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# taz.de -- Holocaust-Überlebende in den USA: Die Widerständigen
> Die Cousinen Aline und Lina haben sich jahrzehntelang nicht mehr gesehen.
> Unsere Autorin und Nachfahrin der Familie hat sie wieder
> zusammengebracht.
Sehr kurz nachdem die Welt am 7. Oktober Zeuge der Ermordung von
unschuldigen Menschen durch die radikalislamische Terrororganisation Hamas
wird, bejubeln Teile meiner linken Bubble – jene, die sonst unermüdlich
predigen, marginalisierten Stimmen Gehör zu schenken – mit erschreckender
Skrupellosigkeit eine der ältesten Formen der Marginalisierung: den blanken
Hass gegen Jüdinnen und Juden.
Seitdem zerbrechen fast täglich alle Prinzipien, die in dieser Blase als
unantastbar galten und über Jahre hinweg wie ein Mantra wiederholt wurden.
Sie scheinen nichts mehr zu gelten, solange die Marginalisierten jüdisch
sind.
Seither ist viel über das Pogrom gesagt worden. Manches würde ich am
liebsten aus meinem Gedächtnis streichen, anderes hat mir geholfen, die
Zeit bis heute irgendwie zu überstehen. Dazu gehört die Arbeit kluger und
mutiger Menschen wie der großartigen [1][Laura Cazés], [2][Erica Zingher]
oder meiner lieben Freundin [3][Katja Sigutina.]
Während sie die richtigen Worte für ihren, für unseren Schmerz finden,
verharre ich in Ohnmacht, hülle mich in Schweigen und zerbreche fast an
meiner eigenen Verzweiflung über den Schulterschluss von Teilen der Linken
mit Islamist*innen, die die menschenverachtenden Terrorakte als
„Widerstand“ verharmlosen. Nichtsdestotrotz sitzt mir die Deadline für
diesen Artikel – ausgerechnet über den jüdischen Widerstand im
Nationalsozialismus in meiner eigenen Familie – im Nacken. Während ich ihn
schreibe, frage ich mich: für wen eigentlich?
Was ursprünglich als Versuch gedacht war, den im kollektiven Gedächtnis der
Deutschen verdrängten jüdischen Widerstand während der Shoah anhand meiner
Familiengeschichte nachzuzeichnen, hat nach dem 7. Oktober auf
unvorhergesehene Weise eine ganz andere Dringlichkeit bekommen: Wie kann
ich die Verfolgungsgeschichte und das transgenerationale Trauma meiner
Familie in einer Zeit öffentlich machen, in der Teile meines vermeintlich
progressiven Umfelds die Shoah relativieren und eben ausgerechnet das Wort
„Widerstand“ für ihre Zwecke instrumentalisieren? Lange habe ich auf den
Bildschirm meines Laptops gestarrt und überlegt, mit wem ich diese
Geschichte nach dem 7.Oktober überhaupt noch teilen will.
Jedenfalls nicht [4][mit jenem Teil der linken Bubble,] der am 9. November
eine performative Instagram-Story zum Gedenken an die Novemberpogrome
postet und am nächsten Tag den einzigen jüdischen Staat der Welt
dämonisiert, der gerade selbst ein Pogrom erlebt hat. Und auch nicht mit
denjenigen, die jüdisches Leid und jüdische Erinnerungskultur für ihre
Agenda missbrauchen, um andere Marginalisierte systematisch zu entrechten.
Stattdessen schreibe ich sie nun für diejenigen, deren Überleben in einer
patriarchalen, antisemitischen, rassistischen Gesellschaft bereits
Widerstand bedeutet und die durch die ständige Instrumentalisierung des
Begriffs erneut Gewalt erfahren. Ich schreibe sie für die Frauen in dieser
Geschichte, die mir ihre Geschichte anvertraut haben.
Jene Geschichte beginnt vor Jahren, als ich während meiner Schulzeit zum
ersten Mal davon hörte, dass die Cousine meiner Oma nach 1945 verloren
gegangen sei. Damals bat mich unser Geschichtslehrer als Einzige in der
Klasse einen Vortrag über „die spannende Verfolgungsgeschichte“ meiner
Familie zu halten. Zu Hause befragte ich meine Mutter, die mir von der
verschollenen Aline und ihrem Vater erzählte, der im französischen
Widerstand aktiv gewesen ist.
