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# taz.de -- Debatte ums Bürgergeld: Verschwindende Minderheit
> Mit dem Märchen vom faulen Arbeitslosen macht die Union Stimmung gegen
> das Bürgergeld. Der unfaire Pauschalverdacht trifft Menschen in echter
> Not.
Bild: Fast zwei Millionen der Bürgergeld-Empfänger:innen sind Kinder
Das [1][Diskussionspapier] zog seine Kreise durch die Medien: Enzo Weber,
Wirtschaftsforscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in
Nürnberg (IAB), hatte analysiert, inwieweit sich das Verhalten von Hartz
IV-, beziehungsweise Bürgergeldempfänger:innen änderte, als es
weniger Sanktionen gab und die Bedingungen für das Bürgergeld erleichtert
und die Sätze angehoben wurden.
Webers Fazit: Als es im Sanktionsmoratorium während der Coronapandemie kaum
noch Kürzungen gab und später dann die Bedingungen für das Bürgergeld
erleichtert und die Sätze erhöht wurden, nahmen weniger
Leistungsempfänger:innen einen Job an. Das Moratorium habe die
Jobaufnahmen aus der Grundsicherung „um vier Prozent“ und die nachfolgende
Bürgergeldreform habe die Jobaufnahmen „um fast sechs Prozent“ im ersten
Jahr gedämpft, heißt es in dem Papier.
Die Botschaft war Wasser auf die Mühlen derjenigen, die das Bürgergeld als
zu üppig ausgestattet kritisieren. Auf dieser Kritik baut die Union ihre
Vorschläge für strengere Regeln zur Grundsicherung auf. Damit will sie
Erhöhungen des Bürgergeldes beschränken, [2][Sanktionen verschärfen] und
die Selbstbehalte bei Vermögen und die Übernahme realer Wohnkosten für
Leistungsempfänger:innen reduzieren.
Das Bürgergeld steht unter Druck. Die Politik schielt dabei auf die
wählende Mittelschicht, zumal fast die Hälfte der
Leistungsempfänger:innen keine deutsche Staatsangehörigkeit hat und
daher gar nicht wählen kann. Es sind die Perspektiven und die Ambivalenz
der Mittelschichtmilieus, die über die Armutspolitik entscheiden werden.
Das wird man spätestens im Wahlkampf 2025 deutlich sehen.
## Niemand ist vor Armut gefeit
Wie stark ist das Identifikationspotential der Mittelschichtmilieus, die
Steuern zahlen und Abgaben leisten, mit Lebenslagen von Armut und
Abhängigkeit vom Sozialstaat? Das ist die politische Frage, die in Zeiten
knapper Haushaltskassen die Zukunft des Sozialstaates bestimmt. Auch als
gut verdienender Erwerbstätiger kann man in die Situation kommen,
Grundsicherung, beziehungsweise Bürgergeld, beantragen zu müssen.
Deswegen wurden die Bedingungen für den Bezug von Hartz IV in der Pandemie
ja auch erleichtert: Damals fanden sich kleine Selbstständige plötzlich in
der Situation wieder, dass die Einnahmen ausblieben. Jetzt hat sich der
Wind gedreht. Das Narrativ von den „faulen Arbeitslosen“ und der Streit um
den teilweise geringen Lohnabstand, der zwischen Familien im
Bürgergeldbezug und schlechtverdienenden Dienstleister:innen herrscht,
wird wieder zum Thema.
Dabei machen die als arbeitslos Geltenden [3][nur ein Drittel der
Leistungsberechtigten] im Bürgergeldbezug aus, nämlich 1,6 Millionen.
Fehlende Qualifikationen und Sprachprobleme spielen dabei eine große Rolle.
2,2 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte gelten hingegen gar nicht
als arbeitslos. Sie sind etwa alleinerziehend, gering verdienend und
Aufstocker, sind in Maßnahmen, gesundheitlich angeschlagen oder sie machen
eine Weiterbildung.
Fast 2 Millionen der Bürgergeld-Empfänger:innen sind Kinder. Hinzu kommen
1,2 Millionen Bezieher:innen von Grundsicherung im Alter und wegen
voller Erwerbsminderung durch eine Behinderung, deren Regelsätze dem
Bürgergeld entsprechen. Scheidungen, Insolvenzen, Krankheiten,
Behinderungen, Pflegebedürftigkeit im Alter –Schicksalsschläge können dazu
führen, dass Menschen abhängig werden vom staatlichen Existenzminimum und
dem Inflationsausgleich.
## Kein Sozialstaat ohne Vertrauen
Es gibt also ein Solidaritätspotential mit den Armen, das bis in die Mitte
der Gesellschaft reicht. Einerseits. Andererseits aber herrscht in den
Mittelsschichtmilieus das Misstrauen, dass hier Steuer- und Sozialgelder an
Menschen verschleudert werden, die arbeiten könnten, aber das System
ausnutzen. Diese Ambivalenz wird von der Politik befeuert. Als Scheinlösung
wird das Bild des „[4][faulen Arbeitslosen]“ an die Wand gemalt, auch um
mögliche Kürzungen zu erleichtern.
Selbst den Ukrainerinnen mit den hohen Belastungen durch
Kinderbetreuung, Sprachprobleme und Kriegstraumata wird inzwischen
teilweise mangelnde Arbeitsbereitschaft unterstellt, leider. Das heißt
nicht, dass marginale Veränderungen beim Bürgergeld nicht möglich sind. So
könnte der Selbstbehalt beim Vermögen, wenn jemand einen Erstantrag stellt,
etwas abgesenkt werden.
Und ein Mindestmaß an Sanktionen für jegliche fehlende Kooperation sollte
möglich bleiben, falls keine gesundheitlichen Probleme vorliegen. Die
Studie von Weber zeigte, dass der Anteil der Leute, die sich womöglich
nicht wirklich um Jobs bemühen, wenn Sanktionen wegfallen oder die Leistung
verbessert wird, im einstelligen Prozentbereich liegt. Wohlgemerkt handelt
es sich um den einstelligen Prozentbereich des kleinen Teils der
Empfänger:innen, die überhaupt dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
Wegen der paar Prozent sollte man weiß Gott nicht die Leistungen für
Millionen verschlechtern. Regelsätze und Wohnkosten zu beschränken, muss
unbedingt vermieden werden. Schon eine nur reduzierte Übernahme der realen
Wohnkosten jenseits fiktiver „Angemessenheitsgrenzen“ führt zu verschärft…
Armutslagen. Fast ein Siebtel der Bürgergeld-Empfänger:innen bezahlt heute
schon Anteile der Mieten aus dem Regelsatz für die täglichen Ausgaben, weil
die Miete die engen „Angemessenheitsgrenzen“ der Jobcenter übersteigt.
Das ist skandalös. Jede pauschale Verdächtigung und Abspaltung von
Grundsicherungsempfänger:innen im öffentlichen Diskurs, durch die
sich die Union vielleicht Stimmengewinne von rechts verspricht, wird zudem
einen hohen politischen Preis haben: Pauschale Verdächtigungen zerstören
das Vertrauen in das Solidarsystem, ein Vertrauen, das sowohl
Einzahler:innen als auch Empfänger:innen brauchen. Ohne Vertrauen
ist kein Sozialstaat möglich.
31 May 2024
## LINKS
[1] https://iab.de/publikationen/publikation/?id=2201339
[2] /Union-hetzt-gegen-das-Buergergeld/!5997357
[3] https://www.arbeitsagentur.de/datei/arbeitsmarktbericht-april-2024_ba048525…
[4] /Neue-Zahlen-zum-Buergergeld/!6003214
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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