# taz.de -- Zeugnisverweigerung vor Gericht: Essenzielle Vertraulichkeit | |
> Mitarbeiter*innen von Beratungsstellen bei sexualisierter Gewalt | |
> haben bis heute kein Zeugnisverweigerungsrecht. Das muss sich dringend | |
> ändern. | |
Bild: Mitarbeiter*innen in Beratungsstellen für sexualisierte Gewalt sollten e… | |
Die Arbeit vieler sozialer Berufe beruht auf der Vertraulichkeit zwischen | |
den professionell Unterstützenden und denen, die Hilfe suchen. Eine Person | |
zum Beispiel, die Crack konsumiert, wird nur mit einem Sozialarbeiter | |
sprechen, wenn sie nicht Angst haben muss, dass dieser der Polizei den | |
Besitz illegaler Substanzen meldet. Und auch, wenn es später zu einem | |
Gerichtsverfahren kommt und der Sozialarbeiter als Zeuge geladen wird, ist | |
für die soziale Arbeit entscheidend, dass Vertraulichkeit gewahrt wird. | |
Würde der Sozialarbeiter Auskunft darüber geben, wo häufig Crack konsumiert | |
wird, würde in Zukunft vermutlich keine Person mehr bei dem besagten | |
Sozialarbeiter Hilfe suchen. Deshalb hat der Gesetzgeber richtigerweise | |
Menschen, die in Drogenberatungsstellen arbeiten, ein | |
Zeugnisverweigerungsrecht in der Strafprozessordnung gewährt. | |
Aber nicht nur in Drogenberatungsstellen, sondern auch in anderen | |
Beratungsstellen ist die Vertraulichkeit essenziell – zum Beispiel in | |
Beratungsstellen für Opfer von Gewalt. Dorthin wenden sich unter anderem | |
Betroffene von Menschenhandel oder sexualisierter Gewalt. | |
Sie wenden sich an Beratungsstellen, um dort – oftmals in intimsten Fragen | |
– Unterstützung zu erhalten. Dort arbeiten überwiegend | |
Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen. Diese haben eine | |
Schweigepflicht nach Paragraf 203 des Strafgesetzbuchs und machen sich | |
strafbar, wenn sie über vertrauliche Inhalte anderen Menschen erzählen – | |
aber sie haben kein berufliches Zeugnisverweigerungsrecht. | |
Die Strafprozessordnung sieht vor, dass jede Person, die von einem | |
Strafgericht als Zeug*in geladen wird, aussagen muss; es sei denn, sie hat | |
ein Zeugnisverweigerungsrecht. Dies kann sich aus einem | |
Angehörigenverhältnis ergeben oder aus der Eigenschaft als | |
Berufsgeheimnisträger*in. Verweigert eine Person ohne | |
Zeugnisverweigerungsrecht die Aussage als Zeug*in vor Gericht, droht | |
Ordnungsgeld und ersatzweise Ordnungshaft. | |
## Strafzahlung wegen verweigerter Aussage | |
Wozu die Verweigerung einer Aussage führen kann, [1][zeigt eine | |
Entscheidung des Amtsgerichts Karlsruhe vom März 2024]: Die | |
Staatsanwaltschaft Karlsruhe hatte wegen eines Pyrotechnik-Vorfalls bei | |
einem Fußballspiel des Karlsruher SC ermittelt, bei dem elf Menschen, | |
darunter ein Mensch mit bleibenden Schäden, verletzt wurden. | |
Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe wollte drei Sozialarbeitende des | |
Fanprojekts Karlsruhe befragen. Die drei verweigerten die Aussage und | |
schwiegen auch vor dem Amtsgericht Karlsruhe. Sie entschieden sich, das | |
Vertrauensverhältnis zu ihren Klient*innen und damit die | |
Arbeitsgrundlage ihrer Arbeit zu schützen. Sie erhielten Strafbefehle wegen | |
Strafvereitelung in Höhe von jeweils 120 Tagessätzen à 60 Euro. Das | |
„Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht“ (in der sozialen Arbeit) sieht | |
