# taz.de -- Gesunde Ernährung: Eine Frage des Geldes | |
> Gutes Essen hängt vom Geldbeutel ab, ärmere Menschen leiden darunter. | |
> Teile der SPD haben das Problem erkannt. Doch es ändert sich wenig. | |
Bild: Gesundes Essen: nicht für alle erschwinglich | |
BERLIN taz | Man wüsste schon gern, was Hubertus Heil darüber denkt. In | |
einem Rechtsgutachten, beauftragt von den Linken im Bundestag, werfen | |
Juristen dem Staat nichts weniger als einen Menschenrechtsverstoß vor. | |
Mehrere [1][Studien] hatten zuletzt vorgerechnet, dass der ins Bürgergeld | |
eingerechnete Geldbetrag für Lebensmittel zu niedrig ist, um sich davon | |
gesund zu ernähren. Die Hamburger Kanzlei Günther, die die Linken | |
beauftragt hatten, hält das für völkerrechtswidrig. | |
Ihre Argumentation: Dem UN-Sozialpakt zufolge müsse Deutschland seinen | |
Bürgern garantieren, [2][dass ihr Budget für den Lebensmitteleinkauf nicht | |
nur zum Sattwerden reicht], sondern auch für nährstoffreiche Produkte, viel | |
Obst und Gemüse. Das Bürgergeld leiste das nicht und verstoße somit gegen | |
das Menschenrecht auf angemessene Nahrung. Aber offenbar ist das kein Thema | |
für den Bundessozialminister. | |
„Das BMAS lehnt diese Argumentation und die Schlussfolgerungen ab“, teilt | |
eine Sprecherin Heils auf taz-Anfrage mit. Das Bürgergeld werde als | |
Gesamtpauschale ausgezahlt, daher sei es bereits „unzulässig“ | |
herauszurechnen, wie viel für den Essenseinkauf zur Verfügung steht. Wie | |
die Menschen das Geld aufteilten, sei ihre Sache. Wenn kein Betrag für | |
Lebensmittel definiert ist, kann auch niemand sagen, ob er reicht oder | |
nicht. | |
[3][Vor einem Jahr war es nicht der Sozialminister, sondern der grüne | |
Bundesernährungsminister Cem Özdemir,] der als erstes Mitglied einer | |
Bundesregierung Ernährungsarmut als Problem anerkannte. Ob Heil, der auch | |
Vizechef der Bundes-SPD ist, das teilt? Seine Sprecherin geht auf diese | |
Frage nicht ein. Bereits 2020 hatte der Wissenschaftliche Beirat des damals | |
noch CDU-geführten Ernährungsministeriums bemängelt, dass Hartz IV | |
Mangelernährung fördere und damit die gesunde Entwicklung von Kindern | |
irreversibel gefährde. | |
## Höhere Sozialleistungen, zugleich gestiegene Preise | |
Seitdem stiegen zwar die Sozialleistungen, die Lebensmittelpreise aber noch | |
stärker. In ihrer Antwort auf die Anfrage eines Grünen-Abgeordneten dazu | |
antwortete 2021 Heils Parlamentarische Staatssekretärin Kerstin Griese | |
(SPD): Man erhebe gar nicht, wie viel eine gesundheitsfördernde Ernährung | |
kostet – also könne man eine gesundheitsfördernde Ernährung als Ziel beim | |
Regelsatz auch nicht berücksichtigen. | |
Diese kühle Haltung hat Tradition: Ernährungsarmut ist ein blinder Fleck | |
der SPD, spätestens, wenn es ums Geld geht. Selbst Franz Müntefering, in | |
seiner SPD-Karriere unter anderem Partei- und Fraktionschef, verstörte 2006 | |
in einer Sitzung mit einem Zitat des Sozialdemokraten August Bebel: „Nur | |
wer arbeitet, soll auch essen.“ Damals war Müntefering | |
Bundessozialminister. | |
Unter Heils Führung lässt das Ministerium die Kritik an sich abperlen, | |
meist mit dem Hinweis, dass man aus den Sozialleistungen eben nicht | |
herausrechnen könne, wie viel Geld für Lebensmittel gedacht ist. Dem | |
widersprechen die Gutachter der Linken vehement. Denn initial wurde | |
durchaus ein Betrag für Essen in den Regelsatz eingerechnet, ermittelt auf | |
Grundlage der realen Ausgaben einkommensschwacher Haushalte von 2018. | |
Seitdem wurden Hartz IV und Bürgergeld mehrfach erhöht, ohne die | |
Lebensmittelausgaben statistisch neu zu erheben. Schriebe man den | |
ursprünglichen Betrag aber im Verhältnis der Gesamterhöhungen fort, hätten | |
einem Erwachsenen im Jahr 2023 etwa 5,73 Euro am Tag für Essen und Getränke | |
zur Verfügung gestanden, [4][seit Januar 2024 sind es rund 6,42 Euro] – zu | |
wenig für eine gesunde Ernährung. | |
Die Juristen halten bereits die Methodik für menschenrechtswidrig: Sie | |
orientiert sich an den tatsächlichen Konsumausgaben einkommensschwacher | |
Schichten, schert sich aber nicht darum, wie viel Geld überhaupt für ein | |
