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# taz.de -- Terrorgefahr in Deutschland: Stoisches Glühweintrinken
> Die Innenminister sind alarmiert, wollen gegen Islamisten vorgehen. Beim
> Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz feiert man trotzdem.
Bild: Erinnerung an den islamistischen Terror vom 7. Oktober auf dem Weihnachts…
Berlin taz | Es ist ein ausgelassenes Gedränge. Menschen schieben sich
zwischen den Holzhütten des Weihnachtsmarkts auf dem Berliner
Breitscheidplatz entlang, ein Duft von Glühwein und Knoblauch liegt in der
Luft. Vor den Pollern, die mit Lichterfiguren und Tannenbäumen kaschiert
sind, wird für Selfies posiert.
Und doch: Immer wieder halten einige an, wenn sie, zwischen den Hütten, an
der Treppe mit den 13 eingravierten Namen vorbeikommen, an den Grablichtern
und aufgestellten Fotos. Es ist das Denkmal [1][für die Opfer des
islamistischen Terroranschlags mit 13 Toten vom 19. Dezember 2016.]
Eine Frau mit Bratwurst in der Hand und ihrem jugendlichen Sohn an der
Seite steht davor. Klar hätten sie von den Anschlagswarnungen gehört, sagt
der Sohn. „Aber Weihnachtsmärkte sind nur einmal im Jahr, das will man
nicht verpassen. Wenn was passiert, kann man’s eh nicht verhindern.“ Ein
junges Touristenpärchen trinkt direkt gegenüber Glühwein. „Wir haben das
gerade erst gecheckt, dass es hier mal den Anschlag gab. Aber so was kann
ja überall passieren.“ Ein älterer Besucher mit Weihnachtsmütze nippt an
einer Tasse. „Man kann doch nicht in Angst leben“, sagt er.
Aber für einige ist die Angst jetzt wieder da.
Gerade erst warnte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor einer
„verschärften Bedrohungslage“. [2][Verfassungsschutzpräsident Thomas
Haldenwang sieht die Anschlagsgefahr „so hoch wie seit Langem nicht mehr“.]
Vor wenigen Tagen verhaftete die Polizei in Burscheid und Wittstock zwei
Jugendliche, 15 und 16 Jahre alt, die einen Anschlag auf den
Weihnachtsmarkt in Leverkusen geplant haben sollen. Mit Benzin hätten sie
einen Laster zur Explosion bringen und danach zum [3][afghanischen
IS-Ableger Khorasan] ausreisen wollen.
## Weihnachtsmärkte im Visier
Bereits zuvor war ein 21-Jähriger festgenommen worden, der womöglich einen
Anschlag auf den Weihnachtsmarkt Hannover plante, und ein 29-Jähriger, der
proisraelische Proteste als Anschlagsziel im Visier gehabt haben soll.
[4][In Paris erstach ein Islamist einen 23-jährigen Deutschen], in Brüssel
erschoss ein anderer zwei Fußballfans.
Nicht nur in Deutschland sind die Sicherheitsbehörden deshalb alarmiert.
Mehrere EU-Staaten erhöhten zuletzt ihre Terrorwarnstufen. Erst am
vergangenen Dienstag traf sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mit
ihren EU-Amtskollegen dazu in Brüssel. Auch EU-Innenkommissarin Ylva
Johansson warnte vor einem „hohen Risiko von Terroranschlägen“ in der
Weihnachtszeit, die Gefahr sei „real“. Sie sagte 30 Millionen Euro zu, um
Sicherheitsvorkehrungen an gefährdeten Orten wie Gotteshäusern zu erhöhen.
[5][Einen Tag später saß Faeser dann auf der Innenministerkonferenz in
Berlin.] Die islamistische Terrorgefahr und der Antisemitismus seien auch
dort das „zentrale Thema“, erklärte Faeser. Seit dem 7. Oktober reißen
Anti-Israel-Proteste in Deutschland nicht ab, schnellen antisemitische
Straftaten in die Höhe. Rund 1.000 zählt das BKA seitdem. Im gesamten
Vorjahr waren 2.641.
## Antisemiten soll Einbürgerung verwehrt werden
Am Ende der Konferenz am Freitag versuchen die Innenminister*innen
ein klares Signal auszusenden. Sie legen einen ganzen Maßnahmenkatalog vor.
Man werde „mit allen Mitteln des Rechtsstaats“ gegen jede Form von
Antisemitismus vorgehen. Entsprechende Proteste seien „konsequent zu
verbieten“, islamistische Social-Media-Accounts gehörten abgeschaltet.
Weitere Vereinsverbote seien nötig, explizit benannt wird [6][das
Islamische Zentrum Hamburg]. Die Leugnung des Existenzrechts Israels müsse
„strafrechtlich besser erfasst“ und Einbürgerungen von Personen mit
antisemitischer Einstellung müssten ausgeschlossen werden, entsprechende
Fragen sollen in Einbürgerungstests ergänzt werden.
Zudem soll die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Antisemitismus reaktiviert werden
und diese einen Aktionsplan gegen Antisemitismus vorlegen. „Islamisten und
Antisemiten dürfen sich nirgendwo und zu keiner Zeit in Deutschland sicher
fühlen“, betont Faeser.
[7][Astrid Passin kennt den islamistischen Terror, ganz direkt.] Ihr Vater
Klaus ist einer der Getöteten des Breitscheidplatz-Attentats von 2016. Mit
einem Lkw war ein Islamist in den Weihnachtsmarkt gerast, die Tat war ein
Fanal. Passin meidet den Breitscheidplatz bis heute, auch die Gedenkstätte
mit den Stufen. „Es bleibt für uns ein Tatort.“ Zudem werde immer wieder
die Gedenktreppe beschädigt, würden aufgestellte Bilder der Verstorbenen
verschwinden, klagt Passin. Rund zehn Anzeigen wegen Störung der Totenruhe
habe sie deshalb schon gestellt, vergebens.