darin einen massiven Eingriff in die Berufspraxis. | |
Eine Berufsgeheimnisträgerin wie eine Rechtsanwältin ist zur Verweigerung | |
des Zeugnisses berechtigt, wenn ihr etwas in ihrer Eigenschaft als | |
Rechtsanwältin anvertraut wurde. Als Berufsgeheimnistragende gelten zum | |
Beispiel Psychotherapeut*innen, Apotheker*innen, Hebammen, | |
Berater*innen zum Schwangerschaftskonfliktgesetz oder zu Fragen der | |
Betäubungsmittelabhängigkeit. Aber: Mitarbeiter*innen in Beratungsstellen | |
für Opfer von Gewalt sind dort bisher nicht genannt. | |
Dabei setzt die Beratungsarbeit der Fachberatungsstellen eine vertrauliche | |
Atmosphäre voraus. Häufig können sich Menschen erst nach einer längeren | |
Zeit öffnen. Voraussetzung hierfür ist, dass das von ihnen Gesagte | |
vertraulich behandelt wird und sie keine Sorgen haben müssen, dass andere | |
Menschen davon erfahren. Gewalterfahrung geht oft mit Kontroll- und | |
Vertrauensverlust einher. Um zu vermeiden, dass Betroffene einen solchen | |
noch mal erleben, ist es entscheidend, dass Betroffene wissen, dass nur mit | |
ihrer Erlaubnis Informationen von ihnen weitergegeben werden dürfen. | |
Zum Beispiel kann es eine Konstellation geben, in der eine Person einer | |
Beratungsstelle von sexualisierter Gewalt berichtet, die ihr als Kind über | |
mehrere Jahre zugefügt wurde. In Folge dieser Gewalt hat die Person viele | |
Jahre nachts eingenässt, was ihr bis heute äußerst unangenehm ist. Kommt es | |
zu einem Strafverfahren und wird die Beratungsstelle als Zeugin geladen, | |
ist sie gesetzlich verpflichtet auszusagen – auch über das Einnässen. Für | |
die betroffene Person bedeutet dies, dass ihr Wille erneut nicht geachtet | |
wird und sie einen solchen Kontroll- und Vertrauensverlust mit dem Risiko | |
der Retraumatisierung erlebt. | |
## EU-Richtlinie könnte helfen | |
Die Notwendigkeit eines Zeugnisverweigerungsrechts ergibt sich auch aus der | |
[2][EU-Opferschutzrichtlinie von 2012]. Nach Artikel 8 der Richtlinie haben | |
die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Opfer ihrem Bedarf entsprechend | |
vor, während sowie für einen angemessenen Zeitraum nach Abschluss des | |
Strafverfahrens kostenlos Zugang zu Opferunterstützungsdiensten erhalten, | |
die im Interesse der Opfer handeln und dem Grundsatz der Vertraulichkeit | |
verpflichtet sind. | |
Nur: Dem wird die Situation in Deutschland nicht gerecht. Beratung und | |
Unterstützung, etwa in einer spezialisierten Fachberatungsstelle, sind oft | |
die Voraussetzungen dafür, dass sich Betroffene überhaupt erst zu einer | |
Strafanzeige entscheiden, da sie sich nur unter diesen Bedingungen eine | |
Aussage in einem Verfahren zutrauen. | |
Mit der aktuellen Gesetzeslage kommen Berater*innen in Fällen, in denen | |
sie vor Gericht als Zeug*in geladen sind und gegen den Willen ihrer | |
Klient*innen aussagen sollen, in Gewissenskonflikte. Diese Gesetzeslücke | |
sollte schnell geschlossen werden und die Arbeit von Berater*innen in | |
Beratungsstellen für Opfer von Gewalt dringend auf rechtlich sichere Füße | |
gestellt werden. Deshalb sollten Mitarbeitende in Beratungsstellen für | |
Opfer von Gewalt ein Zeugnisverweigerungsrecht aus beruflichen Gründen | |
erhalten. | |
31 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Franziska Drohsel | |
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