# taz.de -- Bürgergeld-Regelsatz zu niedrig: Ernährungsarmut wegschweigen | |
> Reicht das Bürgergeld für gesundes Essen? Sechs Ministerien ringen um die | |
> Antwort – das Problem darf bloß nicht zu groß erscheinen. | |
Bild: Die Lebensmittelpreise lagen zuletzt bei mehr als 20 Prozent über denen … | |
BERLIN taz | Die Botschaft war eigentlich unmissverständlich. Mitten im | |
reichen Deutschland gebe es „armutsbedingte Mangelernährung und teils auch | |
Hunger“, bilanzierte der Wissenschaftliche Beirat des | |
Bundesernährungsministeriums (BMEL) 2020 [1][in einem Gutachten]. Knapp | |
drei Jahre vergingen, bis mit [2][dem Grünen Cem Özdemir] ein erster | |
Minister ähnlich deutliche Worte fand – allerdings nur dann, wenn er sich | |
mit dem Rest der Bundesregierung nicht abstimmen musste, wie zuletzt in | |
einem Gastbeitrag für die Welt, in dem er „Ernährungsarmut“ als Problem | |
benannte. | |
Die Ampelkoalition als Ganze tut sich damit nämlich schwer. Das belegen | |
eindrucksvoll jene zwei Wochen im vergangenen Herbst, in denen insgesamt | |
sechs Ministerien die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der | |
Linksfraktion abstimmten. Darin ringen sie um politisch korrekte | |
Formulierungen und wollen nicht anerkennen, was wissenschaftlich vom Beirat | |
klar beschrieben ist. | |
Nach einer Informationsfreiheitsanfrage liegen der taz jetzt die Unterlagen | |
des Abstimmungsprozesses vor: Rund 50 E-Mails mit Textentwürfen und | |
Kommentaren, die zwischen den Ministerien hin- und hergingen. Sie | |
ermöglichen seltene Einblicke in die Ministerialbürokratie. | |
Es ist der 23. September 2022, als die acht Fragen in Özdemirs Ministerium | |
eingehen. Welche Erkenntnisse die Bundesregierung über Ernährungsarmut in | |
Deutschland habe, will die Linksfraktion wissen, und was sie dagegen | |
unternehme. Zwei Wochen später liegt die Antwort vor. Sie überrascht: Eine | |
„gesunderhaltende Ernährung“, argumentiert sie, sei „grundsätzlich“ a… | |
mit wenig Geld, also mit Hartz IV und Bürgergeld möglich – einen | |
„informierten, preisbewussten Einkauf“ vorausgesetzt. | |
## Özdemirs Sprecherin räumt „Fehler“ ein | |
Als vermeintlichen Beleg führt die Bundesregierung ausgerechnet jenes | |
Gutachten aus dem Jahr 2020 an – darin aber erklären 18 namhafte | |
Wissenschaftler:innen das genaue Gegenteil. Noch lange vor der | |
Rekordinflation hielten sie eine erhebliche „Deckungslücke“ zwischen dem im | |
Regelsatz vorgesehenen Budget für Lebensmittel und den Kosten einer | |
gesunden Ernährung für belegt. | |
„Die Bundesregierung gibt den Wissenschaftlichen Beirat nicht korrekt | |
wieder“, ärgerte sich der Agrarwissenschaftler Harald Grethe, der dem | |
Beratergremium seinerzeit vorsaß – spätestens da war die Sache für das BMEL | |
peinlich. Eine Sprecherin Özdemirs räumte den „Fehler“ schließlich ein, … | |
Ministerium entschuldigte sich bei seinem Beirat und erklärte, das falsche | |
Zitat sei „im Rahmen der Abstimmung mit den anderen beteiligten | |
Bundesministerien“ entstanden. | |
Ganz richtig ist das nicht, wie die Rekonstruktion der Abstimmung mithilfe | |
der Dokumente aus dem BMEL zeigt. Zu Beginn geht alles schnell. Der | |
Fragenkatalog der Linken erreicht das BMEL an einem Freitag. Noch am | |
Samstag zieht es die Ministerien für Soziales, Familien, Finanzen, | |
Gesundheit und Forschung hinzu. Das Haus von Karl Lauterbach (SPD) meldet | |
sich als erstes bereits am Montag zurück. | |
Daten zum Thema Ernährungsarmut und seinen Folgen? Das | |
