# taz.de -- Fossile Politik: Die Erdgas-Connection | |
> Seit der Wiedervereinigung hat Deutschland den Import von | |
> klimaschädlichem Erdgas verdoppelt. Ein Blick auf die Machenschaften der | |
> Lobbys. | |
Bild: Etwa die Hälfte der deutschen Haushalte heizt mit klimaschädlichem Gas | |
BERLIN taz | Tim Kehler ist Geschäftsführer von Zukunft Gas – und damit | |
oberster Lobbyist der deutschen Erdgasbranche. In dem Verein sind die | |
großen Energiekonzerne Mitglied: Shell, Total, Wintershall Dea, Evonik, | |
EnBW, Equinor, Uniper oder die Gazprom-Tochter Wingas. Auch 70 deutsche | |
Stadtwerke zahlen Mitgliedsbeitrag. | |
„Deutschland dürfte in diesem Jahr insgesamt 217 Millionen Tonnen | |
Kohlendioxid ausstoßen, ohne das Weltklima zu gefährden. Doch diese Menge | |
wurde bereits bis zum 28. März verbraucht“, sagte Timm Kehler 2018. Damit | |
war das deutsche Restbudget knapp eine Woche früher aufgebraucht als im | |
Vorjahr. „Jedes eingesparte Gramm zählt“, sagte Kehler. „Denn jede | |
Zielverfehlung heute müssen wir morgen mit doppelter Anstrengung aufholen.“ | |
Der Gaslobbyist rief alljährlich nicht nur den „Aktionstag CO2“ aus – ge… | |
am deutschen „Restbudget“-Tag. | |
Mit Aktionen wie „Jedes Gramm zählt“ hat Zukunft Gas der Öffentlichkeit | |
eingeredet, Gas sei klimaschonend. Dabei können Erdgaskraftwerke in der | |
Bilanz sogar klimaschädlicher als Kohleblöcke sein. Das | |
Bundesumweltministerium stellte fest, flüssiges LNG, also mit dem Schiff | |
angeliefertes Erdgas, bringe „im Vergleich zur Kohle in der Regel keine | |
Treibhausgasminderung mit sich“. Und doch lässt ausgerechnet das grün | |
geführte Wirtschafts- und Klimaschutzministerium jetzt neue Infrastruktur | |
für genau dieses flüssige LNG in Deutschland errichten. | |
Um LNG herzustellen, wird sehr viel Energie eingesetzt: Zunächst muss das | |
geförderte Erdgas auf unter minus 161 Grad Celsius abgekühlt werden. | |
Dadurch wird es flüssig – und dieselbe Energiemenge braucht dann nur ein | |
Sechshundertstel so viel Platz. So kann sie mit dem Schiff transportiert | |
werden. Im Zielhafen wird das Flüssiggas dann wieder erhitzt, um ins | |
Gasnetz eingespeist werden zu können. | |
## Milliarden vom Steuerzahler | |
Die erste Anlage dafür ging im Dezember 2022 im niedersächsischen | |
Wilhelmshaven ans Netz. Die LNG-Tanker legen dort an der schwimmenden | |
Regasifizierungsanlage „Höegh Esperanza“ an. Dann baute der Bund eine | |
Anlage in Brunsbüttel (Schleswig-Holstein). In Lubmin (Vorpommern) nahm die | |
private Deutsche Regas ein Regasifizierungs-Schiff in Betrieb. Dort kommen | |
die Russland-Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 an. | |
Mit Ausnahme von Lubmin betreibt nicht die Gaswirtschaft diese Anlagen, | |
sondern die Regierung – eine Notlösung, die den Steuerzahler Milliarden | |
kostet. Die schwimmenden Anlagen sind für eine Nutzungsdauer von bis zu 15 | |
Jahren ausgelegt. Für Lubmin und Wilhelmshaven liegen sogar Anträge auf | |
„unbefristeten Betrieb“ vor. Und die Ampel will noch weitere, feste | |
LNG-Hafenanlagen bauen. | |
In Stade in Niedersachsen ist eine LNG-Hafenanlage geplant, ebenso in | |
Wilhelmshaven und in Brunsbüttel. In Sassnitz auf Rügen soll ein großes | |
LNG-Terminal gebaut werden. Die Laufzeit dieser Anlagen soll wenigstens 20 | |
Jahre betragen. 2045 muss Deutschland [1][laut Bundesklimaschutzgesetz | |
klimaneutral sein]. | |
