| # taz.de -- Verschärfungen beim Bürgergeld: Faktisch ein Arbeitszwang | |
| > Das Bürgergeld kann in besonderen Fällen komplett gestrichen werden. Das | |
| > ist Wasser auf die Mühlen derer, die nach noch schärferen Sanktionen | |
| > rufen. | |
| Bild: Ohne die Berücksichtigung ökonomischer Bedingungen läuft der Schutz de… | |
| Spätestens seit der Ära von Kanzler Schröder wird über die Form der | |
| Existenzsicherung gestritten. Während die Debatte Ende der 90er Jahre von | |
| einem harten Populismus gegen ärmere Menschen mit Begriffen wie „Hängematte | |
| Sozialstaat“ geprägt war, setzte sich [1][nach der „Agenda 2010“ der | |
| rot-grünen Bundesregierung] Jahr für Jahr mehr die Erkenntnis durch, dass | |
| die sogenannten Hartz-Reformen mehr zu unsozialer Härte und weniger zu | |
| einer Reduzierung der Arbeitslosigkeit beigetragen hatten. Die SPD | |
| reagierte und änderte wiederum die Hartz-Gesetze in Richtung Bürgergeld. | |
| Umso verwunderlicher ist es, dass der Bundestag im Februar fast nebenher | |
| erneut die Möglichkeit einer Sanktionierung des Bürgergelds um 100 Prozent | |
| beschlossen hat. Schließlich hatte Rot-Grün die Möglichkeit der | |
| Komplett-Sanktionierung mit den Hartz-Gesetzen erst beschlossen, später | |
| hatte Rot-Grün-Gelb mit der Einführung des Bürgergelds diese zurückgenommen | |
| – um sie nun wieder einzuführen. | |
| Die neue Regelung unterscheidet sich zwar von den Hartz-Gesetzen, da unter | |
| anderem die Kosten von Unterkunft und Heizung von der Kürzung ausgenommen | |
| sind. Aber sie ermöglicht erneut die vollständige Streichung dessen, was | |
| ein Mensch darüber hinaus zum Leben braucht. | |
| Beim Bürgergeld handelt es sich nicht um großzügige Almosen, sondern um | |
| einen verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsanspruch. Das | |
| Bundesverfassungsgericht hat diesen in dem Recht auf Achtung der | |
| Menschenwürde (Artikel 1 Grundgesetz) in Verbindung mit dem | |
| Sozialstaatsgebot (Artikel 20 Grundgesetz) verortet. Den Schutz der | |
| Menschenwürde stellten die Verfassunggebenden als Lehre aus dem | |
| Nationalsozialismus an den Anfang des Grundgesetzes. | |
| ## Zwei Monate ohne Essen? | |
| Jeder Mensch hat das Recht auf Achtung seiner Würde – unabhängig von | |
| Leistungen, sozialem Status oder Eigenschaften. Die Menschenwürde kann auch | |
| nicht durch „unwürdiges Verhalten“ verloren gehen. Ohne die | |
| Berücksichtigung ökonomischer Bedingungen läuft der Schutz der | |
| Menschenwürde ins Leere. | |
| Seit vielen Jahren entnimmt das Bundesverfassungsgericht aus dem | |
| Zusammenspiel der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot das Recht auf | |
| eine menschenwürdige Existenzsicherung und hat zur Frage der | |
| Komplettsanktionierung [2][in einem Urteil von 2019 ausgeführt, dass der | |
| vollständige Wegfall des Arbeitslosengelds II nicht mit den | |
| verfassungsrechtlichen Maßgaben vereinbar ist]. Allerdings hat das Gericht | |
| es anders bewertet, wenn die leistungsberechtigte Person es selbst in der | |
| Hand hat, durch die Aufnahme einer angebotenen und zumutbaren Arbeit ihre | |
| Existenz „tatsächlich und unmittelbar“ selbst zu sichern. Wenn sie diese | |
| Arbeit ohne wichtigen Grund verweigert, sei auch der vollständige | |
| Leistungsentzug zu rechtfertigen. | |
| Nach einer neuen Regelung im Sozialgesetzbuch – dem Paragrafen 31a Abs. 7 | |
| SGB II – soll der Leistungsanspruch entfallen, wenn eine erwerbsfähige | |
| Person eine zumutbare Arbeit nicht annimmt und ihr Anspruch auf Bürgergeld | |
| innerhalb des letzten Jahres wegen der Nichtannahme einer Arbeit bereits | |
| gemindert war. | |
| Nach zwei Monaten soll die Sanktionierung aufgehoben werden. Zumutbar ist | |
| eine Arbeit nach drei Monaten Arbeitslosigkeit auch dann, wenn mit ihr ein | |
| Umzug innerhalb Deutschlands verbunden ist und kein wichtiger Grund dem | |
| Umzug entgegensteht. Auch Pendelzeiten von täglich zweieinhalb Stunden bei | |
| einem sechsstündigen Arbeitstag sind „zumutbar“ – bei einer Person, die | |
| Kinder zu versorgen hat, ist das völlig utopisch. | |
| ## Viele Gerichte könnten Sanktionen kassieren | |
| In der Praxis dürfte es so sein, dass nur die wenigsten Jobangebote | |
| innerhalb der sanktionierten zwei Monate realistisch sind; folglich dürfte | |
| ein Großteil der Sanktionierungen vor Gericht aufgehoben werden. Denn | |
| Voraussetzung ist, dass es sich um ein konkretes Arbeitsangebot handelt, | |
