# taz.de -- Urteil zu Hartz-IV-Sanktionen: Gericht setzt Grenzen | |
> Das Verfassungsgericht hält Kürzungen des Arbeitslosengelds zwar für | |
> zulässig, begrenzt die Sanktionen aber auf auf maximal 30 Prozent. | |
Bild: Die Richter kritisierten in ihrem Urteil die Rigidität der Hartz-IV-Sank… | |
KARLSRUHE taz | Wer als Arbeitsloser wiederholt ein Jobangebot oder eine | |
Maßnahme ablehnt, muss künftig nur noch mit einer 30-prozentigen Kürzung | |
der Hartz-IV-Leistungen rechnen. Die bisher vorgesehene [1][Kürzung um 60 | |
Prozent ist derzeit genauso verfassungswidrig wie die Totalstreichung der | |
Leistung]. Das hat an diesem Dienstag das Bundesverfassungsgericht | |
entschieden. (Az.: 1 BvL 7/16) | |
Wer länger als ein Jahr keine Arbeit hat, bekommt nur noch das | |
Arbeitslosengeld 2 (umgangssprachlich meist Hartz IV genannt). Es | |
orientiert sich nicht am früheren Lohn, sondern deckt lediglich das | |
Existenzminimum. Derzeit betragen die Leistungen für einen Alleinstehenden | |
424 Euro pro Monat, plus Kosten für Unterkunft und Heizung. Derzeit | |
empfangen knapp 6 Millionen Menschen in Deutschland Hartz-IV-Leistungen. | |
Das 2005 eingeführte Hartz-IV-Konzept „Fordern und Fördern“ sieht | |
Sanktionen vor, wenn ein Arbeitsloser ein Jobangebot oder eine | |
Fördermaßnahme ablehnt oder abbricht. Beim ersten Mal werden die Leistungen | |
um 30 Prozent gekürzt, beim zweiten Mal um 60 Prozent, bei weiterer | |
Weigerung entfällt die Leistung ganz. Die Sanktion dauert jeweils drei | |
Monate. | |
Das Sozialgericht Gotha hielt diese Sanktionsregelung für verfassungswidrig | |
und legte einen konkreten Fall in Karlsruhe vor. Das menschenwürdige | |
Existenzminimum müsse vom Staat gedeckt werden, deshalb sei eine Kürzung | |
dieser Leistungen auch bei einem Pflichtverstoß nicht möglich, so die | |
Thüringer Richter. | |
## Wer eigene finanzielle Mittel hat, muss sie einsetzen | |
Das Bundesverfassungsgericht entschied nun, dass das [2][menschenwürdige | |
Existenzminimum „einheitlich“ geschützt werde]. Die Kürzung könne also | |
nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass nur „Randbereiche“ des | |
Existenzminimums betroffen seien. Neben dem schieren Überleben werde | |
gleichwertig auch die soziale Teilhabe geschützt. | |
Kürzungen beim Existenzminimum seien aber grundsätzlich möglich, so die | |
Verfassungsrichter, weil der Staat bei der Umsetzung des „Schutzauftrags“ | |
für die Menschenwürde einen weiten Gestaltungsspielraum hat. So darf er die | |
Sicherung des Existenzminimums auf diejenigen beschränken, die „wirklich | |
bedürftig“ sind und sich nicht selbst helfen können. Wer eigene finanzielle | |
Mittel hat, muss diese zunächst einsetzen. Wer Arbeitsangebote bekommt, | |
muss diese im Rahmen seiner „Mitwirkungspflicht“ annehmen. | |
Zumutbar sei hier auch die Pflicht, eine Arbeit anzunehmen, die nicht dem | |
eigenen Berufswunsch und nicht der bisherigen Tätigkeit entspricht, so die | |
Verfassungsrichter. Auch die Teilnahme an Maßnahmen, die kein Einkommen | |
bringen, kann verlangt werden – wenn sie, wie zum Beispiel Sprachkurse, | |
geeignet sind, Vermittlungshemmnisse zu beseitigen. Unzumutbar seien aber | |
Maßnahmen, die nur der „Besserung“ oder „Erziehung“ der Arbeitslosen | |
dienen. | |
Diese Mitwirkungspflichten dürfen grundsätzlich auch mit Sanktionen | |
durchgesetzt werden, so Karlsruhe. Allerdings ist der Spielraum des | |
Gesetzgebers hier eng, weil es um das Existenzminimum geht. Hier müsse die | |
Verhältnismäßigkeit streng geprüft werden. | |
Demnach ist eine 30-prozentige Leistungskürzung noch verhältnismäßig. Der | |
Gesetzgeber dürfe sie für geeignet halten, Arbeitslose dazu zu bringen, an | |
der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit mitzuwirken, so die Richter. | |
## Keine Frist für die Neuregelung | |
Für die Erforderlichkeit einer 60-prozentigen Kürzung oder für die völlige | |
Streichung fehlten dagegen Forschungsergebnisse, die die Geeignetheit | |
belegen. Nach über zehn Jahren Hartz-IV-Geltung dürfe sich der Gesetzgeber | |
bei so massiven Sanktionen nicht mehr auf „plausible Annahmen“ verlassen. | |
Vor allem bei der Totalsanktion drohten negative Effekte wie Verlust der | |
Wohnung, Gesundheitsschäden, das Abgleiten in eine Schuldenspirale oder gar | |
in die Kriminalität. Die Möglichkeit, während der Sanktionszeit | |
„ergänzende“ Sachleistungen zu bekommen, genüge nicht, weil sie ins | |
Ermessen der Behörden gestellt ist. Als mildere Mittel kämen etwa die | |
Umstellung auf Sachleistungen oder eine längere Kürzung um 30 Prozent in | |
Betracht. | |
Generell kritisierten die Richter die Rigidität der Hartz-IV-Sanktionen. | |
Bisher sei es nicht möglich, außergewöhnliche Härten (etwa die Probleme von | |
psychisch Kranken) zu berücksichtigen. Auch die „starre“ dreimonatige Dauer | |
der Sanktionen sei unverhältnismäßig. Wenn eine Mitwirkungspflicht | |
nachträglich erfüllt wird, müsse dies zum Ende der Sanktionen führen. | |
Als Übergangsregelung gilt nun bis auf Weiteres, dass die Jobcenter als | |
Sanktion maximal 30 Prozent des ALG 2 kürzen können. Sie müssen außerdem | |
Härten berücksichtigen und die Sanktion beenden, sobald der Arbeitslose | |
seine Pflichten erfüllt. Das Gericht setzte keine Frist für eine | |
Neuregelung. | |
Der Gesetzgeber wird sich dennoch wohl bald mit dem | |
Hartz-IV-Sanktionssystem befassen müssen. Denn das Urteil der | |
Verfassungsrichter konnte anhand der Gothaer Vorlage zwei wichtige | |
Sanktionskonstellationen nicht behandeln: die 10-prozentige Kürzung der | |
Bezüge bei der Verletzung von Meldepflichten (darum geht es in 77 Prozent | |
aller Sanktionen) und die Möglichkeit, bei Menschen unter 25 Jahren schon | |
beim ersten Verstoß die gesamte Leistung zu kürzen. | |
5 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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