## Die Regierung sabotiert eigene Klimaschutzpläne | |
„So viel LNG-Kapazität, wie die Regierung plant, wird gar nicht gebraucht“, | |
meint Constantin Zerger von der Deutschen Umwelthilfe. Mit den Bauplänen | |
sabotiere die Regierung ihre eigenen Klimaschutzpläne, sagt Zerger. „Auf | |
dem Weg zur Klimaneutralität muss der Gasverbrauch sinken. LNG wird deshalb | |
gar nicht gebraucht.“ Der Experte vermutet, dass die Pläne das Werk der | |
Lobbyisten sind. | |
Obwohl Zukunft Gas ein eingetragener Verein ist, leistet er sich einen | |
Aufsichtsrat. Vorsitzender ist der CDU-Politiker Friedbert Pflüger. Bis | |
2006 saß der Außenpolitiker 15 Jahre lang im Deutschen Bundestag, zuletzt | |
war er parlamentarischer Staatssekretär. Dann wollte Pflüger Regierender | |
Bürgermeister von Berlin werden. Allerdings unterlag er Klaus Wowereit | |
(SPD), weshalb er die Politik verließ und 2009 eine Beratungsfirma mit den | |
Schwerpunkten Energiepolitik und internationale Sicherheit gründete. Einer | |
seiner wichtigsten Auftraggeber: das Konsortium Pipelinebauer Nord Stream | |
2. | |
Stellervertreter von Friedbert Pflüger im Aufsichtsrat ist Matthias Peter, | |
der bis vor Kurzem noch Geschäftsführer des Unternehmens Wingas war, das | |
dem russischen Staatskonzern [2][Gazprom] gehörte und nach [3][Russlands | |
Angriff auf die Ukraine] verstaatlicht wurde. Wingas verkaufte das | |
Gazprom-Erdgas in Deutschland, baute auch die | |
Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung (Opal) und die Nordeuropäische | |
Erdgasleitung (NEL) mit auf. | |
Ein anderer Stellvertreter Pflügers ist Oliver Hill, „Direktor | |
Konzernentwicklung“ bei VNG, einem der größten Betreiber von | |
Erdgasspeichern. Diese wurden über die Opal-Pipeline von Wingas mit | |
russischem Erdgas befüllt. | |
## „Pipelines in die Politik“ | |
Interessant ist auch der „Beirat“, den sich Zukunft Gas noch neben diesem | |
Aufsichtsrat leistet: In der Vergangenheit waren hier zahlreiche | |
Politschwergewichte engagiert. Einer von ihnen ist etwa der | |
SPD-Energiepolitiker Timon Gremmels, in dessen Wahlkreis der Gaskonzern | |
Wintershall DEA sitzt, oder der CDU-Bundestagsabgeordnete Karsten Möring, | |
der nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag als „Senior Advisor“ bei der | |
Lobbyagentur Strategic Minds anheuerte – jener Firma, die der Gaslobbyist | |
Friedbert Pflüger gründete. | |
„Ohne Erdgas ist eine verlässliche, bezahlbare und klimafreundliche | |
Energieversorgung mittel- bis langfristig nicht denkbar“, erklärte Thomas | |
Bareiß (CDU), ehemals Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. | |
Bareiß engagierte sich im Beirat von Zukunft Gas. Lobbycontrol hat den | |
Einfluss dieses Beirats auf die Politik untersucht und spricht von | |
„Pipelines in die Politik“. Die Industrie fand über diesen Beirat direktes | |
Gehör in Ministerien und Parteien. | |
Dieser Einfluss lässt sich in den nackten Zahlen ablesen: Seit der | |
deutschen Wiedervereinigung hat sich die importierte Erdgasmenge | |
verdoppelt. Das hängt viel mit der „Moskau-Connection“ zusammen, wie es die | |
Journalisten Reinhard Bingener und Markus Wehner in ihrem gleichnamigen | |
Buch nannten. Einstige Weggefährten des Gazprom-Lobbyisten Gerhard Schröder | |
(SPD) fungierten als Türöffner und „Stimme in der Öffentlichkeit“, um | |
russisches Erdgas unverzichtbar für die deutsche Wirtschaft zu etablieren. | |
Zum Beispiel Heino Wiese, ehemals Landesgeschäftsführer der SPD in | |