## Eine verschollene Cousine
Mich ließ Alines Geschichte fortan nicht los. Wie durch ein Wunder hatte
die damals Siebenjährige den Holocaust in Frankreich überlebt. Ihre Mutter
Esther, die in den 1920er Jahren aus der Sowjetunion nach Frankreich
geflohen war, starb, ihr Vater Yves wurde wegen seiner Tätigkeit in der
Résistance 1944 von der Gestapo erschossen. Aline kam in die Obhut von
Yves’ Schwester, die sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs adoptierte.
Gemeinsam emigrierten sie in die USA. Das war die letzte Information, die
meine Familie hatte. Wo Aline lebte oder ob sie überhaupt noch lebte,
wusste jahrzehntelang niemand so genau. Nicht dass sie es nicht gerne
gewusst hätten, aber der Kalte Krieg und die Sowjetunion hinderten sie
daran, in den USA nach ihr zu suchen. Und als der Kalte Krieg vorbei war?,
fragte ich meine Oma, als wir uns einmal über Aline unterhielten. Wo hätten
sie denn anfangen sollen zu suchen?, entgegnete sie. Was ihnen damals
fehlte, war eine Suchmaschine, die Möglichkeiten des Internets, mit der sie
Aline hätten finden können.
Obwohl mich Alines Geschichte jahrelang begleitete, kam ich nicht auf die
Idee, selbst nach ihr zu suchen. Bis ich im Jahr 2020 ein Interview mit
meiner Großmutter führte, die als Kind ebenfalls den Holocaust überlebt
hatte. Während des Interviews fragte ich sie nach ihrer verlorengegangenen
Cousine, die genau wie sie 1937 geboren wurde und demnach mittlerweile 83
Jahre alt sein musste. Meine Großmutter erzählte mir alles, was sie über
Aline wusste. Ihr Vater Yves war in Jaffa als Sohn sephardischer Juden
geboren worden, er kam nach Frankreich, um Medizin zu studieren. Dort
lernte er Alines Mutter Esther kennen.
Sie erzählte, dass sich ihr Vater ab 1941 in der Résistance engagierte.
Alines Mutter starb 1940, im Alter von 29 Jahren, an einer Krankheit, die
heutzutage hätte geheilt werden können. Als wir auflegten, gab ich
[5][„Yves de Boton“] in die Suchmaschine ein, die meiner Großmutter damals
fehlte – [6][und stieß auf einen Artikel,] der die nächsten Jahre meines
Lebens bestimmen sollte.
Drei Jahre später, im September 2023, sitze ich in einem schönen alten
Backsteinhaus in einer typischen US-amerikanischen Vorstadt irgendwo in New
Jersey. Ich bin zu Gast bei der 96-jährigen Lina Mitchell und ihrer
Familie. Während ihr Urenkel durch das helle Wohnzimmer krabbelt, deckt
Lina mit ihrer Tochter Alice den großen runden Tisch und hört den
Gesprächen ihrer Gäste zu. Aufmerksam gleitet ihr warmer, sanfter Blick
durch den Raum.
Anlass für das gemeinsame Essen ist der Besuch von Linas Cousine Aline. Das
letzte Mal haben sich die beiden in den 1950er Jahren gesehen. Meine Suche
nach Aline hat auch die beiden Cousinen wieder zusammengebracht. Und dafür
gesorgt, dass sich an diesem Tag vier Generationen unter einem Dach
versammeln. Alines Familie ist aus verschiedenen Teilen der USA angereist,
um Linas Familie und mich, den Gast aus Deutschland, zu sehen.
Nun sitzt Aline, die verlorene Cousine, mir an diesem Septembertag nach
drei Jahren E-Mail-Kontakt zum ersten Mal persönlich am Tisch gegenüber.
