# taz.de -- Wie der Traum vieler Linker aussieht: Das Ende von Hartz IV | |
> Das Kernstück der Agenda 2010 soll abgeschafft werden. Das fordern Teile | |
> der SPD. Doch wie sähe ein Deutschland ohne Hartz IV aus? Ein Szenario. | |
Bild: Die taz wagt einen Blick in die Glaskugel | |
BERLIN taz | Derzeit beträgt der Regelsatz für die Empfänger des | |
sogenannten Arbeitslosengelds II 416 Euro. „Zu wenig zum Leben, zu viel zum | |
Sterben“, beschreibt die Situation der Betroffenen am besten. Seit | |
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) das Thema mit einer flapsigen | |
Bemerkung in den Medienzyklus einspeiste, wird wieder lebhaft darüber | |
diskutiert, ob Hartz IV abgeschafft werden soll. Die taz wagt einen Blick | |
in die Glaskugel: Wie würde sich Deutschland verändern, gäbe es kein Hartz | |
IV, dafür aber ein bedingungsloses Grundeinkommen? | |
## Betroffene: Mehr Geld, weniger Sanktionen | |
Zunächst müssten die knapp 6 Millionen Hartz-IV-Empfänger nicht mehr | |
fürchten, wegen verpasster Termine oder ausgeschlagener Jobangebote und | |
Fortbildungen im Jobcenter sanktioniert zu werden. Allein in den ersten | |
neun Monaten 2017 wurden fast 720.000 Sanktionen ausgesprochen. Für | |
Betroffene würde „die Angst vor den Sanktionen wegfallen, die viele | |
Menschen überhaupt erst davon abhält, zu Terminen zu erscheinen“, sagt die | |
ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin und heutige Linke-Politikerin Inge | |
Hannemann. | |
Sebastian Koch, der seit zwölf Jahren im Jobcenter Rhein-Sieg arbeitet, | |
würde die Abschaffung etwaiger Sanktionen hingegen nicht befürworten: „Die | |
Konsequenz aus der Abschaffung von Sanktionen wäre, dass wir nur noch mit | |
Erwerbslosen arbeiten könnten, die freiwillig mitmachen. Gegenüber allen | |
anderen hätten wir kein Instrument mehr, um Mitwirkung einzufordern.“ Diese | |
Menschen würden laut Koch in ihren Lebenssituationen allein zurückbleiben – | |
eine Aktivierung würde nicht mehr stattfinden. Trotz Kochs Zweifeln würden | |
Betroffene aber über ein festes Einkommen verfügen, das nicht sinken | |
könnte. Die Gefahr von Zahlungsunfähigkeit, Verschuldung und | |
Obdachlosigkeit dürfte geringer werden. | |
Ob das Einkommen spürbar steigt, hängt allerdings davon ab, wie hoch die | |
Miete der jetzigen Hartz-IV-Bezieher ist, denn die Übernahme der | |
Unterkunftskosten, würde, wenn es ein Grundeinkommen gäbe, möglicherweise | |
nicht zum Tragen kommen. | |
## Behörden: Mehr Zeit für Jobvermittlung | |
Gäbe es ein sanktionsfreies Grundeinkommen, würden sich Erwerbslose und | |
Arbeitsvermittler zwangsweise auf Augenhöhe begegnen. Ohne die Möglichkeit, | |
Leistungen zu streichen, müssten die Jobcenter allein auf positive | |
Motivation setzen. Vor allem Klienten mit Suchtproblemen oder | |
gesundheitlichen Problemen würden intensiver betreut. Vermittler müssten | |
außerdem attraktivere Arbeitsplätze anbieten, damit Erwerbslose sie | |
annehmen. | |
Nach Informationen des Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung hat der | |
Bund 2017 etwa 5,1 Milliarden Euro Verwaltungskosten für die Grundsicherung | |
bereitgestellt, die wegfallen würden. Die Kosten für die Verhängung von | |
Sanktionen würden ebenfalls nicht mehr anfallen. An jeder Sanktion sind | |
laut Inge Hannemann vier Mitarbeiter beteiligt, jede Maßnahme kostet ihren | |
