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# taz.de -- Ernährungsarmut in Berlin: Die Kartoffeln bleiben liegen
> Armutsbetroffene können sich oft nicht ausgewogen ernähren. Auf einer
> Fachtagung wollen Experten und Betroffene diskutieren, was dagegen zu tun
> ist.
Bild: Viele Armutsbetroffene leiden an Ernährungsarmut – das kann auch die B…
Berlin taz | „Es kommen immer mehr Alte“, berichtet Uschi Sachs. Seit 13
Jahren verteilt sie Lebensmittel für die Berliner Tafel in der Neuköllner
Magdalenenkirche. Angesichts von steigenden Mieten und
Nahrungsmittelpreisen sähen sich immer mehr Menschen gezwungen, ihre Scham,
Hilfe zu suchen, zu überwinden, erzählt sie. Was Sachs in der Laib- und
Seele-Ausgabestation auch beobachtet: Häufiger bleiben jetzt Kartoffeln in
den Kisten liegen. Die ehrenamtliche Helferin mutmaßt, dass den Leuten
Strom und Gas abgestellt wurden – weshalb sie auch keine Kartoffeln mehr
kochen können.
Wenn sich Menschen aufgrund von Armutsbetroffenheit nicht gut und
ausgewogen ernähren können, wird dies als [1][Ernährungsarmut] bezeichnet.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundeslandwirtschaftsministeriums (WBAE)
ging 2023 davon aus, dass deutschlandweit etwa drei Millionen Menschen
gibt, die nicht genügend Geld haben für eine gute und ausreichende
Ernährung.
Um dem Problem der Ernährungsarmut entgegenzuwirken, findet am Freitag in
den Räumen der Diakonie eine Fachtagung statt. Eingeladen haben der
Ernährungsrat Berlin, die Nationale Armutskonferenz und das Deutsche
Institut für Menschenrechte. Neben Wissenschaft, Politik und Verbänden
werden auch Betroffene teilnehmen. Die Kooperation soll dazu beitragen, das
Thema endlich auf die politische Agenda zu setzen, erklärte Saskia Richartz
vom Ernährungsrat Berlin auf einer Pressekonferenz am Mittwoch.
Bereits im Vorfeld hatte Sabine Werth, die Gründerin der Berliner Tafel,
zur taz gesagt, sie überlege derzeit, vor das Bundesverfassungsgericht zu
ziehen, um das Menschenrecht auf angemessene Nahrung einzuklagen. Genau
dazu hat sich Deutschland nämlich vor über 50 Jahren [2][mit der
Unterzeichnung des UN-Sozialpakts] völkerrechtlich verpflichtet. Die Tafeln
seien kein Ersatz für rechtlich verbindliche Leistungen, betont Werth. Jede
öffentliche Förderung lehnt sie ab, um den Staat nicht aus der Pflicht zu
entlassen.
In Berlin gibt es 49 Laib- und Seele-Standorte der Tafel, wo 75.000
Menschen regelmäßig Lebensmittel abholen und dafür einen Euro zahlen.
Zugang haben nur diejenigen, die ihre Bedürftigkeit nachweisen können.
Darüber hinaus beliefert die Berliner Tafel regelmäßig 400 gemeinnützige
Organisationen mit gespendeten Lebensmitteln – vom Obdachlosenheim über
HIV-Hilfseinrichtungen bis zu Frauenhäusern.
## Die Bedarfssätze reichen nicht
Auch ein drängendes Thema der Fachtagung: die Bedarfssätze in Bürgergeld
und Grundsicherung. „Ich bin eine Betroffene. 5,74 Euro für einen
Erwachsenen reichen nicht aus, um damit eine abwechslungsreiche, vitamin-
und mineralreiche Ernährung zu gewährleisten“, sagt Renate Krause von der
Nationalen Armutskonferenz auf der Pressekonferenz.. Obst, Gemüse und Nüsse
sind teurer als hochkalorige Lebensmittel, die zwar satt machen, aber
ungesund sind.
Der Berufsverband der Kinder und Jugendärzt*innen beobachtet den engen
Zusammenhang von sozialer Herkunft und ernährungsbedingten Krankheiten.
„Was wir im Ernährungsbereich heute tun oder nicht tun, hat Konsequenzen
für die Zukunft der Gesellschaft“, fasst Michael Stiefel die Situation
zusammen, der selbst einmal obdachlos war und inzwischen Mitarbeiter der
Diakonie in Berlin ist. Übergewicht, Diabetes Typ-2 und
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die Folge. Die OECD geht davon aus, dass
schon heute jeder siebte Todesfall in Deutschland auf ungesunde Ernährung
zurückzuführen ist.
Ändern müsste sich vieles an vielen Stellen. Das reicht von Werbeverboten
für Zuckerzeug über andere Steuersätze bis hin zu öffentlichen Kantinen mit
gutem, bezahlbaren Essen. „Die Politik verortet das Problem fast
ausschließlich im globalen Süden. Ernährungsarmut in Deutschland ist
dagegen so gut wie kein Thema“, sagt Sarah Brand vom Deutschen Institut für
Menschenrechte. In der Ampelregierung hatte sich Landwirtschaftsminister
Cem Özdemir zwar im Rahmen der Ernährungsstrategie für konkrete Ziele und
Umsetzungsschritte gegen Ernährungsarmut eingesetzt. Doch das SPD-geführte
Bundessozialministerium sorgte dafür, dass im finalen Dokument fast nichts
davon auftauchte.
19 Feb 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Annette Jensen
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Ernährung
Armutsbekämpfung
Berliner Tafel
Grüne Woche
Ernährung
Hubertus Heil
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