| # taz.de -- Zentralratspräsident über Antisemitismus: „Erkenne dieses Land … | |
| > Wie können Jüd:innen nach dem 7. Oktober besser in Deutschland | |
| > geschützt werden? Ein Gespräch mit Josef Schuster vor der | |
| > Innenministerkonferenz. | |
| Bild: Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland | |
| taz: Herr Schuster, seit dem Hamas-Massaker in Israel vom 7. Oktober reißen | |
| auch hierzulande antisemitische Vorfälle und Anti-Israel-Demonstrationen | |
| nicht ab. Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang [1][warnt vor | |
| Anschlägen]. Sie sind Gast auf der nun beginnenden Innenministerkonferenz, | |
| die sich damit beschäftigen wird. Welche Botschaft bringen Sie mit? | |
| Josef Schuster: Dass sich die jüdische Gemeinden seit diesem 7. Oktober | |
| weiterhin in einer sehr angespannten Lage befinden, in einer | |
| Ausnahmesituation. Ich habe zuletzt gesagt und das gilt weiter: Ich erkenne | |
| dieses Land zuweilen nicht wieder. Was wir seit dem 7. Oktober auf | |
| deutschen Straßen erleben, hätte ich mir nicht mehr vorstellen können. | |
| Darauf wurde noch nicht ausreichend reagiert und es müssen weitere | |
| Maßnahmen folgen. | |
| Sie waren gerade erst in Israel, besuchten mit Bundespräsident Frank-Walter | |
| Steinmeier das Kibbuz Be’eri. Nun ist die Waffenruhe zwischen Israel und | |
| der Hamas vorbei, der Militäreinsatz [2][in Gaza geht weiter,] Raketen | |
| fliegen auf Israel. Wie aussichtslos ist die Lage? | |
| Es war für mich erst mal erschreckend zu sehen, mit welcher wirklich | |
| unmenschlichen Grausamkeit in diesem Kibbuz vorgegangen wurde. Die | |
| Terroristen hatten dort Feuer gelegt, und den Menschen in den Schutzräumen | |
| blieben nur zwei Varianten: Entweder in den Rauchgasen ersticken oder sie | |
| fliehen und werden erschossen. Unvorstellbar. Da habe ich vollstes | |
| Verständnis, wenn Israel sagt, die Hamas muss vernichtet werden. Ein | |
| solcher Terrorakt gegen Israel, mit 1.200 Toten, darf nie wieder passieren. | |
| Ist das von Netanjahu ausgegebene Ziel, die Hamas zu zerstören und alle | |
| Geiseln zu retten, tatsächlich möglich? | |
| Ich bin kein Militärstratege und habe nicht die Kenntnisse der israelischen | |
| Regierung, aber das kann ich nur inständig hoffen. | |
| Zu welchem Preis kann eine Zerstörung der Hamas gelingen, was die | |
| Zivilbevölkerung in Gaza angeht? | |
| Mir tut jeder Zivilist im Gazastreifen leid. Ich muss aber auch sagen, dass | |
| die Hamas dort offensichtlich nicht wenige Unterstützer hatte. Und dass die | |
| Terroristen die Zivilbevölkerung als Schutzschild in Geiselhaft nehmen. Ich | |
| verstehe, dass Israel wirklich alles dafür tun muss, um die eigene | |
| Bevölkerung zu schützen. | |
| Und was folgt, wenn die Hamas wirklich besiegt wäre? | |
| Im Moment sind alle Utopien einer friedlichen Lösung von der Hamas | |
| zerstört. In Teilen der israelischen Bevölkerung war ein Vertrauen dafür | |
| da, das ist jetzt weg. Einen Neuanfang kann es nicht mit der Hamas oder | |
| einer anderen terroristischen Vereinigung geben. Da braucht es einen | |
| völligen Schnitt, auch personell. Was mir aber Hoffnung gibt, ist, dass die | |
| Menschen aus Be’eri, die dieser Hölle entkommen konnten, den ausdrücklichen | |
| Willen äußerten, wieder dorthin zu ziehen und ihren Kibbuz wieder | |
| aufzubauen. Daraus kann eine friedliche Zukunft erwachsen, und das hätte | |
| man sich ja auch ganz anders vorstellen können. | |
| Der Krieg strahlt auch [3][bis nach Deutschland aus]. Am Donnerstag beginnt | |
| Chanukka. Lässt sich angesichts dessen überhaupt feiern? | |
| Es wird in diesem Jahr eine gedämpfte Stimmung geben. Wir werden unsere | |
| Kerzen entzünden, auch öffentlich wie am Brandenburger Tor in Berlin. | |
| Natürlich haben auch wir Juden am Jahresende des gregorianischen Kalenders | |