Sie erzählt, wie sie Lina nach dem Krieg in Kalifornien wiedertraf. Aline
war damals 18 Jahre alt. Es war das einzige Treffen, die beiden verloren
sich aus den Augen. Aline wusste als junge Frau den Kontakt zu ihrer
Familie noch nicht zu schätzen. Lina, die für ihre 96 Jahre ausgesprochen
fit ist, sitzt lächelnd daneben. Sie wirkt zufrieden, dass sie jetzt wieder
zusammengefunden haben.
Auch Lina hat die Shoah überlebt und ist eine Cousine meiner Großmutter,
von der ich bis zu meiner Suche nach Aline kaum etwas wusste. Das lag nicht
zuletzt daran, dass Linas Eltern ebenfalls aus der Sowjetunion nach Paris
ausgewandert sind, als sie zwei Jahre alt war. Zehn Jahre später
marschieren die Nazis in Frankreich ein.
Ihr Vater wird als Sowjetbürger gleich zu Beginn des Krieges deportiert.
Lina lebt zunächst in Paris, später flieht sie mit ihrer Mutter nach
Südfrankreich. Auch dort sind sie nicht lange vor dem antisemitischen
Verfolgungswahn der Nationalsozialisten sicher. Sie müssen einen gelben
Stern an ihre Jacken anbringen und sich verstecken. Im September 1942 wird
auch Linas Mutter vor ihren Augen mitten in der Nacht von Polizisten
abgeholt und deportiert.
Lina überlebt nur, weil sie sich gegen Ende des Krieges an einem Ort in den
französischen Alpen verstecken kann, der früher als Kinderferienlager
diente und während des Krieges zum Treffpunkt französischer
Widerstandskämpfer wurde, [7][auch als Maquis bekannt.] Um sich dort
verstecken zu können, muss sie als Gegenleistung schwere körperliche Arbeit
verrichten.
Als der Krieg vorbei ist, macht sich Lina auf die Suche nach ihren Eltern.
Nach einigen Wochen findet sie heraus: Ihr Vater und ihre Mutter sind in
Auschwitz ermordet worden. Ihre Großeltern, die schon vor dem Krieg nach
New York ausgewandert waren, überreden sie, Frankreich zu verlassen und zu
ihnen in die USA zu kommen. 1947, im Alter von 19 Jahren, wandert Lina
schließlich aus. Jahrzehntelang kann sie nicht darüber sprechen, was ihr in
Europa widerfahren ist. Keine Worte können den Schmerz beschreiben, den die
zierliche Frau erlitten hat. Erst 30 Jahre später schreibt sie auf, welche
Schrecken sie erleiden musste.
„Stories I never told you“, steht auf den Memoiren, in denen Lina zum
ersten Mal über ihre eigenen Erlebnisse während der Shoah spricht. „Ich
habe es für meine Enkelkinder gemacht, aber es war auch eine Art Therapie
für mich“, erzählt sie. Auch ihre Tochter Alice wusste lange Zeit nicht
genau, was mit ihr geschehen war, bis sie die Memoiren ihrer Mutter in den
Händen hielt. „Wahrscheinlich wollte sie mich schützen“, sagt Alice, als
wir allein sind. „Ich glaube nicht, dass das funktioniert hat.“ Jahrelang
habe sie Albträume gehabt, dass die Deutschen eines Tages kommen und sie
holen würden.
Beim Essen fragen sie mich, wie es heute mit dem Antisemitismus in
Deutschland aussieht. „Schrecklich“, schießt es mir sofort durch den Kopf.
Ich denke an den [8][rechtsterroristischen Anschlag in Halle 2019,] an die
holocaustrelativierenden Corona-Demonstrationen, an die diversen
Schlussstrichdebatten, die es seit 1945 gibt, und an die bewachten
Synagogen im Land.
Als ich zu Besuch bei Lina und Alice bin, bestimmt auch gerade die
[9][Debatte über Hubert Aiwanger] die Nachrichten in Deutschland. Aiwanger,
Chef der Freien Wähler in Bayern und stellvertretender Ministerpräsident,
haben die antisemitischen Pamphlete aus seiner Schulzeit – oder
„Jugendsünden“, wie man in Bayern sagt – eher noch populärer gemacht. E…
paar Wochen später, bei der Landtagswahl im Herbst, erreichten sie ein
Rekordergebnis. „Schwierig“, antworte ich stattdessen, während mich Lina
und Aline erwartungsvoll anschauen.
