| # taz.de -- Der Schuster vom Kottbusser Tor: „Das geht auf die Pumpe“ | |
| > Ibrahim Contur hat seit 30 Jahren seine Schusterei am Kotti in Berlin. So | |
| > hat er auch die Veränderungen im Kreuzberger Kiez mitbekommen. | |
| Bild: Ibrahim Contur in seiner Schuhwerkstatt am Kottbusser Tor | |
| Samstags soll ich kommen, sagt mir Schuster Ibrahim Contur am Telefon, am | |
| besten vor eins, denn dann schläft seine Kundschaft noch. Sein | |
| winzigkleiner Laden „I love shoes“ liegt in einem riesigen Gebäudekomplex | |
| aus den 70er Jahren. Über die Jahre hat sich das „Zentrum Kreuzberg“ am | |
| [1][Kottbusser Tor] als Brennpunkt und Hotspot der Berliner Drogenszene | |
| einen Namen gemacht, trotz der im letzten Jahr eingerichteten Polizeiwache | |
| [2][steigt die Kriminalitätsrate weiter]. Als ich gegen zwölf aus der | |
| U-Bahn auf den Platz trete, ist kaum was los. In der Schusterei von Ibrahim | |
| Contur herrscht dagegen schon Hochbetrieb. In Windeseile holt er einen | |
| Schuh nach dem anderen aus einer Kiste, um die geklebten Sohlen zu | |
| schleifen und zu polieren. Sohlenränder bekommen neue Farbe, und auch das | |
| Leder wird gefärbt, gefettet und gebürstet, bis alles in neuem Glanz | |
| erstrahlt. | |
| wochentaz: Herr Contur, vor fast zwanzig Jahren war die taz [3][schon | |
| einmal hier]. Damals sagten Sie, dass Sie bald samstags nicht mehr arbeiten | |
| würden … | |
| Ibrahim Contur: Tja, hat leider nicht geklappt. Ich habe zu viel Arbeit. | |
| Viele Kunden haben auch nur samstags Zeit, um hierher zu kommen. Und auf | |
| das Geld kann ich nicht verzichten. Die Ladenmiete ist zwar nach wie vor | |
| recht günstig hier, aber die Einnahmen sind immer noch nicht auf | |
| Vorpandemieniveau. Als Letzter in der Nahrungskette hab ich die | |
| [4][Pandemie] ganz schön zu spüren bekommen. Ich durfte meinen Laden zwar | |
| offen halten, aber im Home Office läuft man halt keine Sohlen ab … | |
| „Abgelaufen“, so hieß Ihr Laden früher mal. | |
| Ja, das war eine Idee von den Betreibern der Bar gegenüber, „Möbel Olfe“. | |
| Ich hab ja 1994 den Laden von meinem Vater übernommen, damals hieß das hier | |
| einfach nur „Schuh- und Schlüsseldienst“, so wie überall. Als ich dann 20… | |
| von dem Ladenraum da drüben in diesen hier gezogen bin, wollte ich einen | |
| richtigen Namen. Und Wolfgang und Richard haben dann eine Namensaktion in | |
| ihrer Bar gestartet, und die kamen auf „Abgelaufen“. Aber dann kam ein paar | |
| Jahre später eine Kundin zu mir, die Katharina, und hat mir gesagt: | |
| „Abgelaufen, das bist du nicht.“ Weil das klingt zu negativ. Ja, und die | |
| Katharina arbeitet in der Werbebranche, mit so ganz großen Kunden, und die | |
| hat nach einem neuen Namen gesucht. Und da kam dann „I love shoes“ raus. | |
| Katharina hat mir das Logo gemacht, für die Webseite, Plakate und die | |
| T-Shirts, ich hab sogar ein Patent darauf eintragen lassen. Das war 2004. | |
| Was genau lieben Sie an Schuhen? | |
| Ich mag vor allem die Arbeit daran, also, dass ich mit meinen Händen etwas | |
| Kaputtes wieder neu machen kann. Das zu sehen, macht mich glücklich. | |
| Wahrscheinlich hätte ich auch etwas anderes reparieren können, Möbel oder | |
| so. Dass ich hier gelandet bin, liegt an meinem Vater. Der war eigentlich | |
| kein Schuster, sondern Maßschneider. Er ist als Gastarbeiter nach Berlin | |
| gekommen, meine Familie kommt aus der Türkei, aus einem Dorf an der | |
| ägäischen Küste. Mein Vater war erst in einer Fabrik beschäftigt. Dann hat | |
| er bei Mister Minit gearbeitet, um das Schusterhandwerk zu lernen. 1986 hat | |
| er seinen eigenen Laden aufgemacht, hier am Kotti. | |
| Sie waren damals zwölf und sind ihm zur Hand gegangen. Freiwillig?! | |
