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# taz.de -- Kürzungen beim Bürgergeld: Ein Rechenweg ins Ungewisse
> Die Ampel-Koalition will durch neue Sanktionen Millionen einsparen. Der
> Selbsthilfeverein Tacheles zweifelt aber an den Zahlen der Regierung.
Bild: Ob diese Rechnung aufgeht?
Berlin taz | Nur „eine kleine Minderheit“ der Arbeitslosen, so
Sozialminister Hubertus Heil (SPD), lehne Jobangebote hartnäckig ab.
Trotzdem sollen [1][die neuen Bürgergeldsanktionen, an denen die Regierung
gerade arbeitet], immerhin 170 Millionen Euro pro Jahr einsparen. So steht
es im Entwurf für die Gesetzesänderung. Derzufolge bekommt künftig kein
Geld mehr, wer sich wiederholt weigert, „eine zumutbare Arbeit
aufzunehmen“. Kommt diese Millionensumme tatsächlich hin?
Nein, [2][behauptet der Wuppertaler Selbsthilfeverein Tacheles], der
bundesweit für die Rechte sozial Benachteiligter lobbyiert. Heils
Ministerium habe das angenommene Einsparvolumen „unseriös festgesetzt“,
kritisiert Vorstandsmitglied Frank Jäger. Den Berechnungen des Vereins
zufolge müsste die neue Sanktion pro Jahr über 210.000-mal eingesetzt
werden, damit sie Bund und Kommunen wirklich 170 Millionen Euro spart.
Das wären überraschend viele Fälle: Wie viele Totalverweiger*innen es
genau gibt, ist zwar nicht bekannt. Laut Statistiken früherer Jahre geht
aber regelmäßig nur ein kleiner Teil aller Sanktionen auf abgelehnte Arbeit
zurück. Heils Ministerium spricht im Gesetzesentwurf von „einigen wenigen“
Betroffenen.
Der Verein Tacheles ist mit einer einfachen Rechnung auf seine Zahl
gekommen: Den Plänen der Regierung zufolge darf künftig der
Bürgergeldregelsatz für maximal zwei Monate komplett gestrichen werden.
Wird der Zeitraum komplett ausgereizt, geht es also zunächst um zwei mal
563 Euro.
Von dem Betrag hat Tacheles noch 30 Prozent abgezogen: Die
Komplett-Sanktionierung soll schließlich nur bei wiederholtem Fehlverhalten
ziehen – und in diesen Fällen zahlen die Jobcenter schon jetzt nur
reduzierte Beträge.
Bleiben noch knapp 800 Euro Einsparung pro Fall. Um auf die von der
Regierung angepeilten 170 Millionen Euro zu kommen, muss man diese Zahl
eben grob mal 210.000 nehmen.
## Regierung rechnet nicht öffentlich
Das Arbeits- und Sozialministeriums wollte seinen Rechenweg am Mittwoch auf
Anfrage nicht offenlegen. Da sich das Vorhaben noch innerhalb der Regierung
in Abstimmung befände, sei das nicht möglich, sagte ein Sprecher. Er räumte
ein, dass die 170 Millionen Euro „natürlich ein Schätzwert seien“. Er
verwies allerdings auf „seriöse Studien“, denen zufolge die „jetzt
angekündigten Sanktionen eine Präventivwirkung entfalten werden“.
Soll heißen: Die Einsparungen, von denen die Regierung ausgeht, ergeben
sich nicht nur aus den jeweils zwei Monaten, in denen kein Bürgergeld
gezahlt wird. Stattdessen, so die Hoffnung, nehmen Betroffene unter dem
Druck der neuen Sanktion doch eine Arbeit auf und fallen dauerhaft aus dem
Bürgergeldbezug. Rechnet man damit, reichen schon weit weniger als 210.000
Fälle aus, um auf 170 Millionen Euro zu kommen.
Ob dieses Kalkül aufgeht, ist freilich offen. Vom Verein Tacheles heißt es
daher, die neue Sanktion sei nicht die geeignete Maßnahme, um eine
„konkrete Haushaltseinsparung“ zu erreichen. Sie bediene stattdessen
„Ressentiments und Vorurteile, die aktuell in weiten Teilen unserer
Parteienlandschaft in einer sozialpolitischen Debatte hochgehalten werden“.
## Fragezeichen auch beim Bonus
Ein Fragezeichen steht auch hinter dem Volumen einer zweiten Sparmaßnahme:
Gleichzeitig mit der Einführung der neuen Sanktion [3][soll der sogenannte
Bürgergeldbonus wegfallen]. Ihn gibt es erst seit einem halben Jahr.
Monatlich sieht er zusätzliche 75 Euro für Menschen vor, die bestimmte
Weiterbildungsmaßnahmen absolvieren. Durch die Streichung will die
Bundesregierung 100 Millionen Euro pro Jahr sparen.
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit, die die Maßnahme laut einer
Sprecherin „natürlich gerne fortgeführt“ hätte, haben seit Juli 63.000
Personen den Bonus erhalten. Die Kosten für das halbe Jahr: Nur knapp 9
Millionen Euro. Da neue Maßnahmen erfahrungsgemäß eine Weile brauchen, um
richtig anzulaufen, wären die Kosten für 2024 wahrscheinlich gestiegen. Die
von der Regierung angenommen 100 Millionen Euro Gesamtvolumen sind aber
zumindest nicht sehr defensiv geschätzt.
Ob die Zahl trotzdem hinhaut, wird sich in diesem Fall nicht mehr zeigen –
der Bonus wird ja eingestellt. Bei der neuen Sanktion dagegen bittet der
Sprecher des Heil-Ministeriums um Geduld: Es bleibe abzuwarten, wie sich
die Einsparungen am Ende des Jahres tatsächlich darstellen. So oder so
haben für die Bundesregierung beide Kürzungspläne einen Vorteil: Für den
Moment helfen sie ihr zumindest dabei, ihren Haushalt verfassungskonform zu
machen.
3 Jan 2024
## LINKS
[1] /Sanktionen-in-der-Grundsicherung/!5979678
[2] https://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/presseerklaerung-haush…
[3] /Einschnitte-beim-Buergergeld/!5979534
## AUTOREN
Tobias Schulze
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