# taz.de -- Antworten auf Hartz IV: Strategien gegen die Absturzangst | |
> SPD und Grüne führten 2005 Hartz IV ein. Beide Parteien versprechen nun, | |
> das zu überwinden. Die Stoßrichtungen sind unterschiedlich. | |
Bild: Welches Modell bietet effektive Grundsicherung? | |
Kanzler Gerhard Schröder ließ im März 2003 in seiner Regierungserklärung | |
zur Agenda 2010 keinen Zweifel daran, dass auf Arbeitslose einiges zukommen | |
würde: „Wer zumutbare Arbeit ablehnt (…), der wird mit Sanktionen rechnen | |
müssen“, sagte der Sozialdemokrat damals. Schröder machte bekanntlich | |
ernst. | |
Das 2005 von Rot-Grün eingeführte Arbeitslosengeld II, das von | |
Marktliberalen bejubelt wurde, ist längst zu einer Chiffre geworden. Hartz | |
IV steht heute für Absturzangst, Zwang und unerbittliche Bürokratie. Das | |
haben auch die Parteien verstanden, die Hartz IV damals erfanden. „Wir | |
werden Hartz IV hinter uns lassen“, kündigte SPD-Chefin Andrea Nahles auf | |
dem Debattencamp am Wochenende an. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck | |
wirbt in einem Debattenbeitrag für ein „neues Garantiesystem“, das Hartz IV | |
ersetzen soll. | |
Doch wie ernst gemeint sind diese Ankündigungen? Die Ideen der Grünen gehen | |
weiter als die der SPD. Die Oppositionspartei kann frei von der Leber weg | |
Konzepte fordern, während die SPD in der Großen Koalition den | |
Arbeitsminister stellt – also an Ergebnissen gemessen wird. Wichtigster | |
Punkt in Habecks Konzept: Er will die Sanktionen abschaffen. Diese | |
„erreichen ihr Ziel meist nicht“, argumentiert er. „Oft bewirken sie sogar | |
das Gegenteil.“ Etwa wenn junge Erwachsene bei Leistungsstreichungen in die | |
Schwarzarbeit flüchteten. | |
## Grundsicherung in grün | |
Die grüne Garantiesicherung soll bedingungslos ausgezahlt werden, also | |
nicht an die Arbeitssuche geknüpft sein. Gleichzeitig bekäme sie nicht | |
jeder, der Bedarf würde weiter geprüft. Habeck schlägt damit eine Brücke | |
zwischen den Anhängern einer Grundsicherung und denen eines Bedingungslosen | |
Grundeinkommens in seiner Partei. Die Grünen diskutierten 2007 auf einem | |
Parteitag in Nürnberg die Einführung eines solchen Grundeinkommens. Die | |
Delegierten entschieden sich knapp dagegen, doch der Konflikt schwelt bis | |
heute weiter. | |
Habeck skizziert in seinem Papier weitere Reformen. So will er die | |
Grundsicherung anheben, damit sie tatsächlich das Existenzminimum | |
garantiert und Teilhabe am sozialen Leben ermöglicht. Ein Erwachsener | |
bekommt heute 416 Euro im Monat – und eine Erstattung der Wohnkosten. Eine | |
Zahl nennt Habeck nicht. Auch das sogenannte Schonvermögen, das vor dem | |
Bezug nicht angerechnet wird, will der Grüne deutlich erhöhen. Im Moment | |
dürfen Arbeitslose etwa ein Auto im Wert von 7.500 Euro behalten, ihre | |
Altersvorsorge und selbst genutztes Wohneigentum. Habeck möchte – neben | |
Wohneigentum – ein Vermögen von 100.000 Euro erlauben. Damit entfiele in | |
den meisten Fällen die Vermögensprüfung. | |
Sein Papier fasst – neben einigen neuen Punkten – die Beschlusslage der | |
Grünen zusammen. Die Ökopartei hat sich seit 2005 schrittweise von Hartz IV | |
abgesetzt. Der Sozialpolitiker Markus Kurth begleitet diesen Prozess in der | |
Bundestagsfraktion seit Jahren – und hat unzählige Papiere zu Hartz IV | |
geschrieben. Er sieht den Streit ums Bedingungslose Grundeinkommen 2007 als | |
„Katalysator“ für die Grünen-interne Debatte. Damals habe der Parteitag | |