Am 19. Dezember, dem siebten Jahrestag des Anschlags, wird Passin aber
wieder vor Ort sein. Es wird ein inzwischen kleines Gedenken geben, mit
Kranzniederlegung und einer Andacht. Statt Politiker sollen die
Hinterbliebenen das Wort erhalten. Anreisen wollen auch Angehörige der
Israelin Dalia Elyakim, die beim Anschlag starb.
Dass es nun wieder Warnungen vor Terror gibt, vor Anschlägen auf
Weihnachtsmärkten, nennt Passin „erschreckend“. „Natürlich ruft das all…
wieder in Erinnerung.“ Der Islamismus sei aber eben nie weg gewesen, auch
wenn es in der Öffentlichkeit so wirkte. Sie begrüßt es, dass frühzeitig
deutlich gewarnt werde. „Das hätten wir uns damals auch gewünscht. Dann
kann jeder selbst entscheiden, welches Risiko er eingeht.“
## Ein „Triggerereignis“ reicht
Die Sicherheitsbehörden loten dieses Risiko derzeit aus. Orchestrierte,
lang vorbereitete Anschläge werden dort nicht erwartet. Aber die Sorge vor
aufgeputschten Einzeltätern ist groß. Dafür reiche ein „Triggerereignis“,
so der Verfassungsschutz. Die Koranverbrennungen in Schweden waren es
zuletzt, nun ist es der wieder aufgeflammte Nahostkrieg.
Islamisten und andere Extremisten einte das Feindbild Israel, online würden
Radikalisierungen beschleunigt. Selbst der IS und al-Qaida, die mit der vom
Iran unterstützten Hamas bisher über Kreuz lagen, springen auf das Thema
auf. Man arbeite mit Hochdruck, um Anschlagspläne zu durchkreuzen, sagte
Verfassungsschutzchef Haldenwang.
In den vergangenen Wochen wurde deshalb noch mal geschaut, wo sich die
islamistischen Gefährder aufhalten, teils gab es direkte Ansprachen. Vor
fünf Jahren waren es noch 750 Gefährder, heute zählt das BKA immer noch
486. 90 davon sind in Haft, 182 im Ausland, der Rest auf freiem Fuß.
## Wieder fallen junge Radikalisierte auf
Was die Behörden besonders besorgt, ist das junge Alter der zuletzt
Terrorverdächtigen. Neu ist das aber nicht: Schon 2016 stach [8][eine
15-Jährige aus islamistischem Motiv in Hannover einen Polizisten nieder].
Kurz darauf verübten zwei 16-Jährige einen Anschlag auf einen Sikh-Tempel
in Essen. Später reisten auch Jugendliche zum IS nach Syrien aus.
Der Verfassungsschutz darf seit einiger Zeit auch Minderjährige beobachten,
setzt zudem auf „virtuelle Agenten“ in Social-Media-Kanälen – und auf
Hinweise von internationalen Partnerdiensten. Auf der IMK wurde deshalb
wiedermals auch die Wiedereinführung der [9][Vorratsdatenspeicherung]
eingefordert: Es könne nicht sein, dass entscheidende Hinweise auf
Terrorpläne immer wieder aus dem Ausland kämen.
Gefordert ist bei Jugendlichen aber vor allem Prävention, wie sie die
Vereine der „Bundesarbeitsgemeinschaft Religiös begründeter Extremismus“
betreiben, für die Charlotte Leikert arbeitet. In einer aktuellen Befragung
erklärten Jugendliche, vier Stunden am Tag online zu sein. Die Hälfte kam
dabei nach eigenen Angaben mit extremistischen Inhalten in Kontakt.
Lebenskrisen oder Diskriminierungserfahrungen könnten Jugendliche anfällig
für einfache Antworten machen, sagt Leikert.
Erfolgreiche Gegenstrategien müssten individuell gefunden werden. Wichtig
aber sei, dass die Gesellschaft frühzeitig die extremistischen Inhalte
kontere: mit demokratischen Gegennarrativen, „Onlinestreetwork“ oder
Sperrungen durch die Diensteanbieter.
Auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz betreibt mitten
im Gewusel Michael Roden seine Hirschstube. Seit 40 Jahren ist er der
Veranstalter des Markts. Eine Anschlagsgefahr sei gerade „gar kein Thema“,
sagt Roden. Eine Million Besucher kämen jedes Jahr, auch nach dem Anschlag
2016 habe es keinen Abbruch gegeben. Alle Schausteller seien ebenfalls
geblieben.
Und der mit Pollern abgesicherte Platz sei inzwischen einer der
bestgeschützten der Stadt. „Letztlich kann überall was passieren“, sagt
auch Roden. „Aber die Leute wollen nicht immer daran denken, sondern auch
einfach mal was genießen.“
9 Dec 2023
## LINKS
[1] /Jahrestag-des-Breitscheidplatz-Anschlags/!5903247
[2] /Islamistische-Terrorgefahr/!5977130
[3] /Razzia-bei-Islamisten-in-NRW/!5945695
[4] /Erneuter-Terroranschlag-in-Frankreich/!5973894
[5] /Innenministerkonferenz-zur-Nahostdebatte/!5974187
[6] /Islamisches-Zentrum-Hamburg-durchsucht/!5973440
[7] /Angehoerige-von-Breitscheidplatz-Opfer/!5735667
[8] /Nach-IS-Messerattentat-von-Hannover/!5499869
[9] /Karlsruhe-zu-Vorratsdatenspeicherung/!5921538
## AUTOREN
Konrad Litschko
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