der Bürgerrat hat dort ein Modell gefunden, in dem die Sterbehilfe unter
bestimmten Bedingungen zulässig ist. Dieses Ergebnis ist typisch für
Bürgerräte. Die Abtreibungsfrage, das Selbstbestimmungsgesetz zur
Geschlechteridentität, das Ehegattensplitting: das könnte hier alles auch
in Bürgerräten verhandelt werden. Die Politik ist da aber noch zu
ängstlich. Das gilt auch für den Bundestag. Meine These lautet: Bürgerräte
sind wie eine Energiewende in der Politik.
Wie meinen Sie das?
Vor 70 Jahren konnte man mit Solarzellen gerade mal ein Telefon in der
Wüste betreiben. Heute hat sich die Solarenergie spektakulär ausgeweitet.
Bürgerräte kommen seit zehn, zwölf Jahren weltweit zum Einsatz und nehmen
eine ähnliche Entwicklung. Sie machen die bisher ungenutzte politische
Energie vieler Menschen für die Demokratie nutzbar.
6 Aug 2024
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## AUTOREN
Peter Unfried
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