| (lacht) Manchmal ja, manchmal nicht. Ich war vor der Schule und nach der | |
| Schule hier, Spaß hat das nicht immer gemacht. Aber heute bin ich ihm | |
| dankbar dafür. Ich habe nach der Schule verschiedene Berufe gelernt und | |
| ausprobiert, hat aber alles nicht geklappt. Da war es gut, dass ich das | |
| hier übernehmen konnte. | |
| Der „Kotti“ war in den 1986er Jahren sicher nicht das, was er heute ist, | |
| oder? | |
| Nee, hier hat sich alles verändert. In den 80er Jahren, da standen vorne | |
| bei dem Obststand die Punks, die haben da den ganzen Tag getrunken. Ich | |
| habe mich damals als Kind immer gewundert, warum da Bananenkisten an der | |
| Ecke standen, und dann habe ich gesehen, dass die darin ihre Flaschen | |
| gesammelt haben, die Stadtreinigung musste dann nur kurz halten und das | |
| mitnehmen. Da gab es noch einen Ehrenkodex. Die haben Fahrräder auch nicht | |
| im Kiez geklaut, die haben die hier nur verkauft. Das ist heute anders. | |
| Durch die [5][Drogenkriminalität] ist hier nichts mehr sicher. Zu mir | |
| kommen die nicht, ich hab nichts, was die brauchen. Aber natürlich kriege | |
| ich das alles mit. Neulich ist einer an meinem Laden vorbeigegangen und hat | |
| sich im Gehen einen Schuss gesetzt. Die Spritzen liegen überall rum, die | |
| Typen rasten aus. Und ich muss mir jedes Mal überlegen, ob ich eingreifen | |
| soll. Das ist gefährlich, diese Typen haben nichts zu verlieren. Die neue | |
| Polizeiwache hat daran auch nichts geändert. Hier gegenüber haben sie | |
| seitdem zweimal eingebrochen. | |
| Gleichzeitig ist Kreuzberg aber auch zu einem gefragten Viertel avanciert. | |
| Der [6][Quadratmeterpreis in dieser Gegend] geht bei 5.500 Euro los. Hier | |
| eine bezahlbare Mietwohnung zu finden, ist ein Ding der Unmöglichkeit. | |
| Merken Sie das auch an Ihrer Klientel? | |
| Ja, natürlich. Es sind jetzt viel mehr akademische Leute hier, viele kommen | |
| auch aus anderen Ländern, die bleiben oft nur ein, zwei Jahre und sind dann | |
| wieder weg. Viele schicken mir auch erst eine E-Mail mit Fotos, um zu | |
| gucken, ob sich der Weg hierher lohnt. Das gab’s früher nicht. Seit fünf | |
| Jahren muss ich hier im Laden auch Englisch sprechen. Am Anfang habe ich | |
| mir da mit dem Google-Übersetzer geholfen, oder jemand hat für mich | |
| übersetzt. Mittlerweile kann ich mich ganz gut verständigen. (grinst) Und | |
| das, obwohl ich früher in der Schule gar nicht gut in Englisch war. | |
| Was ist mit den Schuhen, haben die sich auch verändert? | |
| Die Qualität ist schlechter geworden. Die Schuhe werden immer billiger | |
| gefertigt. Bei den niedrigen Neupreisen lohnt es sich oft gar nicht, die zu | |
| reparieren. Meine Arbeit kostet ja immer gleich, egal, ob es sich nun um | |
| ein Paar Designerschuhe oder Billigschuhe handelt. Der einzige Unterschied | |
| ist für mich, dass ich für Billigschuhe viel länger brauche. | |
| Sie haben mal gesagt, dass Sie von den Schuhen auf Ihre Besitzer schließen | |
| können. | |
| Ja, das stimmt. Zum Beispiel kann ich an den Schuhen erkennen, ob jemand | |
| Fahrrad fährt, je nach dem, mit welchem Fuß er anhält, gibt es an dem | |
| rechten oder linken Schuh einen Knick im Leder. Und ich kann auch sagen, ob | |
| jemand vegan ist. Die haben dann Schuhe aus nichttierischem Kunstleder. Das | |
| gibt es hier jetzt immer mehr. Ein Problem für mich, denn dafür kriege ich | |
| oft kein Ersatzmaterial, der Kunde will aber nur das. | |
| Stimmt es immer noch, dass Deutsche ihre Schuhe eher reparieren lassen als | |
| Leute mit türkischem Background? | |
| Das ist nach wie vor so. Keine Ahnung, woran das liegt, aber türkische | |
| Leute kaufen sich eher neue Schuhe, als dass sie was reparieren lassen. | |
