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# taz.de -- Billige Lebensmittel: Eine andere Agrarpolitik
> Bei Lebensmitteln müssen die wahren Kosten eingepreist sein – das kann
> auch sozial fair geschehen. Die Instrumente dafür stehen bereits zur
> Verfügung.
Bild: Wird Obst wieder Luxusware?
Die Debatte über den Wert und damit auch den Preis von Lebensmitteln ist
ein Wiedergänger. Mehr Wertschätzung für Lebensmittel wird seit Jahren
immer wieder von Politiker:innen gefordert. Gerne auch aus dem
Bundeslandwirtschaftsministerium. Getan wurde dafür aber wenig. Derzeit
sind [1][oft diejenigen Lebensmittel am billigsten], die
gesamtgesellschaftlich die meisten Kosten verursachen. Nachhaltig und fair
produzierte Lebensmittel sind weitaus teurer.
Aber die Preise an der Kasse täuschen. Denn die nicht eingepreisten Kosten
im Umwelt- und Gesundheitsbereich zahlen wir Verbraucher:innen indirekt
obendrauf. Zum Beispiel, wenn es immer aufwändiger und kostspieliger wird,
Nitrat aus dem Trinkwasser herauszubekommen. Oder wenn unsere
Ernährungsgewohnheiten nachweislich die Klimakrise befeuern.
Ernährungsmittelbedingte Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf- und
Nierenerkrankungen verursachen heute in Deutschland Kosten in
Milliardenhöhe. Und sie sorgen für viel Leid.
Es gibt erhebliche Ernährungsarmut in Deutschland. Einkommensschwache
Haushalte können sich derzeit kaum gesunde und nachhaltige Lebensmittel
leisten. Menschen, die auf existenzsichernde Leistungen wie Hartz IV
angewiesen sind, stehen [2][5 Euro pro Tag] für Lebensmittel zur Verfügung.
Das ist ein Skandal. Sozialverbände warnen, dass Obst und Gemüse bald ein
Luxusgut für Besserverdienende ist. Längst nicht mehr ist Fleisch und Wurst
auf dem Teller Nachweis einer vollen Geldbörse.
Im Gegenteil. Billig auf Kosten von Tier, Natur und Mensch erzeugtes
Fleisch gibt es zur Genüge – ein Kilo Hähnchenschenkel für 1,96 Euro etwa.
Wer für Umwelt und eigene Gesundheit mehr auf pflanzliche Alternativen
umsteigen möchte, zahlt drauf. Stichproben zeigten: Tofuwurst oder
Sojaburger waren in der letzten Grillsaison durchschnittlich doppelt so
teuer wie rabbattiertes Schweinekotelett oder Hähnchenschenkel.
Die neue Bundesregierung muss also im Rahmen ihrer angekündigten
Ernährungsstrategie eine grundlegende Weichenstellung für eine andere
Ernährungspolitik vornehmen. Diese Ernährungsstrategie muss Ressortgrenzen
überwinden und alle Perspektiven mit einbeziehen. Eine gute Grundlage dafür
bildet die [3][„Farm-to-Fork-Strategie“] der Europäischen Kommission (ein
Plan, der für eine nachhaltige Lebensmittelproduktion sorgen soll; d.
Red.).
Sie gilt es ernst zu nehmen und umzusetzen. Das wird auch längst in
gemeinsamen Bündnissen gefordert – so zuletzt auch vom Bündnis
[4][#ErnährungswendeAnpacken]. Im Bündnis sind wir uns einig: Für eine
sozial gerechte Ernährungspolitik ist eine entsprechend gestaltete
Sozialpolitik unerlässlich. Dazu zählt zum Beispiel die angemessene
Anpassung der Sozialleistungen und der Kampf gegen den Niedriglohnsektor.
Gesundes, nachhaltiges Essen darf kein Privileg für Besserverdienende sein.
Es ist ein Recht für alle.
Sicher ist: Die Lebensmittelbesteuerung gehört auf den Prüfstand.