| ein Bedürfnis nach Einkehr und wollen das Jahr Revue passieren lassen. Wir | |
| werden unser Leben nicht durch Terror bestimmen lassen. | |
| Ihr Zentralrat veranlasste in den Gemeinden gerade eine Umfrage zu den | |
| Folgen des 7. Oktober. 68 Prozent der befragten Führungskräfte erklärten | |
| darin, dass in den Gemeinden Angst vor Angriffen oder weniger Besucher | |
| festgestellt wurden. 43 Prozent sagten Veranstaltungen ab, 35 Prozent | |
| meldeten antisemitische Vorfälle. | |
| Das sind dramatische Befunde. Die Gemeinden erhalten antisemitische Briefe, | |
| Mails oder Anrufe, es gibt tätliche Angriffe auf der Straße gegen Menschen, | |
| die als Juden zu erkennen waren. Das ist in dieser Intensität eine neue | |
| Qualität. Wobei mein Gefühl ist, dass es nicht unbedingt mehr Menschen | |
| sind, die antisemitisches Gedankengut mit sich tragen, aber dass diese | |
| Menschen lauter geworden sind und sich wieder trauen, Dinge zu tun und zu | |
| sagen, die man sich lange nicht getraut hat. | |
| Israel ruft inzwischen zur Vorsicht bei Reisen nach Deutschland auf. Zu | |
| Recht? | |
| Das hat Israel auch für Großbritannien und Frankreich getan, offenbar mit | |
| abstrakten Hinweisen auf Terroranschläge. Das wird nicht einfach so aus der | |
| Luft heraus geschehen, und vor dieser Gefahr haben ja auch die | |
| Bundesinnenministerin und der Verfassungsschutz gewarnt. Ich vertraue auf | |
| unsere Sicherheitsbehörden, dass es ihnen gelingt, diese Gefahren zu | |
| unterbinden. | |
| Fühlen sich die Community und Sie ausreichend geschützt? | |
| Ich persönlich bin in einer privilegierten Situation: Der Präsident des | |
| Zentralrats der Juden erhält seit Jahrzehnten Personenschutz. Bei den | |
| jüdischen Einrichtungen, den Gemeinden, Schulen oder Kindergärten, wurde | |
| bereits nach dem [4][Attentat auf die Synagoge in Halle 2019] der Schutz | |
| technisch und personell verstärkt. Das wurde nun noch einmal angepasst. Da | |
| geht es um schusssichere Türen und Fenster, Videoüberwachung oder | |
| uniformierte Streifen vor der Tür bei Veranstaltungen. Ein positiver Befund | |
| unserer Gemeindebefragungen war, dass sich dort 96 Prozent zufrieden mit | |
| der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden zeigten. Gleichzeitig gibt | |
| es die große Verunsicherung, sich öffentlich als Jude zu erkennen zu geben. | |
| Das ist eine Ambivalenz, die wir nicht nur zur Kenntnis nehmen dürfen. | |
| Wo sehen Sie derzeit die größte Gefahr? | |
| Der Antisemitismus, den wir gerade erleben, wird stark geprägt durch Taten | |
| von arabisch- oder türkischstämmigen Menschen in Verbindung mit der linken | |
| Szene. Da merkt man plötzlich, dass die politisch ganz linke und die | |
| politisch ganz rechte Seite gar nicht so weit auseinander liegen bei diesem | |
| Thema. Aber die These eines importierten Antisemitismus greift trotzdem zu | |
| kurz: Wir haben auch einen großen Anteil antisemitischer Delikte aus dem | |
| politisch rechtsextremen Lager. | |
| Wie blicken Sie auf Hochschulen oder Kultureinrichtungen, wo zuletzt | |
| Anti-Israel-Parolen laut wurden? | |
| Das beunruhigt mich sehr. Nach dem 7. Oktober habe ich dort zunächst | |
| dröhnendes Schweigen wahrgenommen, nun erleben wir offenen Antisemitismus – | |
| nicht überall, aber eben doch zu viel. [5][Wenn mir eine jüdische Studentin | |
| sagt,] dass sie sich in einer Berliner Universität nicht mehr traut, | |
| alleine auf die Toilette zu gehen, ist das unbegreiflich. Das darf es nicht | |
| geben. | |
| Bundesinnenministerin Nancy Faeser verbot zuletzt Betätigungen der Hamas | |
| und des Unterstützervereins Samidoun, ließ das Islamische Zentrum Hamburg | |
| durchsuchen, das als verlängerter Arm Irans gilt. Reicht das? | |
| Das waren notwendige Schritte. Und beim IZH in Hamburg braucht es nicht nur | |
| Durchsuchungen, sondern auch ein Verbot. Mir scheint, dass Iran gerade das | |