Wobei ich versuche, meine Erfahrungen als Jüdin in Deutschland nicht
herunterzuspielen – und gleichzeitig meine Worte mit Bedacht zu wählen, um
niemanden im Raum zu retraumatisieren. Dass genau einen Monat später, am 7.
Oktober, die antisemitische Gewalt weltweit explodieren und das Pogrom der
radikalislamischen Hamas als „Befreiungskampf“ bezeichnet werden würde,
ahnen wir damals noch nicht.
Lina steht auf, geht in ihr Zimmer und kommt mit einem Bild in der Hand
zurück: „Das ist Suzy.“ Es ist ein Schwarzweißfoto von einem kleinen
Mädchen. Lina stockt. Kein Tag sei vergangen, an dem sie nicht an sie
gedacht habe. Bevor sie sich in den Alpen versteckt, soll Lina 1942 als
15-Jährige mit der fünfjährigen Suzy, deren Eltern deportiert wurden, nach
Portugal fliehen, um von dort aus ein Schiff in die USA zu nehmen. Der
Fluchtversuch scheitert, sie müssen nach Frankreich zurückkehren. Nach dem
Krieg erfährt Lina, dass auch Suzy in Auschwitz ermordet wurde.
„Ich war damals auch fast so alt wie Suzy“, sagt Aline sichtlich bewegt,
die die Geschichte ihrer Cousine Lina zum ersten Mal hört. Obwohl Aline und
Lina zehn Jahre Altersunterschied trennen, haben sie den Krieg ähnlich
überlebt: Aline versteckte sich gemeinsam mit der Schwester von Yves und
deren Ehemann auf verschiedenen Bauernhöfen in Frankreich. Um Aline zu
schützen, verschweigen die beiden ihr bis zum Kriegsende, dass sie Jüdin
ist.
## Es gibt kein richtiges oder falsches Traumata
Als ich drei Jahre zuvor im Internet den Artikel über Alines Vater, Yves de
Boton, finde, geht alles ganz schnell. Die Autorin des Artikels, Rachel
Hall, ist Alines Tochter. Rachel ist Schriftstellerin und hat einen Roman
über die Geschichte ihrer Mutter geschrieben. Sie ist heute auch gekommen.
Bei meinen Recherchen bin ich auch auf einen Artikel von Rachel gestoßen,
in dem sie über ihre jahrelangen Albträume schreibt, die sich kaum von
denen der Tochter von Lina, Alice, unterscheiden. Rachel sagt, sie habe
immer gedacht, das läge daran, dass ihre Mutter so früh mit ihr darüber
gesprochen habe. Alice erzählt, dass sie unter Albträumen gelitten habe,
weil sie eben nicht genau wusste, was mit ihrer Mutter geschehen war.
Mir wird bewusst, dass [10][transgenerationale Traumata] weitergegeben
werden, ob man darüber spricht oder nicht. Mir wird auch klar, dass die
Überlebenden der Shoah alle unterschiedliche Wege haben, mit dem Trauma
umzugehen. Es scheint kein „richtig oder falsch“ zu geben, weil das, was
ihnen angetan wurde, an sich falsch ist.
Während Lina nie über das gesprochen hat, was ihr widerfahren ist, hat
Aline schon in jungen Jahren damit begonnen, an US-amerikanischen Schulen
Vorträge über ihre Geschichte und die Geschichte ihres Vaters Yves de Boton
zu halten. Yves hatte sich bereits vor dem Krieg in verschiedenen
antifaschistischen Bewegungen in Paris politisch engagiert, während er
Medizin studierte. Ab 1941 schloss er sich der Résistance an. Als
Regionalchef des Geheimdiensts war er unter anderem für die Kommunikation
mit dem damaligen Präsidenten des „Freien Frankreichs“, Charles de Gaulle,
zuständig. Dieser organisierte den französischen Widerstand aus dem Exil in
Großbritannien.