Richtschnur bieten könnte das sogenannte True Cost Accounting. Diese „wahre
Kostenrechnung“ berücksichtigt nicht nur die direkten Kosten, sondern auch
die gesamtgesellschaftlichen. Ökobilanzierungen ermitteln die Auswirkungen
auf Klima, Wasserverbrauch oder auch Biodiversität.
Die Ergebnisse könnten als Grundlage für eine Nachhaltigkeitssteuer dienen,
wie sie auch der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für
Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz empfiehlt.
Dabei sollten nicht nur Umweltaspekte berücksichtigt werden, sondern auch
Soziales, Gesundheit sowie Tierwohl. So könnte die derzeitige preisliche
Benachteiligung von gesunden und nachhaltigen Lebensmitteln vermindert
werden, da diese steuerlich entlastet würden.
Außerdem sollte ein verbindliches Nachhaltigkeitslabel für Lebensmittel
eingeführt werden – eines, das klar verständlich ist, wirklich Orientierung
bietet und wissenschaftlich belastbar ist. Eine Nachhaltigkeitssteuer und
ein verbindliches Nachhaltigkeitslabel würden den Anreiz für Unternehmen in
der Lebensmittelwirtschaft stärken, gesundheitsförderliche und
tierwohlgerechte Lebensmittel anzubieten. Denn wer will schon erkennbar als
Schlusslicht dastehen?
Was aber bringen alle diese Maßnahmen den Erzeuger:innen? Wie kommen sie zu
fairen Preisen für ihre Milch, ihr Getreide und ihr Fleisch? Kaum eine
Landwirtin oder ein Landwirt kann heute noch allein vom Verkauf der eigenen
Produkte leben. Zu 40 Prozent bestehen ihre Einkommen in Deutschland aus
staatlichen Subventionen. Die größten Gewinne werden entlang der
sogenannten Lebensmittelversorgungskette erzielt, also in der
Weiterverarbeitung und im Handel.
In der Getreideproduktion fließen beispielsweise weniger als 5 Prozent des
Endpreises an die Landwirt:innen zurück. Wer nachhaltigere
Bewirtschaftungsmethoden wählt, tut dies oft auf eigene Kosten. Gleiches
gilt beim Tierwohl. Gefragt ist hier eine andere Agrarpolitik: Öffentliche
Gelder gibt es für Leistungen, die der Gesellschaft dienen. Demnach wird
finanziell honoriert, wer diejenigen Produktionsmethoden wählt, die
umweltverträglich sind und die Artenvielfalt fördern.
## Özdemir muss nachlegen
Ein weiteres Instrument für fairere Erzeugerpreise ist die Europäische
Richtlinie zur Bekämpfung von unlauteren Handelspraktiken. Sie wurde in
Deutschland 2021 im „Agrarorganisationen-und-Lieferketten-Gesetz“
umgesetzt. Über eine eingerichtete Beschwerdestelle kann sich jetzt jeder
Betrieb in der Lebensmittelversorgungskette über unfaire Handelspraktiken
seines Käufers beschweren – auch Unternehmen außerhalb der EU. Ob sich das
bewährt, wird sich zeigen. Eine weitere Möglichkeit wäre eine
Preisbeobachtungsstelle, wie sie Frankreich und Spanien eingeführt haben.
Cem Özdemir hat den Stein erneut ins Wasser geworfen. Das ist gut so. Nun
muss er auch nachlegen. Die Zeit für eine Ernährungswende ist reif.
4 Feb 2022
## LINKS
[1] /Studie-zu-Kosten-von-Fleischkonsum/!5827963
[2] /Hoehere-Preise-fuer-Lebensmittel/!5817650
[3] https://www.slowfood.de/aktuelles/2020/eu-farm-to-fork-strategie-die-wichti…
[4] https://www.wwf.de/2021/november/ernaehrungswende-anpacken-aber-richtig
## AUTOREN
Christoph Heinrich
## TAGS
Cem Özdemir
Ernährung
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