umfassende Änderungen an der Grundsicherung beschlossen. Kurths Fazit: | |
„Arbeitslose zu motivieren und zu ermutigen ist mindestens genauso wichtig | |
wie die Frage der Transfers.“ | |
Habecks Papier hat aber Schwachpunkte. So kalkuliert er grob mit | |
Zusatzkosten von 30 Milliarden Euro pro Jahr. Eine vage Rechnung. Denn die | |
Kosten hängen von der Höhe der Grundsicherungssätze ab – und über die | |
schweigt sich Habeck aus. Auch die Gegenfinanzierung bleibt nebulös. Sie | |
müsse „aus einer gerechteren Verteilung der Wohlstandsgewinne“ erfolgen, | |
heißt es lediglich. Habeck verweist auf Nachfrage auf den Wegfall von | |
Bürokratie. Und er will Steuerschlupflöcher schließen: „Damit ließen sich | |
satte zweistellige Milliardenbeträge generieren“, sagte er der taz. | |
## Drei rote Wege | |
Die SPD debattiert über drei fundamentale Veränderungen. So könnte es, | |
entsprechend der SPD-Fixierung auf Arbeit, eventuell ein Recht auf Arbeit | |
für Hartz-IV-BezieherInnen geben. Diese Richtung hatte bereits Berlins | |
Regierender Bürgermeister Michael Müller mit dem Konzept des Solidarischen | |
Grundeinkommens vorgezeichnet. | |
Zweitens gibt es die Überlegung für Arbeiternehmer, die 30 Jahre versichert | |
waren, de facto eine Art Arbeitslosenhilfe wieder einzuführen, die 2004 | |
abgeschafft worden war. Das soll verhindern, dass Facharbeiter nach ein | |
paar Monaten in Hartz IV landen. Zudem will die SPD die Sanktionen zwar | |
nicht abschaffen, aber lockern. | |
Auch die automatischen Sanktionen für Hartz-IV-Bezieher, die es versäumen, | |
sich zu melden, halten viele in der SPD für falsch. Unumstritten ist das | |
nicht. Als Parteichefin Nahles öffentlich über gelockerte Sanktionen für | |
Jüngere nachdachte, kam im Willy-Brandt Haus neben viel zustimmender ebenso | |
viel ablehnende Post an. Gerade Niedrigverdienern, die sich abrackern, | |
leuchtet es nicht ein, dass gesunde Leute fürs Nichtstun Geld bekommen. | |
## „Habeck ist näher bei uns als Nahles“ | |
Das Copyright auf „Hartz IV muss weg“ hat aber die Linkspartei. Ohne von | |
SPD und Grünen durchgesetzte Agenda-Politik würde es wahrscheinlich keine | |
Linkspartei geben, die sich nach 2003 im Westen aus den Protesten gegen | |
Hartz IV bildete. Parteichefin Katja Kipping sieht die jetzige Debatte als | |
Ergebnis des unermüdlichen Wirkens der Linkspartei. „Habeck ist näher bei | |
uns als Nahles“, [1][sagte sie der taz.] Denn der Grünen-Chef will | |
Arbeitslose nicht mehr mit Sanktionen traktieren. | |
Kipping kritisiert exakt die Schwachpunkte in Habecks Konzept. Die Grünen | |
drückten sich vor zwei Fragen: der Finanzierung des Post-Hartz-IV-Regimes | |
und der Höhe des Regelsatzes. „Dabei wissen die grünen Fachpolitiker | |
eigentlich, wie hoch der werden muss.“ Nämlich über 560 Euro. Der Abbau von | |
Bürokratie, den Habeck nennt, um Geld lockerzumachen, werde für diese | |
umfangreiche Reform kaum reichen. | |
Dafür braucht es laut Kipping die Besteuerung von Millionenerbschaften – | |
ein Thema, bei dem die Grünen zögern. Kipping freilich sieht vor allem das | |
Positive. Und am Horizont ein verbindendes Thema für eine rot-rot-grüne | |
Regierung. „Klar ist, dass die Grünen Habecks Ideen nur in einer | |
Mitte-links-Regierung umsetzen können. Sonst bleibt es bei der Debatte.“ | |
15 Nov 2018 | |
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[1] /Katja-Kipping-ueber-Hartz-IV-Diskussion/!5551008 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Ulrich Schulte | |
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