| Wobei die junge Generation da etwas anders ist. Die stehen dafür oft auf | |
| teure Marken. | |
| Die Ladentür öffnet sich, ein Mann mit Glatze und einer teuren Sportjacke | |
| tritt ein. Contur empfängt ihn mit einem Lächeln und der Frage „Wieder ein | |
| Projekt?“ – Um ein Projekt scheint es sich tatsächlich zu handeln. Denn die | |
| Schuhe, die der Kunde auf den Tresen stellt, müssen nicht repariert werden, | |
| Contur soll die Form verändern, indem er die Spitze vorne abrundet. Nach | |
| einer Diskussion – Contur erklärt, dass man den teuren Schuhen damit | |
| schaden könnte, der Kunde aber insistiert – nimmt Contur den Auftrag an. | |
| Der Kunde geht. Contur erklärt: | |
| Der ist ein Landsmann. Zahnarzt. Hat er mir in einem Nebensatz gesagt. Auf | |
| Türkisch. | |
| Was will er damit sagen? Dass er nur selten schwarzen Schuhe trägt oder so | |
| viel Kohle hat, dass er sich einfach neue kaufen kann? | |
| Nein. Leute, die einen technischen Beruf gelernt haben, haben eine komplett | |
| andere Sicht auf den Schuh, eine dreidimensionale Sicht. Das ist auch bei | |
| Grafikern und Designern so, die haben eine ganz klare Vorstellung, wie der | |
| Schuh auszusehen hat. Ich kann das gar nicht sehen. Aber ich muss mit dem | |
| Kunden empathieren, mich in ihn hineinversetzen. Bei dem da habe ich sofort | |
| gemerkt: dem sind seine Schuhe sehr wichtig, denn er hat für sie einen | |
| extra Schuhsack. Er fragt höflich, ob er sie auf den Tresen stellen darf, | |
| achtet also auf Umgangsformen. Und wie der auf meine dreckigen Finger | |
| geguckt hat, musste ich mir auch überlegen, ob ich mir nicht besser | |
| Handschuhe anziehen sollte. | |
| Haben Sie oft mit solchen Spezialkunden zu tun? | |
| Sehr oft sogar. Hier, zum Beispiel, das sind teure Valentino-Schuhe, ganz | |
| typisch mit vielen Nieten drauf. Und die soll ich jetzt alle rausnehmen, | |
| weil dem Kunden das nicht mehr gefällt. Oder neulich kam eine Kundin mit | |
| Plateauschuhen, da sollte ich das Plateau abnehmen. Ich hab der geraten, | |
| sich neue Schuhe zu kaufen, aber sie meinte, die passen so gut, sie will | |
| die. Also mache ich das. Manche Leute haben Macken, aber das muss man | |
| respektieren. Man muss loslassen können. | |
| Aber geht das nicht gegen Ihre Handwerkerehre? | |
| Ein Freund von mir, ein Deutscher, hat immer gesagt, du hast zwei | |
| Krankheiten, Ibo, du hast ein Helfersyndrom und du kannst nicht Nein sagen. | |
| Er hat recht. | |
| Das lässt sich auch an den Bergen von Schuhen erkennen, die Sie hier im | |
| Akkordtempo reparieren. Ständig werden Sie von Kund:innen unterbrochen, | |
| für jede:n nehmen Sie sich Zeit, wägen Sohlenart und -farbe ab, | |
| diskutieren Reparaturmethoden. Und bei all dem Stress strahlen Sie über das | |
| ganze Gesicht. Wie machen Sie das?! | |
| Na ja, auf Dauer geht das schon ganz schön auf die Pumpe. Ich habe gemerkt, | |
| dass ich runterfahren muss. Es war schwer, das im Kopf zu entscheiden, aber | |
| ich habe das jetzt geschafft. Ich sage den Leuten jetzt, dass es länger | |
| dauern kann, manche Aufträge nehme ich auch nicht mehr an. Vintage-Schuhe | |
| zum Beispiel, die sind jetzt sehr in Mode. Aber bei den alten Materialien | |
| haften die heutigen Kleber oft nicht. Da arbeite ich oft Stunden, und es | |
| wird trotzdem nichts. Dem Kunden kann ich aber auch kein Geld abnehmen. | |
| Das Essen, das Ihnen Ihre Tochter gebracht hat, haben Sie immer noch nicht | |
| angerührt. | |
| Zuerst kommt der Schuh und dann ich. (lacht) Nee, im Ernst, wenn ich bei | |
| meinen Schuhen bin, dann bin ich weg. Meine Frau würde mich niemals | |
| anrufen, außer vielleicht im Notfall. Und auch das Essen muss warten. | |