Gesundheitsministerium kann dazu „nichts beitragen“, mailt es an das | |
federführende BMEL: „Wir melden daher Fehlanzeige.“ Einen Tag später | |
schreibt auch das Forschungsministerium, „es gebe keine einschlägigen | |
Forschungsprojekte in dem Bereich“. | |
## Unangenehme Fakten werden ignoriert | |
Dieser Verweis auf fehlende Daten über Ernährungsarmut sorgt bei einem | |
späteren Antwortentwurf im BMEL für erste Diskussionen. „Würdest du so | |
einen Satz komplett weglassen?“, kommentiert ein:e Beamt:in am Rand der | |
Word-Datei, weil „irgendwie ignoriert es auch die Existenz des Themas | |
Ernährungsarmut …“. „Würde ich streichen“, antwortet ein:e Kolleg:in.… | |
nicht mal Daten zur Ernährungsarmut existieren, kann somit kaschiert | |
werden. Und es bleibt nicht die letzte Aussage, die das Ministerium | |
kassiert. | |
Auch andere Passagen überleben den kritischen Blick nicht – weil sie | |
unangenehme Fakten „irgendwie“ ignorieren. So möchte das ebenfalls grün | |
geführte Familienministerium (BMFSFJ) gern auf die Rolle der | |
Schulverpflegung für Grundschulkinder hinweisen: „Die Qualitätsvorgaben für | |
das Mittagessen orientieren sich in den meisten Bundesländern an den | |
Angaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, so dass in der Regel ein | |
vollwertiges Essen angeboten wird, das Ernährungsarmut entgegenwirkt“, | |
textet es. Doch der Widerspruch zur immer wieder wissenschaftlich | |
untermauerten Kritik an der Nährstoffqualität fällt auf. | |
Es dauert nur einen Tag, bis die für Gemeinschaftsverpflegung zuständigen | |
Leute im BMEL protestieren: „Referat 212 kann den Antwortbeitrag des BMFSFJ | |
nicht mittragen.“ Weder habe jedes Kind die Möglichkeit, an der | |
Ganztagsbetreuung teilzunehmen, noch hält man die Qualitätsstandards für | |
derart etabliert. | |
Eine Studie habe vielmehr gezeigt, dass die Mehrzahl der Schulen „ohne | |
Leistungsbeschreibung ausschreibt“, also „lediglich eine nicht näher | |
definierte Mittagsmahlzeit eingekauft“ werde. Eine Maßnahme gegen | |
Ernährungsarmut? Eher nicht. | |
## Schuld auf Betroffene abgeschoben | |
Also wird auch dieser Passus gestrichen. Eine Aussage der Özdemir-Leute | |
wiederum fällt einer Intervention des Finanzministeriums zum Opfer: Bereits | |
die (inzwischen in die Tat umgesetzte) Ankündigung, dass das BMEL seine | |
Forderung nach einem Wegfall der Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse später | |
„erneut vortragen“ wolle, geht den Beamten von Ressortchef aus Christian | |
Lindner (FDP) offenbar zu weit. | |
Am größten aber scheint die Differenz zum [3][Sozialministerium (BMAS) von | |
Hubertus Heil (SPD)]. Dessen Beiträge zeugen vom Bemühen, die Bedeutung des | |
„zur Verfügung stehenden Budgets“ kleinzureden. Ernährungsarmut weniger a… | |
politisches Thema, sondern als Problem der Betroffenen: „Vor allem […] ist | |
gesunde Ernährung vom Wissen über gesunde Nahrungsmittel und deren | |
Zubereitung abhängig. Hier gibt es nach allen vorliegenden Informationen | |
bei vielen, auch einkommensschwachen, Haushalten Defizite, deren Behebung | |
jedoch nicht die Aufgabe der Mindestsicherungssysteme sein kann“, heißt es | |
in dem Entwurf. | |
Die Formulierung übersteht mehrere Schleifen im BMEL, bis Özdemirs | |
Leitungsstab schließlich eingreift: „Bitte noch einmal bzgl. des Ausdrucks | |
überarbeiten“, wünscht man sich: „Dieser Absatz suggeriert, dass | |
Bürgerinnen und Bürger, welche sich keine gesunde Ernährung leisten können, | |
inkompetent sind.“ | |