Ab 1942 war Yves Mitbegründer der Befreiungsbewegung Mouvement Libération
und ging nach Lyon, wo er zum Stellvertreter des Widerstandskämpfers,
Dichters und Journalisten René Laynaud wurde. Nach der Verhaftung und
Ermordung von Laynaud im April 1944 übernahm de Boton die Leitung der
Gruppe als Kommandant. Am 1. August 1944 wurden Yves und 28 weitere
Widerstandskämpfer*innen seiner Gruppe in Lyon von der Gestapo
verhaftet. Später stellte sich heraus, dass sie von einer Französin
verraten wurden, die sich der Gruppe einige Monate zuvor angeschlossen
hatte.
Sie selbst hatte eine Affäre mit einem Gestapo-Offizier und wurde nach
Kriegsende als Nazi-Kollaborateurin verurteilt. Yves kommt ins berüchtigte
Gefängnis Montluc, wo er gefoltert wird. Am 20. August 1944 wird Yves im
Morgengrauen auf Befehl von Klaus Barbie, auch der Schlächter von Lyon
genannt, zusammen mit etwa 120 weiteren Gefangenen, darunter viele jüdische
Widerstandskämpfer*innen, in das [11][Gefängnis Saint-Genis-Laval] verlegt.
Dort werden sie von deutschen Soldaten und französischen Helfern der
Gestapo in ein leerstehendes Haus des Aufsehers gebracht und mit
Maschinengewehren hingerichtet. Anschließend sprengen sie das Haus. Aline
erzählt mir, dass Zeitzeug*innen berichteten, wie die deutschen
Soldaten zur „Feier des Tages“ vor dem Schauplatz eine Flasche Champagner
aufmachten. Nur fünf Tage später, am 25. August 1944, befreien die
Alliierten Paris.
Yves de Boton wird in Saint-Genis-Laval beigesetzt. Für seinen Kampf gegen
den Nationalsozialismus erhielt er posthum den Titel „Mort pour la France“,
zu Deutsch „Für Frankreich gestorben“, sowie das Kriegskreuz, die
Widerstandsmedaille und die Ehrenlegion. Diejenigen Kamerad*innen des
Widerstands, die überleben, schreiben ein Buch zu Ehren von Yves: „La vie
et la mort de Yves de Boton“. Aline übersetzt es später ins Englische.
Aline ist sechs Jahre alt, als ihr Vater ermordet wird. Nach dem Krieg,
1946, reist sie mit der Schwester von Yves und deren Mann nach Palästina,
um den Rest von Yves’ Familie kennenzulernen. Danach wandern sie in die USA
aus. Der Mutter von Yves wird bis zu ihrem eigenen Tod verschwiegen, dass
ihr Sohn ermordet wurde. Zu groß ist die Angst der Familie, dass die gerade
zur Witwe gewordene Frau den Tod ihres einzigen Sohnes nicht verkraften
würde. Auch die inzwischen neunjährige Aline muss vor ihr so tun, als sei
ihr Vater noch am Leben.
Sie erzählt mir, dass sie noch Jahre später, während ihres Studiums an der
Universität von Berkeley, manchmal glaubt, ihren Vater in Männern
wiederzuerkennen, die ihm ähnlich sehen. Die Geschichte ihres Vaters hat
ihren Lebensweg geprägt, sie ist eine Art Kompass für Alines Leben. Sie
selbst engagiert sich gegen Rassismus und Antisemitismus. Als ich ihr
erzähle, dass in Deutschland sehr wenig über den jüdischen Widerstand
gesprochen wird, während Sophie Scholl und Claus Graf von Stauffenberg, die
beide zunächst Anhänger*innen der NSDAP waren, Nationalheld*innen
sind, ist sie erstaunt.
## Wenig bekannter jüdischer Widerstand
Dieses historische Ungleichgewicht fällt schon bei einer einfachen
Google-Suche auf: Sucht man bei Google nach „jüdischem Widerstand“, so
erhält man 378.000 Ergebnisse in deutscher Sprache, während das Stichwort
„deutscher Widerstand“ mehr als 8,3 Millionen Ergebnisse liefert. Auf
Englisch findet man unter „Jewish Resistance“ mehr als 42 Millionen
Treffer.
