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# taz.de -- Raphael Thelen über Aktivismus: „Es lohnt sich, groß zu träume…
> Als Journalist schrieb Raphael Thelen über Klima und war gut im Geschäft.
> 2023 entschied er sich dafür, Vollzeitaktivist der Letzten Generation zu
> werden.
Bild: „Alle, die das mit der Klimakrise verstehen wollten, haben es verstande…
wochentaz: Herr Thelen, vor einem Jahr haben Sie Ihre Journalismuskarriere
aufgegeben und sind Vollzeitaktivist der Letzten Generation geworden. War
das im Rückblick betrachtet der richtige Schritt?
Raphael Thelen: Persönlich fühlt es sich nach einer großen Befreiung an.
Ich kann jetzt tun und machen, was ich für richtig halte. Wenn ich
zurückspringen könnte, würde ich die Entscheidung wieder so treffen.
Politisch aber hat sich die Situation für den Klimaschutz verschlechtert.
Für die Erreichung der Klimaziele läuft die Zeit davon, es gab die
[1][Debatte um das Heizungsgesetz] und auch die Letzte Generation selbst
ist für viele zum Hassobjekt geworden. Erfolgreich war das Jahr doch nicht?
Was mir das Jahr gezeigt hat, ist, dass es in diesem politischen System
wenig um Moral, um Mehrheiten, um Wissenschaft geht. All das ist so klar
auf einer Seite, trotzdem wird nicht entsprechend gehandelt. Stattdessen
geht es um Macht. Ein zumindest halbwegs ambitioniertes Heizungsgesetz
konnte von rechts so zerschossen werden, dass es einfach verschwindet und
die Parteien dann sagen, wir machen jetzt für ein Jahr keine Klimapolitik
mehr.
Die Gesellschaft hat sich, nicht nur, aber auch beim Klimaschutz
polarisiert.
Ich glaube aber, das hat auch etwas Gutes nach diesen bleiernen Jahren, in
denen gar keine Politik gemacht wurde, weil alle sich so bequem in der
Mitte eingerichtet hatten. Wir haben jetzt wieder mehr politische Energie
im Land, wie man auch bei den 300.000 Menschen vor dem Bundestag gegen die
AfD sieht. Die Letzte Generation hat daran ihren Teil, weil wir gezeigt
haben, dass man Politik nicht nur aus Eigeninteresse machen kann.
Sind Sie nicht trotzdem persönlich desillusioniert? Die Letzte Generation
hat immer kommuniziert, dass ihr Widerstand kurz vorm Erfolg, dem „sozialen
Kipppunkt“ für eine ganze andere Politik steht.
Dieses Framing habe ich schon auch für sehr ambitioniert gehalten. Es gibt
nicht die eine Handlung oder Strategie, die dann das eine gewünschte
Ergebnis zur Folge hat. Die Klimabewegung und auch die Letzte Generation
vergessen zu oft, dass Gesellschaften komplexe Systeme sind, keine
Maschinen, wo man A macht und dann B passiert. Wir stellen mit unseren
Aktionen die Klimafrage auf fundamentale Weise, und der Weltklimarat IPCC
sagt, „es braucht einen umfassenden, nie dagewesenen Wandel in allen
Sektoren der Gesellschaft“, letztlich also eine Revolution. Die Alternative
dazu ist der Kollaps.
Ohne Revolution geht es nicht?
Das Wort würde ich streichen.
Ohne Überwindung eines durch Wachstum getriebenen Kapitalismus …
… Kapitalismus würde ich nicht sagen.
Warum?
Es sind Wörter, die so viel kaputt machen, die so belastet sind. Aber eine
Wirtschaft, die darauf basiert, unseren Planeten zu zerstören und Menschen
auszubeuten, funktioniert halt nicht mehr.
Was war prägend im vergangenen Jahr?
Die erste Blockade im Januar auf der Fischerinsel in Berlin. Das geile
Gefühl: Ich mache jetzt nicht mehr mit. Das andere war, als ich die zweite
Massenblockade am Großen Stern moderiert habe. Da dachte ich, das, was wir
hier unter dem Namen Klima machen, ist derselbe Kampf, den Menschen seit
Jahrtausenden führen: Bauern gegen Aristokratie, Sklaven gegen Weiße,
Frauen gegen Männer – und jetzt ist es der Kampf um Klimagerechtigkeit. Zu
verstehen, dass ich Teil von etwas Größerem bin, hat mich auch ruhiger
werden lassen.
Widerspricht das nicht der Erzählung der Klimabewegungen, dass man nur noch
so wenig Zeit hat für die Rettung?
Das ist und bleibt physikalisch richtig. Aber wer weiß, ob sich die
Klimakrise nicht schon verselbstständigt hat, und ob wir das überhaupt noch
aufhalten können. Gleichzeitig ändert das nichts daran, dass wir jetzt den
Menschen, die diese Katastrophe verschuldet haben und von ihr profitieren,
ihr Geld wegnehmen müssen, um damit die entstehenden Schäden und das
entstehende Leid auszugleichen.
