| # taz.de -- Landwirtschaftsminister auf Kuschelkurs: Ein Fähnchen im Wind von … | |
| > Agrarminister Cem Özdemir hat in zwei Jahren kaum etwas erreicht für | |
| > Umwelt- und Tierschutz. Im Dieselstreit lobbyiert er für Bauern statt | |
| > fürs Klima. | |
| Bild: Verhöhnt: Landwirtschaftsminister Cem Özdemir während des Bauernprotes… | |
| Spätestens bei der Bauerndemonstration am Montag in Berlin sollte | |
| Bundesagrarminister Cem Özdemir verstanden haben, wes Geistes Kind manche | |
| Landwirte sind. Und dass seine für einen Grünen sehr konfliktscheue | |
| Agrarpolitik nicht funktioniert. Obwohl auch Özdemir das Ausmaß der | |
| geplanten Kürzungen von Rabatten bei Diesel- und Kfz-Steuer für | |
| Agrarfahrzeuge kritisierte, buhten erboste Bauern ihn gnadenlos aus. | |
| Der Vorstandssprecher der Bewegung „Landwirtschaft verbindet Deutschland“, | |
| Claus Hochrein, erntete Lacher, als er dem neben ihm stehenden Özdemir | |
| sagte: „Wenn ich Sie das erste Mal dann die letzten Tage vor der Presse | |
| gehört hab, hab ich mich gefühlt wie auf ’nem [1][türkischen Basar].“ In | |
| Wirklichkeit habe Özdemir von den Kürzungsplänen gewusst. | |
| Der Grüne ist der erste Bundesminister, dessen Eltern aus der Türkei | |
| eingewandert waren. Deshalb antwortete er Hochrein [2][in seiner Rede], man | |
| könne „gerne über türkischen Basar reden … aber ich frage mich auch, ob … | |
| diese Reden auch schon gehalten haben bei früheren Regierungen, als es noch | |
| ’n bisschen anders aussah“. Die Tierrechtsorganisation Peta warf Hochrein | |
| vor, Özdemir „rassistisch beleidigt“ zu haben, sogar die Bild schrieb von | |
| einem [3][„rassistischen Spruch“]. | |
| Als Pöbler auf der Demo den Minister gar nicht mehr zu Wort kommen ließen, | |
| bat Bauernverbandspräsident Joachim Rukwied zwar um Respekt und Fairness, | |
| sodass Özdemir weiterreden konnte. Aber der Bauernchef distanzierte sich | |
| nicht von dem als rassistisch verstandenen Spruch. Vielleicht dämmert | |
| Özdemir jetzt: Die meisten Landwirte mögen einfach keine Grünen. Und | |
| deshalb hat es auch keinen Sinn, sie unnötig zu schonen. Jedenfalls nicht | |
| so stark, dass man seine eigenen WählerInnen aus dem Blick verliert. | |
| Das ist das, was Özdemir in seiner bisherigen Amtszeit passiert ist. Die | |
| Grünen haben in der Landwirtschaft stets mehr Tier- und Umweltschutz | |
| gefordert. Denn die Branche trägt maßgeblich dazu bei, dass immer mehr | |
| Arten aussterben, das Grundwasser verschmutzt und das Klima belastet wird. | |
| Viele Tiere in deutschen Ställen leben unter ethisch nicht vertretbaren | |
| Bedingungen. | |
| Deshalb waren die Hoffnungen groß, als Özdemir im Dezember 2021 als seit 16 | |
| Jahren erster Grüner die Leitung des Agrarministeriums übernahm. Doch er | |
| hat diese Erwartungen bisher noch nicht einmal im Ansatz erfüllt. Nach zwei | |
| Jahren geht es so gut wie keinem Tier besser, das Artensterben läuft | |
| ungebremst weiter. Ungebrochen ist der Trend, dass der [4][Anteil der | |
| Landwirtschaft an den Treibhausgasemissionen] in Deutschland steigt. | |
| ## Verrat an grünen Positionen | |
| Im aktuellen Fall Agrardiesel verrät Özdemir grüne Positionen und | |
| Parteifreund Robert Habeck regelrecht. Der Vizekanzler hatte sich mit den | |
| Koalitionspartnern SPD und FDP darauf geeinigt, das Haushaltsloch nach dem | |
| [5][Urteil des Bundesverfassungsgerichts] zur Schuldenbremse auch durch | |
| insgesamt 920 Millionen Euro für Agrardiesel und Zulassungssteuer für | |
| landwirtschaftliche Fahrzeuge zu schließen. Das ist ein großer Posten, aber | |
| lange nicht der größte. | |
| Am meisten soll laut der am Mittwoch vom Kabinett zur Kenntnis genommenen | |
| [6][Liste] der Klima- und Transformationsfonds sparen, dessen Ausgaben | |