| Seinige tut, diese Gefahr zu erhöhen und Dinge zu steuern – nicht zum | |
| ersten Mal. Und ich glaube, es wird auch noch weitere Verbote gegen | |
| Organisationen geben, die Hass gegen Israel schüren. Hier sollte das | |
| Bundesinnenministerium schnell Konsequenzen ziehen. Außerdem: Der | |
| abgeschaffte Expertenkreis Politischer Islamismus im Bundesinnenministerium | |
| muss wiederbelebt werden, aber in einer Konstellation, die wirklich | |
| lösungsorientiert gesellschaftliche Probleme angeht und nicht nur über | |
| Begrifflichkeiten diskutiert. | |
| Berlin und Bayern verboten zuletzt auch die Parole „From the River to the | |
| Sea“, die ein Verschwinden Israels von der Landkarte bedeuten würde. War | |
| das ein richtiger Schritt? | |
| Absolut. Und dieses Verbot muss auch bundesweit umgesetzt werden. Wenn | |
| Israel das Existenzrecht abgesprochen wird, wie es diese Parole tut, muss | |
| das unter Strafe gestellt werden. Hier braucht es eine rechtliche | |
| Nachschärfung. Es hat mich enttäuscht, dass sich die | |
| Justizministerkonferenz dazu zuletzt nicht durchringen konnte. Von der | |
| Innenministerkonferenz wird hier hoffentlich ein anderes Signal ausgehen. | |
| Nie wieder ist jetzt und nicht irgendwann, und das muss auch Konsequenzen | |
| haben. | |
| Sie fordern eine Verschärfung des Versammlungsrechts. Wie könnte das | |
| aussehen? | |
| Ich habe alles Verständnis für Menschen, die gerade auf die Straße gehen | |
| und sich Sorgen um die palästinensische Zivilbevölkerung machen. Das ist | |
| vom Demonstrationsrecht gedeckt und soll es auch bleiben. Aber da, wo es | |
| begründete Sorgen vor antisemitischen Handlungen gibt, muss es möglich | |
| sein, diese Aufzüge zu verbieten. Da ist aus meiner Sicht das | |
| Demonstrationsrecht verwirkt. Wir dürfen nicht erst abwarten, bis es | |
| eskaliert, sondern müssen das im Vorhinein unterbinden. | |
| Würden Sie sich mehr Solidarität mit der israelischen und jüdischen | |
| Community wünschen? | |
| Definitiv. In Teilen gibt es sie, auch in einer Intensität, wie wir sie | |
| noch nicht erlebt haben. Und ich freue mich über Veranstaltungen, wie eine | |
| am Sonntag vor dem Brandenburger Tor geplant ist, wo der Impuls nicht von | |
| einer Organisation, sondern aus der Bevölkerung kam. Aber in der Breite | |
| hätte ich mir angesichts des blutigsten Tags gegen Juden seit der Shoah | |
| [6][mehr öffentliche Solidarität gewünscht.] | |
| Auch aus der muslimischen Community? | |
| Auch von dort. Es gibt viele friedliebende Muslime, die nichts mit dem | |
| Terror zu tun haben wollen. Und ich verwahre mich auch dagegen, alle | |
| Muslime jetzt unter Generalverdacht zu stellen. Aber von den muslimischen | |
| Institutionen habe ich mehr erwartet. Da war nach dem 7. Oktober fast gar | |
| nichts hören oder eher Halbherziges. Mein Eindruck war auch, dass die | |
| Stellungnahmen nicht unbedingt in den Freitagspredigten verbreitet wurden, | |
| wo sie in erster Linie hingehören. Und auch Ditib sollten wir uns hier | |
| genauer ansehen. Der Verband steht unter staatlicher Aufsicht der Türkei, | |
| deren Präsident Israel einen Terrorstaat nennt. Dafür habe ich überhaupt | |
| kein Verständnis. Und auch das wäre eine Aufgabe für das | |
| Bundesinnenministerium, den Umgang mit Ditib von Grund auf zu prüfen und | |
| neu zu organisieren. | |
| Glauben Sie, der 7. Oktober bleibt auch in Deutschland eine Zäsur? | |
| Natürlich hoffe ich, dass wir wieder zu einer Normalität zurückkehren. | |
| Wobei ich einschränkend sagen muss, dass der Antisemitismus auch vor dem 7. | |
| Oktober in diesem Land schon seit Jahren anstieg, egal aus welcher Ecke. | |
| Aber natürlich wünschen wir uns, als Juden hier in Frieden leben zu können | |
| wie alle anderen auch. | |
| 6 Dec 2023 | |
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