Es geht also um Gerechtigkeit.
Ja. Ich will, dass es den Menschen gut geht, die in Ostafrika hungern, in
Bangladesch oder im Ahrtal weggespült werden. Und ich will, dass diese
Firmenbosse oder Politiker, die das alles vor 40 Jahren schon wussten, vor
Gericht gezerrt werden. Da ist riesiges Unrecht geschehen. Die wussten das
alles, haben es trotzdem gemacht und machen es bis heute. Und ich will,
dass das aufhört.
Und deswegen [2][blockiert die Letzte Generation jetzt auch nicht mehr
Straßen], sondern konfrontiert die Verantwortlichen der Klimakrise?
Ich glaube, alle in Deutschland, die das mit der Klimakrise verstehen
wollten, haben es verstanden. Deswegen ist diese Feueralarmfunktion der
Letzten Generation jetzt auch nicht mehr notwendig. Christian Lindner oder
Friedrich Merz wissen das alles mit der Klimakrise und entscheiden sich
trotzdem, sie weiter zu befeuern, für ihre eigene Macht und das Geld ihrer
Freunde. Und deswegen müssen wir hingehen und diese Leute konfrontieren.
Sie waren als Journalist gut im Geschäft. Hatten Sie keine Angst vor den
Konsequenzen, vor einem Verlust Ihrer gesellschaftlichen Stellung?
Als ich den Schritt gemacht habe, habe ich fast nur gute Reaktionen
bekommen. Aber er hatte auch Konsequenzen, vor allem finanziell. Ich habe
parallel zum Journalismus als Speaker auf Bühnen gesprochen, mit Tagesgagen
bis zu 3.500 Euro. Diese Jobs bekomme ich nicht mehr, oft mit direktem
Verweis auf die Letzte Generation. Gerade habe ich Bürgergeld beantragt.
Können Sie Ihren Aktivismus damit weiter finanzieren?
Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Wir hatten nie Geld. Irgendwann wurde
das Haus, von dem meine Eltern immer geträumt hatten, das mein Vater dann
selbst gebaut hat, zwangsversteigert. Über fünf Millionen Menschen in
Deutschland leben von Bürgergeld. Warum sollte ich so nicht weiter
Aktivismus machen können?
Wissen Sie, wie viele Anzeigen Sie gesammelt haben?
Ich glaube, ich habe für sieben Verfahren Ordner auf meinem Laptop
angelegt. Aber es sind sicherlich nochmal sieben oder zehn mehr, für die
ich noch keinen Strafbefehl bekommen habe.
Macht Ihnen das Angst?
Mit meinen Mitbewohnern musste ich schon über die Gefahr von
Hausdurchsuchungen reden, das trifft mich in meinem persönlichen Raum. Ein
paar tausend Euro Geldstrafe lassen sich noch zusammenbekommen, aber klar
habe ich Schiss vor dem Knast. So wie die Urteile ausfallen, ist es nicht
unrealistisch, dass mich ein Gericht für zwei bis acht Monate ins Gefängnis
schickt. Aber die Alternative kann nicht sein, nichts zu tun. Ich würde
mich schlechter fühlen, wenn ich jetzt weiter für den Spiegel arbeiten
würde.
Sie haben sich mit einer großen Kritik am Journalismus verabschiedet.
Ursprünglich ging es mir nur um den Klimajournalismus. Mittlerweile ist
meine Kritik fundamentaler. Im Grunde wird im Journalismus nur über zwei
Dinge berichtet: Konflikte und Ereignisse, die Angst machen. Unser
öffentliche Raum ist von Angst und Aggression gesättigt. Das ist auch ein
Problem in der Klimakrise, denn wir haben die Lösungen, wir könnten was
reißen. Der Journalismus ist in Deutschland aber, und das habe ich erst
spät verstanden, eine beharrende, also konservative Kraft. Dabei sollte er
aufrütteln.
War Journalismus für Sie zugleich Aktivismus?
Ich habe es immer so verstanden, dass man sich für die Schwachen einsetzt
und für Gerechtigkeit. Und wegen dieser Auffassung bin ich auch angeeckt.
Den großen Redaktionen war ich oft ein bisschen verdächtig, und deshalb war
das für mich auch immer anstrengend, weil ich nur 70 Prozent von dem, was
ich denke, sagen konnte.
Sie beschreiben auf Ihrer Website, wie Sie an Bord eines
Flüchtlingsrettungsschiffes im Mittelmeer nicht mehr mit dem Block in der
Hand nur daneben stehen wollten.
Ich konnte nicht Leute ertrinken lassen und dabei zuschauen. Das wurde
damals von der Redaktion auch akzeptiert. In der Klimafrage befinden wir
uns jetzt in der gleichen Situation. Wollen wir die rettende Hand zum
Globalen Süden ausstrecken und auch uns retten oder nicht? Wenn ich aber in
diese Richtung geschrieben habe, hieß es, das sei nicht objektiv. Wie
behämmert ist das denn?
