| # taz.de -- Interview mit Spahn-Kritikerin: „Hartz IV ist der Fehler“ | |
| > Die Hartz-IV-Bezieherin Sandra Schlensog empfängt am Samstag | |
| > Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei sich in Karlsruhe. Sie hat ihm | |
| > einiges zu sagen. | |
| Bild: Sandra Schlensog in Karlsruhe | |
| taz: Frau Schlensog, am Samstag kommt Jens Spahn zu ihnen nach Karlsruhe. | |
| Was erwartet ihn? | |
| Schlensog: Wir werden uns erst mal ohne die Öffentlichkeit treffen, so ist | |
| es ausgemacht. Nur dann habe ich eine Chance, ihn mit meinem Anliegen zu | |
| erreichen. Gleichzeitig wollen wir die Gelegenheit für eine Kundgebung | |
| gegen Hartz IV nutzen. | |
| Der Grund für den Besuch war Spahns Aussage, Hartz IV bedeute nicht Armut, | |
| es sei der Weg aus der Armut. Sie haben ihn dann über eine Petition bei | |
| Change.org aufgefordert einen Monat von Hartz IV zu leben. Wie kam’s zu der | |
| Idee? | |
| Ich hab mich tierisch geärgert, weil ich fand, dass seine Äußerung zynisch | |
| ist und an der Realität der Menschen vorbei geht. Alle um mich herum haben | |
| gesagt, komm Sandra, das ist dein Moment, nutze das. Ich hab dann nur ein | |
| paar Minuten gebraucht, um die Petition zu schreiben. | |
| Wie lange hat es eigentlich gedauert, bis er sich bei Ihnen gemeldet hat? | |
| Die Petition war schon fünf Tage online. Als er angerufen hat, standen | |
| gerade Norbert Blüm und ein Fernsehteam vor der Tür. | |
| Sogar Norbert Blüm war schneller. Und was hat Jens Spahn gesagt? | |
| Ich hab’s erstmal nicht geglaubt, dass er es wirklich selber ist. Dann war | |
| es aber ein sehr gutes Gespräch auf Augenhöhe. Ich glaube, er fand es gut, | |
| dass ihn jemand so gepackt hat. | |
| Hat er in dem Gespräch etwas von seinen Äußerungen zurück genommen? | |
| Nein, aber dazu werde ich ihn am Samstag auffordern. | |
| Was genau finden sie so zynisch an der Äußerung von Jens Spahn? | |
| Niemand muss bei uns verhungern, das ist schon richtig. Aber wir leben nun | |
| mal in einem reichen Land. Da bedeutet Armsein, dass Menschen | |
| ausgeschlossen sind. Und ja, es bedeutet auch, dass Kinder hungern. Das ist | |
| ein Armutszeugnis. Ich glaube, das hat Jens Spahn nicht verstanden. | |
| Der Minister soll jetzt also einen Monat von Hartz IV leben. Wie stellen | |
| sie sich das vor? | |
| Darüber werden wir am Samstag reden. Ich finde, er soll einen Monat vom | |
| Regelsatz von 416 Euro leben, davon einkaufen und öffentliche | |
| Verkehrsmittel benutzen. Ich finde, man kann Sachen nur dann wirklich | |
| beurteilen, wenn man sie erlebt hat. | |
| Angenommen er macht das. Ist das nicht nur ein politischer Gag für ihn? | |
| Nein, das glaube ich nicht. Natürlich ist es eine künstliche Situation, | |
| schon allein deshalb, weil er weiß, dass es nach einem Monat vorbei ist. Am | |
| Ende wird er sicher sagen: Das geht doch irgendwie. Das stimmt ja auch. | |
| Aber er wird auch merken, es geht eben nicht gut. | |
| Wie funktioniert das bei Ihnen? | |
| Das schlimmste ist die ständige Existenzangst, die man hat. Man hat ja | |
| seinen Ausgabenplan, da darf nichts unvorhergesehenes dazwischen kommen. | |
| Schon wenn man krank wird und für Medikamente zuzahlen muss, bringt das | |
| alles durcheinander. Es darf kein kurzfristiger Schulausflug von meinem | |
| Sohn kommen, dann muss man dann das Geld erst mal vorlegen, bis man es | |
| später erstattet bekommt. Für vieles bekommt man vom Amt keine Erstattung | |
| sondern nur ein Darlehen, das ist dann eine Schuldenfalle. | |
| Wie viel bleibt ihnen für ungeplante Ausgaben? | |
| Nichts. Neulich war ich zum Beispiel einer Beerdigung eingeladen. Ich | |
| musste absagen, weil ich mir die Reise nicht leisten konnte. Ich hab nach | |
| allen Fixkosten 10 Euro am Tag übrig. Davon muss ich und meinen | |
| zehnjährigen Sohn leben. ich verhungere nicht, ich muss nicht zur Tafel, | |
| denn ich finde, die ist für Leute, die es noch dringender brauchen als ich. | |
| Was konkret müsste sich an Hartz IV verändern? | |
| Ich sehe es wie die Arbeits-Agentur-Rebellin Inge Hannemann. Sie hat mir | |
| kürzlich geschrieben, Hartz IV hat keine Fehler, Hartz IV ist der Fehler. | |
| Wir kommen auf Dauer um ein Grundeinkommen nicht herum. Bis dahin muss der | |
| Mindestlohn erhöht werden, weil auch mit Mindestlohn müssen die Leute heute | |
| aufstocken. Und Kinderarmut muss bekämpft werden. Es kann nicht sein, dass | |
| zum Beispiel Kindergeld auf Hartz IV angerechnet wird. | |
| Mangelt es nicht auch an Kinderbetreuung und Jobs mit flexiblen | |
| Arbeitszeiten? | |
| Ja, ich würde gerne arbeiten, aber eben auch Zeit haben, um Mutter zu sein. | |
| Die Freiheit nehme ich mir. Das sollte die Gesellschaft auch würdigen. Aber | |
| da ist der Arbeitsmarkt nicht flexibel genug. | |
| Trotz ihrer Situation sind sie eine engagierte Frau. | |
| Ich war immer sozial engagiert, unterstütze zum Beispiel ein Projekt für | |
| Obdachlose in Kaiserslautern. Als sich „Demokratie in Bewegung“ (DIB) als | |
| neue Partei gegründet hat, habe ich mich dann das erste Mal auch politisch | |
| engagiert. | |
| Hartz IV hat sie nicht passiv werden lassen? | |
| Nein. Ich bin jetzt auch sehr beeindruckt davon, was man in diesem Land zum | |
| Beispiel mit einer solchen Petition erreichen kann. Immerhin wird jetzt mal | |
| ernsthaft über Hartz IV diskutiert. Man kann also etwas erreichen, wenn man | |
| laut ist und sich solidarisiert. | |
| 27 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Stieber | |
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