Schließlich verständigen sich die Ministerien auf eine deutlich knappere | |
Formulierung: „Eine gesunde Ernährung ist nicht allein von der Höhe des | |
monatlich zur Verfügung stehenden Budgets abhängig, sondern auch davon, wie | |
damit gewirtschaftet wird. Hierfür ist die Ernährungskompetenz | |
entscheidend.“ Gleiche Botschaft, schönere Worte. | |
## Mehrbedarf von bis zu 50 Prozent | |
Heils Beamte sind es auch, die die falsche Darstellung des | |
Beiratsgutachtens als vermeintlichen Beleg, dass eine gesunde Ernährung mit | |
dem Regelsatz finanzierbar sei, in die Antwort schreiben. Ein | |
Abstimmungsfehler ist das keineswegs: Der Entwurf durchläuft das Verfahren | |
ohne Kommentar, ohne Änderung – acht Referate und die Leitungsebene im BMEL | |
haben nichts einzuwenden. | |
Nach einer Woche, der Entwurf ist bereits weitgehend abgestimmt, reicht das | |
BMAS noch eine Ergänzung nach: „Die deutliche Erhöhung“ des Regelsatzes z… | |
Start des neuen Bürgergelds garantiere, dass der Geldbedarf für das Nötige | |
„auch angesichts der aktuell hohen Preissteigerungen“ gedeckt sei. Auch | |
diese Aussage schafft es in die finale Antwort, obwohl auch sie | |
wissenschaftlich schwer zu halten ist. | |
Mit zwei aktuellen Studien hatten Mediziner:innen und | |
Ernährungswissenschaftler:innen der Berliner Charité sowie der Unis | |
Bonn und Potsdam zuletzt untermauert, dass Hartz IV die „realen Kosten“ | |
einer gesunden Ernährung nicht decken kann. | |
Je nach Altersgruppe sahen sie einen Mehrbedarf von bis zu 50 Prozent – | |
eine Lücke, die auch das Bürgergeld nicht schloss. Es berücksichtigt heute | |
zwar gut 5,70 Euro pro Tag für Lebensmittel bei Erwachsenen, ein Plus von | |
rund 12 Prozent gegenüber den letzten Hartz-IV-Sätzen. Allerdings lagen die | |
Lebensmittelpreise zuletzt mehr als 20 Prozent über denen des | |
Vorjahresmonats. | |
Am 6. Oktober schließlich sendet Özdemirs damalige Parlamentarische | |
Staatssekretärin Manuela Rottmann die Antwort an Bundestagspräsidentin | |
Bärbel Bas. „Besondere Schwierigkeiten bei der Abstimmung mit den Ressorts | |
sind nicht aufgetreten“, hatten die Beamt:innen in der Zeichnungsvorlage | |
für Rottmann notiert. | |
So wird in der offiziellen Bundestagsdrucksache Nummer 20/3847 bis heute | |
die Unwahrheit suggeriert: dass der Wissenschaftliche Beirat des BMEL die | |
Regelsätze für ausreichend hält, um eine gesunde Ernährung zu finanzieren. | |
Als die Peinlichkeit öffentlich und der Fehler längst eingestanden war, | |
hatte eine BMEL-Sprecherin noch erklärt: „Antworten auf parlamentarische | |
Anfragen können leider nicht nachträglich korrigiert werden“ – was aberma… | |
falsch war. Bereits mehrfach hat die Bundestagsverwaltung veröffentlichte | |
Antworten durch korrigierte Fassungen ausgetauscht – sie braucht dafür nur | |
eines: eine korrigierte Fassung. | |
Die Linke Ina Latendorf, die die Anfrage initiiert hatte, hält es für einen | |
„Skandal“, dass „wider besseres Wissen“ die Unwahrheit veröffentlicht | |
bleibt: „Wir haben hier einen eklatanten Verstoß gegen das gesetzlich | |
verankerte Auskunftsrecht der Parlamentarier“, so die Abgeordnete. Doch | |
warum gibt es bis heute keine Korrektur? Dazu schweigt das BMEL auch auf | |
mehrfache Nachfrage. Es sei „aus unserer Sicht alles gesagt“, teilt | |
Özdemir-Sprecher Julian Mieth mit. Vielleicht ist eine neue Abstimmung mit | |
den anderen Ressorts einfach zu kompliziert? | |
26 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Martin Rücker | |
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