Niedersachsen und Wahlkampfmanager von Gerhard Schröder sowie Sigmar | |
Gabriel: 2016 wurde er Honorarkonsul Russlands in Hannover und Ehrendoktor | |
der Uni St. Petersburg. Wenige Wochen vor dem russischen Überfall gab Wiese | |
zu Protokoll: „Ich finde den Lawrow ja total gut als Außenminister, weil er | |
nicht labert, sondern macht.“ | |
Ein anderer russischer Honorarkonsul – diesmal in Baden-Württemberg – war | |
Klaus Mangold, der „Mister Russland der deutschen Wirtschaft“. Der | |
ehemalige Topmanager und Vorsitzende des Ost-Ausschusses der deutschen | |
Wirtschaft begrüßte seinerzeit den Einstieg von Ex-Kanzler Gerhard Schröder | |
bei Gazprom als „grundsätzlich positiv“. | |
Auch Béla Anda (SPD), einst Regierungssprecher unter Gerhard Schröder, | |
gehört zu der Moskau-Connection. Die von Anda gegründete Lobbyagentur | |
arbeitet für Uniper, den größten Gashändler Deutschlands und Europas. | |
## Der Fall Nord Stream 2 | |
Wie effektiv und geschmiert diese Moskau-Connection funktionierte, zeigte | |
sich beispielsweise 2021: Als die US-amerikanische Regierung all jene | |
Firmen auf eine Sanktionsliste setzen ließ, die am Bau der | |
Nord-Stream-2-Pipeline mitarbeiteten, gründete Manuela Schwesig, die | |
sozialdemokratische Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, die | |
Stiftung Klima- und Umweltschutz MV. Das Stiftungsgeld – 20 Millionen Euro | |
– soll Nord-Stream-Geschäftsführer Matthias Warnig ausgehandelt haben, ein | |
ehemaliger Stasi-Offizier, der mit Wladimir Putin und Gerhard Schröder | |
gleichermaßen befreundet ist. Hauptziel der Stiftung: [4][Verlegeschiffe | |
anzuheuern, um den Bau der Pipeline Nord Stream 2 vollenden zu können]. | |
Anders als die Privatwirtschaft brauchte die Stiftung keine Sorge vor den | |
US-Sanktionen zu haben. Präsident des Verwaltungsrats der Gazprom-Tochter | |
Nord Stream 2 war seit 2016 Ex-Kanzler Gerhard Schröder. | |
Und nun baut ausgerechnet das grün geführte Klimaministerium eine | |
LNG-Infrastruktur auf. Die fertigen und geplanten LNG-Kapazitäten belaufen | |
sich im Mittel auf 73 Milliarden Kubikmeter. Das ist ein Drittel mehr | |
Erdgas, als Deutschland einst aus Russland bezog. „Unsere These: Habeck | |
wollte nicht als schlechter Wirtschaftsminister dastehen, deshalb | |
unternimmt er alles, um nie wieder Engpässe entstehen zu lassen“, sagt Nina | |
Katzemich von LobbyControl. | |
Wird Habeck nun aber ein schlechter Klimaminister? „Das hat Auswirkungen | |
weltweit“, sagt Constantin Zerger. So habe der Konzern EnBW gerade einen | |
Liefervertrag über zwei Millionen Tonnen LNG pro Jahr mit dem | |
US-Unternehmen Venture Global abgeschlossen. Die Liefermenge für EnBW soll | |
aus dem Plaquemines-Terminal südlich von New Orleans sowie aus dem Terminal | |
Calcasieu Pass 2 kommen. „Beides sind Hafenprojekte, die überhaupt erst | |
durch solch langfristige Abnahmeverträge wie mit EnBW für Venture Global | |
wirtschaftlich interessant werden“, so Zerger. | |
Er macht noch auf andere Baustellen aufmerksam – nämlich die der geplanten | |
LNG-Hafenanlagen in Stade, Brunsbüttel und auf Rügen: „Die Gaskonzerne | |
haben bislang keine Entscheidung über einen Investitionseinstieg | |
getroffen“, so Zerger. Noch also baue der Staat. „Und da soll es nicht | |
möglich sein, diesen klimapolitischen Wahnsinn zu verhindern?“ | |
4 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nick Reimer | |
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