| das jederzeit wahrgenommen werden kann. Hat eine andere Person den Job | |
| schon erhalten, hat die sanktionierte Person nicht mehr die Möglichkeit, | |
| ihre Sanktionierung durch Annahme der angebotenen Arbeit zu beenden, weil | |
| das Angebot ja nicht mehr besteht. | |
| Das Bürgergeld gewährt das Minimum dessen, was zum (Über-)Leben notwendig | |
| ist. Eine hundertprozentige Sanktionierung bedeutet, dass in den zwei | |
| Monaten der Sanktionierung sämtliches Geld für Essen, Trinken, Hygiene- und | |
| Gesundheitsartikel und Telefon komplett gestrichen wird. Wie ein Mensch, | |
| der nicht auf Spenden von Familie oder Freund*innen zurückgreifen kann, | |
| in diesen zwei Monaten seine Grundbedürfnisse befriedigen soll, bleibt | |
| offen. Ob der Gesetzgeber davon ausgeht, dass Menschen zwei Monate lang | |
| nicht zu essen brauchen, auf der Straße Passant*innen um Geld bitten | |
| oder sich verschulden und damit die Gefahr des Verlustes ihres Bankkontos | |
| eingehen, ist nicht ersichtlich. | |
| Im Grundgesetz heißt es nicht, dass die Menschenwürde des arbeitswilligen | |
| Menschen zu schützen ist. Es heißt, dass die Menschenwürde jedes Menschen | |
| zu schützen ist. Das Grundrecht auf die Sicherung einer menschenwürdigen | |
| Existenz ernst zu nehmen heißt, auch dem Menschen eine menschenwürdige | |
| Existenzsicherung zu gewährleisten, der eine zumutbare Arbeit nicht | |
| angenommen hat. Auch diesem sollte ein Recht auf eine menschenwürdige | |
| Existenzsicherung zustehen – und zwar ohne einen faktischen Arbeitszwang. | |
| Aus welchem Grund die Ampel ihre eigene Reform nicht zunächst wirken lassen | |
| wollte, sondern ein erneuter Versuch der Komplettsanktionierung unternommen | |
| werden musste, ist nicht nachvollziehbar und Wasser auf die Mühlen | |
| derjenigen, [3][die wie die CDU schon nach noch schärferen Sanktionierungen | |
| rufen]. Die Entscheidung ist ethisch fragwürdig, politisch populistisch und | |
| verfassungsrechtlich problematisch. Sie wird hoffentlich nicht das Ende der | |
| Reformen im Existenzsicherungsrecht bedeuten. | |
| 22 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Antworten-auf-Hartz-IV/!5548404 | |
| [2] /Urteil-zu-Hartz-IV-Sanktionen/!5635675 | |
| [3] /Sozialstaat-in-Deutschland/!5998779 | |
| ## AUTOREN | |
| Franziska Drohsel | |
| ## TAGS | |
| Kolumne law and order | |
| Bürgergeld | |
| CDU | |
| GNS | |
| Sanktionen | |
| Law and Order | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Kolumne law and order | |
| Ampel-Koalition | |
| Das Milliardenloch | |
| Arbeitslosigkeit | |
| Hubertus Heil | |
| Rechter Populismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Leistungen für Asylbewerber:innen: Juristisch fragwürdig | |
| Die Vorschläge der Bundesregierung zur Asylrechtsverschärfung sind inhuman. | |
| Sie dürften zudem einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhalten. | |
| Debatte ums Bürgergeld: Verschwindende Minderheit | |
| Mit dem Märchen vom faulen Arbeitslosen macht die Union Stimmung gegen das | |
| Bürgergeld. Der unfaire Pauschalverdacht trifft Menschen in echter Not. | |
| Letzte Generation vor Gericht: „Verwerflich“ oder nicht? | |
| Sind die Sitzblockaden der Letzten Generation Nötigung und damit strafbar | |
| gewesen? Die Justiz ist sich da uneinig. Untere Gerichte urteilen | |
| liberaler. | |
| Neue Zahlen zum Bürgergeld: Arbeitslose doch nicht so faul | |
| Für sogenannte Totalverweiger*innen hat die Ampel die Sanktionen | |
| verschärft und die FDP will es noch härter. Dabei geht es nur um wenige | |
| Fälle. | |
| Debatte um Einsparungen im Haushalt: Lindner rüttelt am Bürgergeld | |
| Der Bundesfinanzminister will beim Bürgergeld sparen und den Druck auf | |
| Bezieher*innen erhöhen. Er fordert außerdem mehr Respekt für | |
| Gutverdienende. | |
| CDU und Ampel wollen sanktionieren: Zickzackkurs mit den Arbeitslosen | |
| Sanktionen gegen angeblich „faule Arbeitslose“ werden wieder verschärft. | |
| Erwerbslose werden zum politischen Spielball von Ampel und Union. | |
| Kürzungen beim Bürgergeld: Ein Rechenweg ins Ungewisse | |
| Die Ampel-Koalition will durch neue Sanktionen Millionen einsparen. Der | |
| Selbsthilfeverein Tacheles zweifelt aber an den Zahlen der Regierung. | |
| Einschnitte beim Bürgergeld: Passt zur Linie der Ampel | |
| Die Sparpolitik der Koalition trifft mitnichten die vermeintlich oder | |
| tatsächlich Faulen. Sie bestraft sogar besonders fleißige Arme. |