# taz.de -- Grüne und Grundsicherung: „Hartz IV muss überwunden werden“ | |
> Jens Spahn argumentiere überheblich und falsch, sagt der grüne | |
> Sozialexperte Sven Lehmann. Er fordert eine „sanktionsfreie | |
> Grundsicherung“. | |
Bild: „Das Problem ist sogar noch größer, weil viel mehr Menschen arm sind,… | |
taz: Herr Lehmann, Jens Spahn sagt, mit Hartz IV habe „jeder das, was er | |
zum Leben braucht“. Warum ist das falsch? | |
Sven Lehmann: Jens Spahns Sätze sind überheblich und sachlich falsch. | |
Allein 2,5 Millionen Kinder leben in Deutschland in Armut. Dahinter stehen | |
Eltern, die arm sind. Die Leute stellen sich nicht aus Spaß bei Minusgraden | |
an den Tafeln an. Das Problem ist sogar noch größer, weil viel mehr | |
Menschen arm sind, als die, die tatsächlich Hartz IV beziehen. Viele | |
Bedürftige melden sich gar nicht bei den Behörden, weil sie sich schämen | |
oder nicht Bittsteller sein wollen. | |
Warum reicht die Grundsicherung nicht? Sie soll offiziell alle Bedürfnisse | |
wie Essen, Kleidung und Wohnen abdecken. | |
Die Bundesregierung rechnet die Regelsätze künstlich klein. Als Maßstab | |
gilt das, was Niedrigverdiener ausgeben, um über die Runden zu kommen. | |
Diese Vergleichsgruppe wurde verkleinert, um bessere Einkommen | |
auszuschließen. Die Liste der Dinge, die Hartz IV-Empfängern nicht | |
zugestanden wird, ist lang. Dazu gehören beispielsweise Zimmerpflanzen, | |
Haustiere, Weihnachtsbäume oder Malstifte für Kinder in der Freizeit. | |
Wohlfahrtsverbände wie die Caritas gehen davon aus, dass der Regelsatz von | |
derzeit 416 Euro für einen Erwachsenen mindestens 60 Euro höher liegen | |
müsste. | |
Selbst die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer hat sich von | |
Spahn distanziert. Sie warnte davor, dass gut verdienende Politiker | |
versuchten zu erklären, wie man sich mit Hartz IV fühlen solle. | |
Da hat sie Recht. Fragen Sie mal eine Mutter, die mit 2,80 Euro am Tag ihr | |
Kind ernähren soll. Das ist unmöglich. Gerade die Regelsätze für Kinder | |
sind zu niedrig. Es geht übrigens auch nicht nur darum, dass Menschen in | |
der Grundsicherung nicht verhungern oder erfrieren. Sie sollten auch in der | |
Lage sein, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. | |
Gehen Hartz IV-Bezieher auch deshalb zur Tafel, um sich ab und zu einen | |
kleinen Luxus erlauben zu können? | |
Von Luxus kann da kaum die Rede sein. Menschen, die Hartz IV bekommen, | |
müssen ihr knappes Geld auf niedrigstem Niveau gewichten. Ein Beispiel: | |
Eine alte Dame, die ihre Rente beim Amt aufstocken muss, möchte ihrer | |
Enkelin etwas zum bestandenen Abitur schenken. Gibt sie für diesen Anlass | |
mal 20 Euro extra aus, fehlt ihr das Geld beim Essen – und sie stellt sich | |
bei der Tafel an. Eine reiche Gesellschaft, die ihren Bürgern solche | |
Entscheidungen abnötigt, nimmt ihnen die Würde. | |
Warum hört man von den Grünen so wenig fundierte Kritik an Hartz IV? Ihre | |
Partei setzt lieber auf Themen für die ökoaffine Mittelschicht. Gutes | |
Essen, Klimaschutz, Mobilität. | |
Diese Kritik höre ich manchmal. Aber die Grünen waren die erste Partei, die | |
deutliche Korrekturen an den Hartz-Gesetzen angemahnt hat. Schon vor zehn | |
Jahren haben wir gesagt, dass der Regelsatz zu niedrig sei und die harten | |
Sanktionen überwunden werden müssten. Auch bei vielen anderen | |
Gerechtigkeitsfragen – etwa der Pflege oder der Gesundheit – sind die | |
Grünen gut aufgestellt. | |
Die Grünen haben 2016 auf einem Parteitag beschlossen, dass die Hartz | |
IV-Sanktionen weg müssen. Davon hat man im Bundestagswahlkampf kein Wort | |
gehört. | |
Stimmt. In einem Wahlkampf muss man sich ja immer für Schwerpunkte | |
entscheiden. Der Pflegenotstand und die Kinderarmut hatten im Wahlkampf | |
einen hohen Stellenwert. Jetzt geht es aber grundsätzlich um die soziale | |
Sicherung der Zukunft. Und da brauchen wir Veränderung. Hartz IV muss | |
überwunden und durch eine neue soziale Sicherung ersetzt werden. | |
Wie wollen Sie das erreichen? | |
Das erarbeiten wir im Rahmen unseres neuen Grundsatzprogramms. Wir werden | |
aber noch in diesem Jahr einen Antrag in den Bundestag einbringen, der eine | |
neue Berechnungsgrundlage für die Regelsätze fordert. Die Vergleichsgruppe | |