Waren Sie schon in der Jugend politisch aktiv?
Das klingt ja, als wäre es verwerflich.
Ich bin nicht von der Zeit oder dem Spiegel.
Mit 18 bin ich bei einem Neonazi-Aufmarsch bei uns in Bonn mit meinem
Bruder stundenlang durch Vorgärten und über Zäune geklettert, um auf die
für die Nazis abgesperrte Route zu kommen und zu blockieren. Zum Schluss
saßen wir beide einen Tag im Knast, weil es uns gelungen war.
Vor dem Klimathema haben Sie sich vor allem mit der extremen Rechten
beschäftigt.
Als ich damals zum ersten Mal eher zufällig bei Pegida in Dresden war, habe
ich in mein Tagebuch geschrieben, dass es denen nicht nur um Geflüchtete
geht, sondern auch um mich und alle meine Freund:innen. Damals wollte ich
verstehen, wo kommen diese ganzen Leute, diese Wut, dieser Hass her. Und
ich hatte noch geglaubt, dass darüber zu schreiben ausreicht, damit das
wieder weggeht.
Und als Sie später das Klima verstehen wollten, sind Sie für ein
Buchprojekt mit Ihrer damaligen Partnerin zu einer Weltreise durch die
Klimazonen aufgebrochen.
Der Gedanke war: Was kann man für eine Recherche machen, die in ihrer Größe
der Klimakrise angemessen ist? Der wahnsinnige Plan war, von Südafrika über
Land bis in die Arktis zu reisen. Durch Corona aber mussten wir früher
zurück, hatten dann vier Monate auf dem Land in einer Community gelebt. Da
habe ich verstanden, dass mein Karrierejournalismus letztlich das kleinste
Rad in dieser großen Maschine ist, die den Planeten zerstört. Da bin ich
rausgekippt aus der Welt, die nur auf höher, schneller, weiter aus ist.
Nach dem Jahr mit der Letzten Generation wenden Sie sich jetzt mit dem
„Projekt Menschlichkeit“ der Demokratiefrage zu. Wieso?
Es wird keine Demokratie mehr auf einem toten Planeten geben oder wenn sich
die AfD durchsetzt. Schon jetzt ist unsere Demokratie gehackt. Politik wird
nicht für die Mehrheit gemacht, die Macht liegt bei Konzernen, der
Springer-Presse, deren größter Anteilseigner KKR massiv in fossile Energien
investiert. Milliardäre werden reicher und Lobbyisten einflussreicher,
während das Bürgergeld von der Inflation aufgefressen wird, und zehn
Millionen Zugewanderte gar nicht wählen dürfen. Und weil sich das ganze
repräsentative System so festgefahren hat, schaffen wir es auch nicht, die
großen Lösungen zu bauen, die die Klimakrise bräuchte. Deswegen wollen wir
Formate finden, eine Bewegung schaffen, in die Menschen mit ihrem Frust
reingehen können.
Wie soll das aussehen?
Ich verstehe die wachsende Wut vieler Menschen auch als Willen zu mehr
Selbstbestimmung. Wir organisieren lokale Versammlungen, in denen wir die
Frage stellen: Wie wollen wir zusammenleben? Danach kann man eine Petition
schreiben, Bäume pflanzen oder man geht zum Bürgermeister und bleibt da so
lange, bis der mit uns spricht, oder bleibt auch da, wenn er das nicht
will. Und wenn man das an 100 Orten gleichzeitig macht, ist die Hoffnung,
dass sich zeigt, dass es überall ähnliche Probleme gibt, versteht, dass es
sich um ein systemisches Problem handelt.
Und dann?
Dann reden wir hoffentlich auch auf Bundesebene über Macht, darüber, dass
unser demokratisches System unsere Interessen nicht mehr abbildet, darüber,
einen ständigen Bürgerrat zu bauen und unsere Demokratie demokratischer zu
machen. Wir starten gerade einen Wettbewerb für Verfassungsrechtler:innen,
um ein Verfassungs-Update zu schreiben, das mehr Mitbestimmung ermöglicht.
Ist das nicht die noch utopischere Aufgabe, als sich für eine adäquate
Reaktion auf die Klimakrise einzusetzen?
Es gibt in progressiven Kreisen so eine Geschichtsvergessenheit, als wären
all die gesellschaftlichen Errungenschaften schon immer da gewesen. Aber
die wurden alle irgendwann erkämpft. Wer sagt denn, dass unser
Wirtschaftssystem nicht bald schon wieder zusammenbricht, wie 2008, und
plötzlich die riesige Chance da ist, ganz, ganz viel ganz schnell zu
verändern? Es lohnt sich, groß zu träumen.
24 Feb 2024
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## AUTOREN
Erik Peter
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