Berechnungen zufolge 150 Euro. Dazu kommen die Widerspruchs- und | |
Klagekosten. 2017 wurden laut Bundesagentur für Arbeit fast 640.000 | |
Widersprüche und 116.000 Klagen gegen Bescheide registriert. Diese Kosten | |
fielen weg. | |
„Ohne Sanktionen könnten sich die Jobcenter-Mitarbeiter auf ihre | |
eigentliche Arbeit konzentrieren, die Beratung, Betreuung und Vermittlung | |
der Erwerbslosen“, sagt Inge Hannemann. Viele Jobcenter-Mitarbeiter würden | |
viel lieber ganzheitlich pädagogisch arbeiten, statt sich mit | |
verwaltungsintensiven Sanktionen zu beschäftigen. | |
## Arbeitsmarkt: Löhne würden steigen | |
Der Wegfall von Sanktionen und die höheren Leistungen würden Arbeitnehmer | |
gegenüber dem Arbeitgeber stärken. Gerade im Niedriglohnsektor müssten | |
Arbeitgeber höhere Löhne zahlen, um ihren Mitarbeitern ein Einkommen | |
oberhalb des Grundeinkommens zu bieten. „Ein Grundeinkommen von 1.050 Euro | |
würde eine fundamentale Erschütterung des Niedriglohnsektors bedeuten“, | |
sagt Stefan Sell, Sozialpolitikforscher an der Hochschule Koblenz. „Das | |
bestehende niedrige Lohnniveau wäre nicht länger zu halten.“ | |
Dem gegenüber steht die Befürchtung, dass Jobs wegfallen, weil sie für | |
Arbeitgeber zu teuer würden. Sell hält diesem Einwand die Erfahrungen mit | |
dem Mindestlohn entgegen. Vor dessen Einführung „haben konservative | |
Volkswirtschaftler aber auch behauptet, es würden 900.000 Jobs verloren | |
gehen – bestätigt hat sich das nicht.“ | |
## Konjunktur: Konsum dürfte steigen | |
Ein Grundeinkommen oder auch nur die Erhöhung der Regelsätze würde den | |
Konsum stark ankurbeln“, ist Stefan Sell überzeugt. Im Einkommensbereich | |
von Hartz-IV-Empfängern könne man jede Erhöhung zu 100 Prozent in Konsum | |
umrechnen. „Das wäre ein konjunktureller Stimulus“, sagt Sell. Die | |
Sparquote sei bei Hartz-IV-Empfängern negativ. „Die Menschen geben mehr | |
aus, als sie haben. Sie verschulden sich. Jeder Euro mehr, den man diesen | |
Menschen gebe, würde „sofort investiert“. Über die Mehrwertsteuer flösse | |
ein Teil dieser Ausgaben wieder direkt an den Staat zurück. | |
## Gesellschaft: Ende eines Stigmas | |
Die Hartz-IV-Gesetzgebung orientiert sich am Prinzip des „Forderns und | |
Förderns“. Arbeitslosigkeit wird darin weniger als gesellschaftliches | |
Problem bewertet, sondern fällt in die Verantwortung des Individuums. | |
Sanktionen und die Vorgabe, jeden zumutbaren Job anzunehmen, zeichnen das | |
Bild von Menschen, die durch Zwang dazu animiert werden müssen, einer | |
geregelten Beschäftigung nachzugehen. Dieses Bild (Gerhard Schröder: „Es | |
gibt kein Recht auf Faulheit“) prägt noch immer die öffentliche Debatte | |
über Arbeitslosigkeit. | |
Ein Ende von Hartz IV würde auch ein Ende dieses Menschenbilds bedeuten. An | |
dessen Stelle träte die Grundhaltung, dass jedes Mitglied der Gesellschaft | |
das Recht auf ein Einkommen hat, das gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. | |
Die Beseitigung von Arbeitslosigkeit würde damit als Aufgabe der | |
Gemeinschaft wahrgenommen. Bei der Arbeitsmarktpolitik würde es nicht mehr | |
in erster Linie darum gehen, wie man Erwerbslose schnell in Arbeit bringt, | |
sondern vielmehr darum, wie man ihnen ermöglichen kann, einer | |
zufriedenstellenden Arbeit nachzugehen. | |
29 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Jörg Wimalasena | |
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