| Aber machen Sie denn gar keine Pause? | |
| Doch, gleich gehe ich runter in den Keller zum Beten. Auf der Uhr da sehe | |
| ich, wie lange ich noch Zeit für das nächste Gebet habe. Diese zehn Minuten | |
| Gebet geben mir neue Kraft. Das ist wie eine Meditation für mich. Andere | |
| machen Feldenkrais, ich mach das. | |
| Und so geht es den ganzen Tag, 12, 13 Stunden lang … | |
| Ich stehe meist um sieben auf. Mein Sohn hat eine Gehbehinderung, da warte | |
| ich, bis er um acht vom Fahrdienst abgeholt wird. Um neun bin ich hier. | |
| Erst arbeite ich unten, und ab elf hier oben im Laden, das geht bis sieben. | |
| Dann gehe ich oft noch mal runter in die Werkstatt, bis neun oder zehn. Am | |
| Montag ist hier oben zu, da mache ich einen Werkstatttag, da habe ich dann | |
| auch Hilfe. | |
| Wieder geht die Ladentür. Diesmal kommt jedoch kein Kunde rein, sondern ein | |
| Freund. Er kommt, um „Ibo“ Hallo zu sagen, sich ein wenig auf den Stuhl in | |
| dem engen Raum vor dem Tresen zu setzen, einen Tee zu trinken und mit dem | |
| Schuster zu quatschen. Der Besucher mit dem Berliner Akzent ist dafür extra | |
| aus dem Süden Berlins angereist, er kennt Contur, seit sie kleine Jungen | |
| sind. Auch sein Vater hatte hier früher mal ein Geschäft. Der Mann bleibt | |
| eine halbe Stunde, dann ist er wieder weg. | |
| Reden Sie hier auch manchmal über Politik? | |
| Nein, hier reden wir über Schuhe. Es kommt vor, dass mich jemand was fragt, | |
| zum Beispiel, was ich über die AfD denke, dann sage ich meine Meinung. Wenn | |
| diese Politikmacher an die Regierung kommen, dann heißt das, dass die | |
| Mehrheit so denkt, [7][dann gehe ich weg]. Wir als Ausländer haben ja noch | |
| eine zweite Anmeldung. Ich habe meine Kinder auch so erzogen, dass sie | |
| wissen, wer sie sind, also woher sie kommen und was ihr Glaube ist. Aber | |
| ich habe ihnen auch beigebracht, wo sie leben. Was in der Türkei normal | |
| ist, geht hier nicht, und umgekehrt. Zum Beispiel darf man in der Türkei | |
| nicht einfach über eine Straße gehen. Da hält keiner an, die überfahren | |
| einen einfach. | |
| Im Gegensatz zu Ihren vier Kindern haben Sie keinen deutschen Pass. Sie | |
| reden von sich als Ausländer, dabei sind Sie doch hier geboren, haben immer | |
| hier und nie in der Türkei gelebt. | |
| Ja, ich habe mir hier etwas aufgebaut, ich zahle hier Steuern. Natürlich | |
| würde ich das nicht einfach aufgeben. Ich würde vorher [8][auf die Straße | |
| gehen], mir einen Anwalt nehmen oder mit den anderen Politikern reden. Aber | |
| wenn das nicht funktioniert, dann gehe ich. | |
| Aber wäre es nicht trotzdem sinnvoll, einen deutschen Pass zu haben? | |
| Wieso? Schwarze Haare habe ich immer noch. | |
| Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, mit Ihrem Laden vom Kotti | |
| wegzuziehen? | |
| Nein. Ich bin jetzt schon fast vierzig Jahre hier, dieses Jahr werde ich | |
| fünfzig. Je nach dem, wie meine Knochen mitmachen, bleibe ich vielleicht | |
| noch zehn Jahre. Mehr schaffe ich, glaube ich, nicht. | |
| Und was wird dann aus Ihrem Laden und Ihren Kunden? Manche kommen sogar aus | |
| anderen Städten angereist, um Ihnen ihr Schuhwerk anzuvertrauen. | |
| Nichts. Meine Kinder haben andere Pläne, meine beiden älteren Töchter sind | |
| Erzieherinnen, meine dritte Tochter wird jetzt studieren und mein Sohn | |
| macht eine Ausbildung. Gesellen ausbilden kann ich nicht, denn ich habe | |
| keinen Meistertitel. Sowieso ist es schwer, Nachwuchs zu bekommen, Leute | |
| wie mich gibt es nicht so viele. Der große Stress, der ganze Dreck, der | |
| Fußschweiß, das macht mir alles nichts aus. | |
| 4 Mar 2024 | |
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