| um 12,7 Milliarden Euro fallen sollen. Gleichzeitig sollen die | |
| VerbraucherInnen einen höheren CO2-Preis für Heizöl, Gas und Sprit berappen | |
| als ursprünglich geplant. Die Bundesagentur für Arbeit muss 1,5 Milliarden | |
| Euro an den Bund zurückzahlen, die während der Coronakrise als Zuschuss | |
| flossen. Das macht Beitragssenkungen in der Arbeitslosenversicherung noch | |
| unwahrscheinlicher. | |
| Die EU-Abgabe auf nicht recyceltes Plastik in Höhe von 1,4 Milliarden Euro | |
| sollen nicht mehr die Steuerzahler, sondern die Verursacher des Mülls | |
| tragen. Vor allem aus dem Etat des Entwicklungsministeriums, aber auch des | |
| Auswärtigen Amts und des Wirtschaftsressorts werden zusammen 800 Millionen | |
| Euro für Internationales gestrichen. Habeck stimmte genau wie Kanzler Olaf | |
| Scholz (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) zu, bei | |
| Rentenversicherung und Bürgergeld zu sparen. Bis der Bundestag all das im | |
| Januar beschließen soll, wird sicher fleißig lobbyiert und die Liste | |
| verändert. | |
| ## „Özdemir ist eine Fehlbesetzung“ | |
| Falls der Agrardieselrabatt ausläuft, entspräche das einer alten Forderung | |
| der Grünen. Denn 2015, als Özdemir Vorsitzender der Partei war, sprach sich | |
| ihre Bundestagsfraktion klar dafür aus, den Rabatt zu streichen. Das | |
| Umweltbundesamt kritisiert beide Privilegien schon lange als | |
| umweltschädliche [7][Subventionen]. Doch kurz nach Bekanntgabe der | |
| Sparpläne wehrte sich Özdemir dagegen, die Bauern „überproportional“ zu | |
| belasten. Kürzungen „in diesem Umfang“ seien nicht okay, sagte er am | |
| Montag. Sie würden der EU-Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Bauern | |
| schaden. | |
| Damit erzürnt er Umweltschützer, die eigentlich den Grünen nahestehen. | |
| Martin Hofstetter, Agraringenieur bei Greenpeace, findet zwar auch eine | |
| Vermögenssteuer für Reiche, höhere Abgaben auf Fleisch oder eine Streichung | |
| des Dienstwagenprivilegs sinnvoller als Kürzungen beim Agrardieselrabatt. | |
| Der würde aber nun mal die Anreize zum Kraftstoffsparen verringern. | |
| Deshalb sagte Hofstetter: „Özdemir hat keinen Arsch in der Hose.“ Der | |
| Minister sollte argumentieren, dass es keinen Berufsstand gebe, „der so am | |
| Subventionstropf hängt“. In manchen EU-Ländern sei die Steuerbelastung auch | |
| höher. Aber Özdemir biedere sich bei den Bauern und der CDU in | |
| Baden-Württemberg an, wo er als künftiger Ministerpräsident einer | |
| grün-schwarzen Koalition gehandelt wird. „Özdemir hat keinen | |
| Gestaltungswillen. Er ist eine Fehlbesetzung“, so Hofstetter. | |
| Der Bund für Umwelt und Naturschutz kritisierte zwar, dass die Streichung | |
| von Kfz-Steuerbefreiung und Agrardieselrabatt zusammen die Landwirte zu | |
| stark belaste. Aber der Verband befürwortete das Ende der Dieselförderung, | |
| weil es „ein Schritt zu weniger Treibhausgasen“ sei. | |
| Die 920 Millionen Euro Kürzungen würden sich auch nicht so negativ | |
| auswirken, wie Özdemir suggeriert. Im Schnitt verlöre jeder der [8][rund | |
| 254.000 Agrarbetriebe] in Deutschland knapp 3.600 Euro – im Jahr und bei | |
| einem Wert der produzierten Güter in Höhe von [9][300.000 Euro]. Deshalb | |
| würden wohl kaum Höfe pleitegehen oder die Lebensmittelpreise merklich | |
| steigen. | |
| ## Kein Veto gegen Glyphosat | |
| Auch bei anderen Themen liegt Özdemir mit wichtigen Teilen der grünen | |
| Klientel über Kreuz. Bei der entscheidenden Abstimmung der EU-Staaten über | |
| das umstrittene Pestizid Glyphosat legte sein Ministerium kein Veto ein | |
| gegen eine Zulassung für zehn weitere Jahre. Ein Nein-Signal hätte andere | |
| Staaten wie Frankreich beeinflusst und möglicherweise die Zulassung | |
