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# taz.de -- Letzte Generation vor Gericht: „Verwerflich“ oder nicht?
> Sind die Sitzblockaden der Letzten Generation Nötigung und damit strafbar
> gewesen? Die Justiz ist sich da uneinig. Untere Gerichte urteilen
> liberaler.
Bild: Dresden, April 2024: Nötigung oder nicht?
Die Aktionen der Letzten Generation, bei denen sie Straßen blockierten, um
auf eine andere Klimapolitik zu drängen, polarisierten die bundesdeutsche
Öffentlichkeit. Ein Recht auf Notwehr für Autofahrer sowie härtere Strafen
für Klimaaktivist*innen wurden gefordert und die Strafbarkeit ihrer
Aktionen diskutiert. Im Fokus steht die Frage, ob – und wenn ja, wie – es
strafbar ist, eine Straße durch das Verweilen oder das Ankleben auf der
Fahrbahn zu blockieren.
Das Blockieren von Straßenkreuzungen hat [1][eine lange Tradition in der
bundesdeutschen Protestkultur]. Kaum eine Demonstration in der Innenstadt
wird ohne Einschränkungen im Straßenverkehr stattfinden können. Dennoch
lösten die Aktionen der Letzten Generation eine Diskussion über die
rechtliche Einordnung derartiger Protestmittel aus. Mittlerweile liegen
Entscheidungen der Oberlandesgerichte vor, und es zeichnet sich ab, dass
sich die [2][Zerrissenheit der bundesdeutschen Öffentlichkeit auch in der
Rechtsprechung spiegelt]. Dies ist beispielhaft in Baden-Württemberg zu
beobachten, wo sich die Einschätzung des Oberlandesgerichts und zumindest
eines Amtsgerichts deutlich widersprechen.
So gibt es aktuell eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe (2
ORs 35 Ss 120/23). In dieser hob das Oberlandesgericht eine Entscheidung
des Amtsgerichts Freiburg (24 Cs 450 Js 18098/22) auf. Das Amtsgericht
hatte einen Klimaaktivisten freigesprochen. Dieser hatte zusammen mit
anderen Aktivist*innen dreimal eine Sitzblockade für klimapolitische
Belange auf einer Straße abgehalten, wodurch er Autofahrende zum Anhalten
zwang. Es kam zu Verzögerungen im Verkehr. Das Amtsgericht urteilte, dass
der Aktivist sich nicht strafbar gemacht hat.
Das Amtsgericht prüfte, ob eine Nötigung nach Paragraf 240 des
Strafgesetzbuchs durch Sitzen auf der Straße verwirklicht worden ist.
Nötigen setzt den Einsatz von Gewalt oder die Drohung mit einem
empfindlichen Übel voraus. Wenn Straßenblockierende – wie im vorliegenden
Fall – nicht anderen Menschen eine Körperverletzung oder den Tod androhen,
sondern einfach nur dort mit einem Transparent sitzen, kommt nur in
Betracht, dass sie Autofahrende „mit Gewalt“ zum Anhalten nötigen. Gewalt
setzt aber eine unmittelbare körperliche Zwangswirkung beim Opfer voraus.
Eine Demonstrantin, die lediglich auf der Straße sitzt, wirkt unmittelbar
nicht auf den Körper anderer Menschen ein.
Dennoch bejaht der Bundesgerichtshof eine Nötigung mit Gewalt, und zwar mit
folgendem Trick: In Bezug auf die erste autofahrende Person, die vor der
Demonstrantin anhält, liegt lediglich eine psychische Hinderung vor – das
Hindernis kann ja theoretisch umfahren werden. Für alle weiteren
Autofahrende besteht aber ein echtes physisches Hindernis durch das erste
Auto, und dieses physische Hindernis ist der Demonstrantin zuzurechnen. Das
Amtsgericht wendete diese Rechtsprechung an und sah den Tatbestand der
Nötigung in allen drei Fällen.
Allerdings kommt bei der Nötigung hinzu, dass diese verwerflich sein muss.
Der Einsatz von Gewalt ist dann verwerflich, wenn im Rahmen einer Abwägung
ein erhöhter Grad sozialethischer Missbilligung des für das Ziel
angewendeten Nötigungsmittels vorliegt. Dabei sind das Mittel und das Ziel
in Verhältnis zu setzen. Das Amtsgericht hat dabei den Zweck, eine höhere
Aufmerksamkeit für den Klimaschutz zu schaffen, ins Verhältnis zum Eingriff
in die Fortbewegungsfreiheit gesetzt. Es erkannte einen direkten Sachbezug
an, da die Protestierenden den Autofahrenden die Verkehrsbelastung und den
CO2-Ausstoß durch das Fahren von Autos vor Augen führen wollten.
Auch verwies es auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu
Artikel 20 a Grundgesetz, wonach das Gewicht der Freiheitsbetätigung bei
einem weiter fortschreitenden Klimawandel mehr und mehr zurücktritt. Im
Ergebnis sah das Amtsgericht die Straßenblockade als nicht verwerflich an
und sprach den Klimaaktivisten frei.
## Oberlandesgericht will nicht Farbe bekennen
Anders das Oberlandesgericht Karlsruhe: Es hob die Entscheidung auf und
verwies sie an das Amtsgericht zurück. Dabei wählte das Oberlandesgericht
einen unorthodoxen Weg: In der Strafprozessordnung ist vorgesehen, dass im
Falle von Rechtsfehlern das Oberlandesgericht selbst entscheidet. Hat die
Entscheidung tatsächliche Lücken, weil das Amtsgericht den Sachverhalt
nicht vollständig ermittelt hat, kann das Oberlandesgerichts an das
Amtsgericht zurückverweisen, damit diese Lücken geschlossen werden.
Das Oberlandesgericht führte aus, dass „die Verneinung der Verwerflichkeit
eher fernliegen dürfte“. Es geht augenscheinlich davon aus, dass das
Amtsgericht mit seinen Darlegungen zur Verwerflichkeit einen Rechtsfehler
begangen hat. Dennoch hat es aber nicht selbst in der Sache entschieden,
sondern wegen vermeintlicher Lücken mit Blick auf unter anderem die Länge
der Verkehrsunterbrechung zurückverwiesen. Man kann den Eindruck gewinnen,
dass das Oberlandesgericht dem Freispruch etwas entgegensetzen und
gleichzeitig doch nicht Farbe bekennen wollte, wie es mit einer eigenen
Entscheidung zur Verwerflichkeit einer friedlichen Sitzblockade erfolgt
wäre.
Es bleibt zu hoffen, dass sich noch viele Amtsgerichte und hoffentlich auch
– anders als das Oberlandesgericht Karlsruhe – viele Oberlandesgerichte von
der allgemeinen Hysterie rund um die Rufe nach Strafschärfung nicht
beeindrucken lassen, sondern bei dem bleiben, was unsere Rechtsordnung
mittlerweile nach einigen Jahrzehnten an Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zu Sitzblockaden kennzeichnet: ein starkes
Bekenntnis zur Demokratie, in der die Versammlungsfreiheit unwiderruflich
ein elementarer Pfeiler ist. Dies zu konterkarieren, indem der Tatbestand
der Nötigung über den Wortlaut hinaus so stark überdehnt wird, dass dieser
Pfeiler Stück für Stück angebrochen wird, widerspricht dem Grundgesetz.
3 May 2024
## LINKS
[1] /taz-Mitgruender-verteidigt-AfD/!5585511
[2] /Letzte-Generation-vor-Gericht/!6001654
## AUTOREN
Franziska Drohsel
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