# taz.de -- Urteil zu Hartz IV-Sanktionen: Näher dran am Leben | |
> Es ist gut, dass die Hartz-IV-Sanktionen beschränkt werden. Die | |
> Sozialleistung ist ein Auffangnetz für die unterschiedlichen Schicksale. | |
Bild: Lebensmittelverteilung in der Kirchengemeinde „Dreifaltigkeit“ in Ber… | |
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Begrenzung der | |
Hartz-IV-Sanktionen ist erfreulich und fortschrittlich, und man merkt beim | |
Studium des über 70 Seiten langen Papiers [1][(AZ1BvL7/16),] dass die | |
RichterInnen bemüht waren, die alten Debatten über „Sozialmissbrauch“ | |
zumindest ansatzweise zu befrieden. | |
Das Verfassungsgericht hat entschieden, dass Sanktionen gegen | |
Hartz-IV-EmpfängerInnen in einer Höhe von 60 Prozent des Regelsatzes nicht | |
zumutbar seien, während eine Kürzung von 30 Prozent „nach derzeitigem | |
Kenntnisstand nicht zu beanstanden“ sei. Es ist nachvollziehbar, die | |
Sanktionsmöglichkeiten nicht völlig abzuschaffen. Es wäre kaum zu | |
vermitteln, wenn Leute jahrelang Hartz IV beziehen könnten, ohne jemals | |
beim Jobcenter vorsprechen zu müssen, während sich andere im ersten | |
Arbeitsmarkt abrackern, Steuern und Beiträge zahlen und schlechtbezahlte | |
Dienstleistungsjobs jahrzehntelang aushalten. | |
Eine Sanktion mit 30 Prozent bedeutet immer noch 127 Euro weniger im Monat. | |
Betroffene müssen sich in dieser Zeit fast ausschließlich von | |
Lebensmittelspenden der Tafel ernähren und häufen private Schulden an. Zu | |
begrüßen ist daher im Urteil die Vorgabe, dass die Minderung nicht mehr | |
„zwingend“ ist und SachbearbeiterInnen „außerordentliche Härten“ und | |
„erkennbare Ausnahmekonstellationen“ bei ihren KlientInnen berücksichtigen | |
sollen. Das heißt, die SachbearbeiterInnen im Jobcenter können zum Beispiel | |
auch von einer Kürzung absehen, wenn ein depressiver Hartz-IV-Empfänger | |
eine Trainingsmaßnahme nach einer Woche abbricht, weil er die Gruppe dort | |
nicht mehr aushält. | |
Die Sozialleistung ist ein Auffangnetz für die unterschiedlichsten | |
Menschen. Als Voraussetzung gilt ja nur, dass eine Arbeitslose oder ein | |
Arbeitsloser noch drei Stunden am Tag irgendwas arbeiten kann. Darunter | |
fallen Leute mit körperlichen und psychischen Erkrankungen, mit | |
Behinderungen, Alleinerziehende, Arbeitslose auf dem Land ohne Auto, | |
insolvente Ex-Kleinselbständige, Leute mit Fluchthintergrund, die kaum | |
Deutsch können, Ältere, KünstlerInnen, die gescheitert sind mit dem Versuch | |
der Freiberuflichkeit. | |
Hartz IV ist eine Arche Noah voller Menschen mit unterschiedlichsten | |
Schicksalen. Die meisten können nicht mithalten in der Erwerbsgesellschaft | |
– und natürlich gibt es auch jene, die aus den vielfältigsten Gründen immer | |
genau jene Angebote nicht wollen, die ihnen offenstünden. Um den | |
Unterschied zwischen nicht können und nicht wollen, zwischen | |
Hilfsbedürftigen und Vermeidern tobt seit jeher die Sozialstaatsdebatte. | |
Der Unterschied ist in der Praxis aber oft schwer zu definieren. | |
SachbearbeiterInnen sind damit im Grunde überfordert. Die RichterInnen | |
stellen in ihrem Urteil etwa fest, dass die einzelnen Jobcenter vor Ort | |
sehr unterschiedlich umgehen mit psychischen Störungen ihrer KlientInnen. | |
Das Urteil, dem ein Gesetz folgen wird, könnte beide Seiten entlasten: | |
SachbearbeiterInnen und deren KlientInnen. Möglicherweise wird es mehr | |
Hartz-IV-EmpfängerInnen geben, die [2][von den Jobcentern erst mal in Ruhe | |
gelassen] werden. Entscheidend ist nun, ob künftig bessere Bildungs- und | |
Beschäftigungsmaßnahmen angeboten werden, auf freiwilliger Basis, oder ob | |
eben einfach weniger passiert in den Jobcentern und mehr Arbeitslose | |
abhängig bleiben von einer Sozialleistung, deren Ausgestaltung stets auch | |
an der politischen Stimmungslage hängt. | |
Diese Stimmungslage schwankt. Denn es gibt ein Paradox in der | |
Sozialstaatsdebatte: Steigt die Zahl der Leistungsempfänger wie zu Zeiten | |
der Massenarbeitslosigkeit vor 15, 20 Jahren, dann wird gekürzt, obwohl | |
Stellensuchende es objektiv schwerer haben in solchen Zeiten. Derzeit ist | |
es anders: Es gibt mehr Joboptionen als vor 20 Jahren, und gleichzeitig | |
diskutiert die Politik über e[3][in bedingungsloses Grundeinkommen]. Die | |
Frage ist, was passiert, wenn sich die Wirtschaftsdaten wieder | |
verschlechtern. | |
8 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/1… | |
[2] /Urteil-zu-Hartz-IV-Sanktionen/!5635571 | |
[3] /Gericht-begrenzt-Hartz-IV-Sanktionen/!5635674 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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