| verhindert. | |
| Dabei hatte Özdemir sich zuvor gegen das Pestizid ausgesprochen, weil es so | |
| gut wie alle Pflanzen tötet und die Artenvielfalt gefährdet. Abgesehen | |
| davon hat die Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation | |
| Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft. Die Ampel hatte in | |
| ihrem Koalitionsvertrag auch klipp und klar vereinbart: „Wir nehmen | |
| Glyphosat bis 2023 vom Markt.“ | |
| Doch weil die FDP davon jetzt nichts mehr wissen will, knickte Özdemir ein. | |
| Das hätte der Grüne bei einem so wichtigen Thema nicht tun dürfen. | |
| Glyphosat wird laut Umweltbundesamt auf rund 40 Prozent der Felder | |
| hierzulande gespritzt. Die FDP hätte bei einem Nein wohl kaum die Koalition | |
| aufgekündigt. Sie hat im Bundestag derzeit keine Bündnisalternative und bei | |
| Neuwahlen müsste sie um den Einzug ins Parlament bangen. | |
| Diese Schwäche sollte Özdemir auch bei anderen Konflikten gegen den | |
| kleinsten Koalitionspartner nutzen. Etwa bei der Tierwohl-Abgabe auf | |
| Fleisch, mit der Bauern den viehfreundlichen Umbau ihrer Ställe finanzieren | |
| könnten. Oder beim [10][Exportverbot] für hierzulande aus | |
| Gesundheitsgründen untersagte Pestizide. All das blockiert die FDP bisher. | |
| ## Özdemir schielt nach Baden-Württemberg | |
| Aber Özdemir kämpft eben nicht gerade mit Herzblut für die grüne | |
| Agrarprogrammatik. Bevor er Landwirtschaftsminister wurde, hatte er sich so | |
| gut wie nie zu Agrarthemen geäußert. Da er kein Überzeugungstäter ist, aber | |
| auf eine Karriere in Baden-Württemberg schielt, will er es sich nicht zu | |
| arg verscherzen mit den Bauern. Denn die haben bei seinem möglichen | |
| Koalitionspartner CDU großen Einfluss. | |
| Dieses Kalkül ist nicht nur ungünstig für Umwelt und Tiere, sondern auch | |
| noch sinnlos: Viele Bauern prügeln auf Özdemir ein, auch wenn er ihnen | |
| entgegenkommt. | |
| Natürlich ist Özdemir aus Umwelt- und Tierschutzsicht besser als seine | |
| Unions-VorgängerInnen. Er hat erreicht, dass der Bund ab 2024 die Pflicht | |
| einführt, auf unverarbeitetem Schweinefleisch [11][zu kennzeichnen], wie | |
| das Tier gehalten worden ist. Flankiert wird das mit Subventionen für | |
| bessere Ställe. Auch wenn das nur einen kleinen Teil des Fleischmarkts | |
| betrifft, ist das schon mehr als Stillstand oder gar der Rückschritt unter | |
| Julia Klöckner (CDU). Aber bei einem Grünen sind die Erwartungen von | |
| Umwelt- und Tierschützern einfach höher. | |
| Vielleicht kann er doch noch punkten. Wenn Özdemir die Unterstützung der | |
| eigenen Basis zu verlieren droht, wird er stärker für ihre Anliegen | |
| kämpfen. Denn dann wäre seine Karriere akut in Gefahr – auch in | |
| Baden-Württemberg. | |
| 23 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=Etxo0q3BDB8 | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=6j8ftz3Cy_g | |
| [3] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/auf-bauern-demo-oezdemir-… | |
| [4] https://www.landwirtschaft.de/landwirtschaft-verstehen/haetten-sies-gewusst… | |
| [5] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/20… | |
| [6] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/pressemitteilungen/zum-hau… | |
| [7] https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/umweltschaedliche-subventionen… | |
| [8] https://www.situationsbericht.de/3/33-betriebe-und-betriebsgroe%C3%9Fen | |
| [9] https://www.bmel-statistik.de/fileadmin/daten/3130400-0000.xlsx | |
| [10] /Gesundheitsschaedliche-Chemikalien/!5956922 | |
| [11] /Gesetz-zur-Kennzeichnung-der-Tierhaltung/!5937724 | |
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| Jost Maurin | |
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