muss breiter und die verdeckte Armut berücksichtigt werden. Und die | |
alltäglichen Bedarfe müssen lebensnah definiert werden. | |
Damit wäre Hartz IV nicht überwunden – sondern nur auf eine neue Basis | |
gestellt. | |
Deswegen braucht es auch einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel. Die | |
Grundsicherung muss von der Würde und den sozialen Rechten des Menschen | |
ausgehen. Nicht davon, ob er auf dem ersten Arbeitsmarkt leistungsfähig | |
ist. Das ist der Webfehler bei Hartz IV. Außerdem sind viele Menschen arm, | |
obwohl sie arbeiten – Deutschland ist eines der Länder in Europa mit dem | |
größten Niedriglohnsektor. Eine Grundsicherung muss sanktionsfrei und | |
ermutigend sein. Ich stelle mir Garantiesysteme vor, die Menschen in allen | |
Lebenslagen soziale Teilhabe ermöglichen und vor Armut schützen. | |
Also ein Grundeinkommen für alle? | |
Auch diese Debatte werden wir weiter führen. Der Inhalt ist aber | |
entscheidender als der Name. Manche neoliberalen Modelle haben ja eher zum | |
Ziel, den Sozialstaat abzubauen. Das ist nicht grüne Position. Es muss klar | |
sein, dass es neben der Grundsicherung noch einen starken Sozialstaat gibt, | |
der Menschen nicht alleine lässt, sondern fördert und unterstützt. | |
15 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
## TAGS | |
Hartz IV | |
Jens Spahn | |
Grundsicherung | |
Robert Habeck | |
Tafel | |
Sozialpolitik | |
Hartz IV | |
Langzeitarbeitslose | |
Kinderarmut | |
Bedingungsloses Grundeinkommen | |
Hartz IV | |
Hartz IV | |
Jens Spahn | |
Sozialer Wohnungsbau | |
Hubertus Heil | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Antworten auf Hartz IV: Strategien gegen die Absturzangst | |
SPD und Grüne führten 2005 Hartz IV ein. Beide Parteien versprechen nun, | |
das zu überwinden. Die Stoßrichtungen sind unterschiedlich. | |
Lebensmittel-Tafeln ziehen Bilanz: Die vielen Gesichter der Armut | |
Rotationsprinzip, Aufnahmestopp, Losverfahren: Die Lebensmittel-Tafeln | |
gehen mit dem großen Andrang unterschiedlich um. | |
Vor dem Parteitag der NRW-Grünen: Sozialpolitik wird Mainstream | |
Der Chef der NRW-Grünen, Felix Banaszak, geht auf Distanz zu den Reformen | |
der Schröder-Regierung. Er will eine mitfühlende Sozialpolitik. | |
Interview mit Spahn-Kritikerin: „Hartz IV ist der Fehler“ | |
Die Hartz-IV-Bezieherin Sandra Schlensog empfängt am Samstag | |
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei sich in Karlsruhe. Sie hat ihm | |
einiges zu sagen. | |
Langzeitarbeitslose für gemeinnützige Arbeit: „Wir brauchen diese Jobs“ | |
Mit einem Modellprojekt will der Senat bundesweit Vorreiter sein, sagt | |
Arbeitssenatorin Elke Breitenbach (Linkspartei). Tausende Stellen geplant – | |
mit Mindestlohn. | |
Kinderarmut in Deutschland: Jedes siebte Kind | |
Die Zahl der Familien, die auf Hartz-IV angewiesen sind, hat zuletzt | |
zugnommen. Damit leben auch mehr Kinder und Jugendliche in Abhängigkeit des | |
Jobcenters. | |
Bedingungsloses Grundeinkommen: Keine Reform. Eine Revolution! | |
Ein Grundeinkommen für alle wäre theoretisch finanzierbar. Doch es würde | |
eine historisch beispiellose Umverteilung bedeuten. | |
Forderung nach dem Ende von Alg II: SPD rüttelt an Hartz IV – ein bisschen | |
Ein solidarisches Grundeinkommen soll her. Doch es fehlen genaue Ideen und | |
politische Mehrheiten. Und die Finanzierung? Ist ungeklärt. | |
Kolumne Geht’s noch?: Morgen wieder vom Tisch | |
Nach Jens Spahns Hartz-IV-Äußerungen wird ein bisschen Empörungsfolklore | |
aufgeführt – ändern wird sich an dem Gängelungssystem nichts. | |
Reaktionen auf Spahns Äußerungen: „Den Bezug zur Wirklichkeit verloren“ | |
Hat man mit Hartz IV genug zum Leben? Auch aus den Reihen der | |
Christdemokraten wird Jens Spahn für entsprechende Äußerungen kritisiert – | |
aber nicht nur. | |
Schlechte Lage bei Sozialwohnungen: 25 Quadratmeter Deutschland | |
Sozialer Wohnungsbau ist relativ: Was in München günstig ist, erscheint in | |
Berlin sauteuer. Die Suche nach einer Bleibe ist wie Lotto spielen. | |
Kommentar Hubertus Heil als Minister: Die Weiter-So-Personalie | |
Der neue Arbeitsminister steht für die Agenda 2010 und alte Machtzirkel | |
innerhalb der SPD. Seine Berufung ist ein Signal gegen die Erneuerung. |