gesundes Leben benötigt wird. Würden Bürgergeld-Beziehende mehr als 5,73 | |
Euro am Tag für Essen ausgeben, fehle es in anderen grundrechtsrelevanten | |
Bereichen, argumentieren sie. | |
## Ministerium: Kostenermittlung „nicht umsetzbar“ | |
Aber es ist keineswegs so, dass die SPD das Thema ignoriert. Ende 2020, | |
noch zu Zeiten der Großen Koalition, beschloss die Bundestagsfraktion ein | |
Positionspapier „Ernährungsarmut in Deutschland bekämpfen“. Es enthält f… | |
jede denkbare Forderung, von der Zuckerreduktion bis zum gesunden | |
Schulessen. Einen Gedanken aber lässt es aus: dass es dem ärmeren Teil der | |
Gesellschaft an Geld fehlen könnte, um sich gesundes Essen überhaupt | |
leisten zu können. | |
Um den echten Bedarf bei den Sozialleistungen zu berücksichtigen, müssten | |
Experten einen „Warenkorb“ auf Basis eines „Ernährungsplans“ erstellen… | |
dessen Kosten ermitteln, erklärt die Sprecherin Heils. Weil dies eine | |
„Vielzahl an normativen Setzungen“ erfordere, ist es aus Sicht des | |
Ministeriums „nicht umsetzbar“. Die Logik dahinter: Wenn der Regelsatz nur | |
eine „statistische Größe“ sei, die „in keinerlei Zusammenhang zu einzel… | |
Gütern und Dienstleistungen“ stehe, muss man sich auch nicht damit | |
befassen, zu welcher Art von Ernährung das Geld am Ende reicht. | |
Für die geplante Ernährungsstrategie der Ampelkoalition hat Cem Özdemir | |
versprochen, soziale Aspekte zu einem Kernthema zu machen. Aber offenbar | |
wird er viel mehr als einen Appell für eine bessere datenmäßige Erfassung | |
der Ernährungsarmut nicht durchbekommen. Was an der FDP liegt, die schon | |
nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts als Erstes beim | |
Bürgergeld gespart hätte. Aber es liegt auch an der SPD, bei der bisher | |
niemand das Thema Ernährungsarmut mit der Geldfrage zusammenbringt. | |
Vielleicht ändert sich das ja langsam. Ob Sozialleistungen für eine gesunde | |
Ernährung reichen müssten? „Ja, natürlich sehe ich das so“, sagt die | |
SPD-Abgeordnete Peggy Schierenbeck. Der Ernährungspolitikern ist das Thema | |
ein Anliegen: „Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, dass sich alle | |
Kinder gesund ernähren können“, sagte sie der taz. Es gehe allerdings nicht | |
nur um finanzielle Möglichkeiten, sondern auch darum, dass die Menschen | |
eine gesunde Ernährung tatsächlich umsetzten. Beim politischen Rahmen dafür | |
sei man heute so weit wie nie, ist Schierenbeck überzeugt: Die Koalition | |
bereite eine Werberegulierung für Ungesundes und Projektförderungen für | |
gesundes Schulessen vor. | |
## Linken-Gutachten soll Anstöße geben | |
Und das Geld? „Natürlich müssen wir auch übers Geld reden.“ Dazu sein es | |
nötig, auf die Sozialpolitiker der Fraktion zuzugehen. „Das werde ich tun“, | |
kündigt Schierenbeck an. Einer, bei dem sie offene Türen einrennen würde, | |
ist der SPD-Abgeordnete Takis Mehmet Ali. „Ich habe nicht das Gefühl, dass | |
das Thema bisher vordergründig stark diskutiert wird“, sagt er. Er sitzt | |
seit zwei Jahren im Bundestag, gleich zu Beginn der Wahlperiode hatte er | |
sich für eine andere Methode zur Berechnung der Regelsätze starkgemacht. | |
„Das war aber nicht mehrheitsfähig“, sagt Mehmet Ali. Am liebsten wäre es | |
ihm, die Sozialpolitik würde sich grundsätzlich an Nachhaltigkeitskriterien | |
ausrichten. | |
Liegt es an den Kosten und an den schwierigen Debatten über vergangene | |
Erhöhungen, dass materielle Ernährungsarmut umschifft wird? Schon möglich, | |
vermutet der Lörracher Abgeordnete. „Aber irgendwann müssen wir das | |
diskutieren.“ Er hofft, das Thema könnte über den Petitionsausschuss in den | |
parlamentarischen Prozess einfließen. Womöglich gibt auch das Gutachten der | |
Linken einen Anstoß. Mehmet Ali bewertet es anders als Heil: „Ich finde das | |
Gutachten gut.“ | |
2 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /: | |
[2] /Gesunde-Ernaehrung/!5979642 | |
[3] /Buergergeld-Regelsatz-zu-niedrig/!5909759 | |
[4] /Buergergeld-und-Kindergrundsicherung/!5974018 | |
## AUTOREN | |
Martin Rücker | |
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