Auch [12][die deutsche Wikipedia] ist exemplarisch dafür, wie wenig Platz
jüdischer Widerstand im deutschen Erinnerungsdiskurs einnimmt: Es gibt
keinen eigenen Artikel zum „jüdischen Widerstand“, stattdessen taucht er in
einem kurzen Unterkapitel zum Holocaust auf. Dabei gab es überproportional
mehr jüdischen Widerstand als Widerstand von nichtjüdischen Menschen, vor
allem in Deutschland, auch wenn dies heute gerne anders dargestellt wird.
Laut einer Umfrage der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
glaubt jeder Fünfte in Deutschland, dass seine Vorfahren während des
Zweiten Weltkriegs „potenziellen Opfern“ geholfen haben. Tatsächlich waren
es weniger als 0,1 Prozent. Wenig bekannt ist dagegen die
Herbert-Baum-Gruppe, eine jüdisch-kommunistische Widerstandsgruppe aus
Berlin, die Flugblätter und Untergrundzeitungen herausgab, jüdische
Zwangsarbeiter*innen unterstützte und Jüdinnen und Juden half,
unterzutauchen, um ihrer Deportation zu entgehen.
Auch dass Tausende von Jüdinnen und Juden, die sich in ganz Europa
versteckt hielten, am Partisanenkrieg gegen die Deutschen teilnahmen, ist
nur wenigen bekannt. Jüdische und nichtjüdische Partisan*innen planten
Anschläge auf das Eisenbahnnetz in Europa, um die Züge aufzuhalten, mit
denen die Menschen in die Todeslager deportiert wurden. Insgesamt wurden so
im Jahr 1943 rund 11.000 Gleise gesprengt, 9.000 Züge zum Entgleisen
gebracht und 40.000 Waggons zerstört. Schätzungen von Historiker*innen
zufolge waren europaweit bis zu 1,5 Millionen Jüdinnen*Juden am
Partisanenkampf und am regulären militärischen Kampf gegen die
NS-Herrschaft beteiligt.
Zum Abschied schenkt mir Aline das Buch „They fought back – the story of
jewish resistance in Nazi Europe“, von Yuri Suhl.
Als ich nach dem 7. Oktober mit Lina und Aline per Telefon spreche, eint
sie die Sorge um den wachsenden Hass gegenüber Muslim*innen und
Jüdinnen*Juden weltweit. Das kennen sie schon, sagen beide. Aber es
mache ihnen trotzdem Angst. Lina äußert auch ihre Bedenken über meinen
Text: Jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt dafür, um mit ihrer Geschichte
an die Öffentlichkeit zu gehen, sagt sie. Die Vorstellung, dass die
96-Jährige, die 30 Jahre lang nicht über das sprechen konnte, was ihr
während der Shoah widerfahren ist, heute wieder Angst haben muss, ihre
Geschichte zu erzählen, erschüttert mich. Trotzdem schreibe ich diesen
Artikel zu Ende. Für sie und Aline – damit die Geschichten, die sie uns
anvertraut haben, niemals vergessen werden.
Diese Recherche ist im Rahmen des [13][Transatlantic Media Fellowship] der
Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt worden.
19 Dec 2023
## LINKS
[1] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5769807
[2] /Trauer-und-Wut/!5969350
[3] /Leben-nach-dem-7-Oktober/!5972433
[4] /Antisemitismus-an-US-Eliteunis/!5977408
[5] https://maitron.fr/spip.php?article17361
[6] https://lithub.com/my-grandfather-the-french-resistance-fighter/
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Maquis
[8] /Antisemitischer-Anschlag-von-Halle/!5803902
[9] /Aiwanger-und-die-Folgen/!5957931
[10] https://medicamondiale.org/gewalt-gegen-frauen/trauma-und-traumabewaeltigu…
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Saint-Genis-Laval
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust
[13] https://us.boell.org/en/categories/media-fellowships
## AUTOREN
Sonja Smolenski
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