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# taz.de -- Demonstrationen: Deutschland, deine Protestkultur
> Konfrontieren Bürger*innen ihre Vertreter*innen, gilt das schon
> als „Verrohung“. Dabei ist Abschottung der politischen Klasse
> undemokratisch.
Bild: Mehrere tausend Landwirte demonstrieren mit ihren Traktoren vor dem Brand…
Einmal tief Luft holen. Was ist in der Nacht [1][vom 4. Januar in
Schlüttsiel] passiert? Ein Pulk von rund 300 Menschen ist zu einer Fähre
gegangen und hat Lärm gemacht. Laut Angaben der Polizei wollten etwa 25
Personen auf die Fähre gelangen, auf der sich Wirtschaftsminister Robert
Habeck befand. So weit die Fakten.
Ob es zu Gewalt gekommen wäre, wenn die Demonstrierenden auf das Schiff
gekommen wären, ist reine Vermutung, ja Unterstellung. Dass die Fähre
vorsichtshalber wieder abgelegt hat – verständlich. Dass die deutsche
Öffentlichkeit über diesen Fast-Vorfall in Schnappatmung gerät –
bedenklich.
Die [2][Aufregung] über die „Gewalt“, die gar nicht passiert ist und nur
vermutlich passiert wäre, sagt viel über Deutschlands [3][erbärmliche
Protestkultur] und ein defizitäres Verständnis von Demokratie aus. In
anderen Ländern gehört es zum Standardrepertoire, Politiker*innen
aufzusuchen, zu stören und gegebenenfalls deren Fortbewegung zu blockieren.
Warum auch nicht?
Die meisten deutschen Regierungspolitiker*innen lassen sich diskret
von ihren Chauffeur*innen in die Tiefgaragen des Bundestags bringen und
fahren von da mit dem Fahrstuhl in den Plenarsaal. Will man im
Regierungsviertel von einem Gebäude ins andere, gibt es praktischerweise
unterirdische Gänge. Bloß kein Kontakt nach draußen! Ein feudaler König
hätte es sich nicht besser erträumen können.
Abgeordnete und Minister*innen bekommen normale Menschen quasi nie zu
Gesicht. Sie müssen sich buchstäblich nie mit der Lebensrealität der
Bevölkerung konfrontieren. Das ist nicht nur symbolisch ein Problem: Leider
zeugt ihre Politik oftmals von eben dieser Entfremdung. Natürlich sucht man
da als Bürger*in die Konfrontation. Wer das allein schon als „Verrohung“
oder „antidemokratisch“ bezeichnet, sollte sich mal mit der Französischen
Revolution beschäftigen, der Wiege der europäischen Demokratie. Der
deutsche Hang zu Anstand und Gehorsam steht diesen Werten allzu oft
entgegen.
Auf einem anderen Blatt steht, [4][dass die Bauernproteste von
Rechtsextremen unterwandert werden] und dass eine sehr kritische,
inhaltliche Auseinandersetzung damit geboten ist. Es gibt unter den
Demonstrant*innen rechtsextreme Chatgruppen, die den Sturz der
Regierung fordern.
Fairerweise muss man dazu sagen, dass die politische Zugehörigkeit der 25
Fähren-Blockierer*innen noch nicht sicher festgestellt wurde. Wenn sie sich
als rechtsextrem erweisen, dann ist es aber egal, ob sie eine Fähre
blockieren oder nur danebenstehen: Dann ist ihre Ideologie das zu
bekämpfende Problem.
Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder sagte über die jüngsten
Vorfälle, er [5][habe Verständnis für die Anliegen der Bauern], weise aber
deren radikale Protestform zurück. Im Gegenteil, Herr Söder! Die Form als
solche ist – bisher zumindest – völlig harmlos und Teil eines
Standardrepertoires von zivilen Protesten. Die inhaltliche Ausrichtung
hingegen sollte man streng unter die Lupe nehmen.
Aber auch im Herausstellen der rechtsextremen Strömungen der
„Bauernproteste“ wären zwei Dinge angebracht: Erstens, die verschiedenen
Akteur*innen der Landwirtschaft auseinanderzuhalten und zwischen den
unterschiedlichen Forderungen zu differenzieren. Nicht alle
Landwirt*innen sind Teil der subventionierten Großindustrie, die eine
mächtige Lobby auf Bundes- und EU-Ebene hat. Nicht alle protestierenden
Landwirt*innen sind rechts und antiökologisch.
Zweitens reicht es nicht, sich über die rechte Vereinnahmung zu empören,
sondern es muss auch gegengesteuert werden. Dazu gehört in erster Linie,
die realen Probleme der Bäuer*innen ernst zu nehmen. Und da geht es nicht
nur um die Kfz-Steuer. Viele Landwirt*innen leiden unter massivem
Höfesterben und Landgrabbing. In Frankreich und in der Schweiz gehört die
Landwirtschaft zu einer Berufssparte mit besonders hoher Suizidrate – in
Deutschland werden diese Zahlen zwar nicht erfasst, doch ist die
Problemlage sehr ähnlich. Auch über diese Form der Gewalt muss gesprochen
werden.
Die frühere Aktivistin und Linkenpolitikerin Carola Rackete macht es
deshalb richtig: [6][In einem Video] benennt sie die Probleme von
Bäuer*innen, nimmt sie ernst, kritisiert die tatsächlichen Fehler der
Bundesregierung, ohne zu pauschalisieren – und ruft gleichzeitig zu einer
klaren Distanzierung von den rechten und rechtsextremen Kräften innerhalb
der Proteste auf. So viel Komplexität muss sein.
8 Jan 2024
## LINKS
[1] /Proteste-gegen-Kuerzungen/!5983706
[2] /Landwirte-gegen-Robert-Habeck/!5983747
[3] /Protest-und-Repression/!5958217
[4] /Extremisten-wollen-Agrarproteste-kapern/!5981385
[5] https://www.rnd.de/politik/wie-die-csu-die-bauernproteste-fuer-sich-nutzt-B…
[6] https://x.com/CaroRackete/status/1743337688537935945?s=20
## AUTOREN
Lea Fauth
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