| # taz.de -- Holocaust-Überlebende in den USA: Die Widerständigen | |
| > Die Cousinen Aline und Lina haben sich jahrzehntelang nicht mehr gesehen. | |
| > Unsere Autorin und Nachfahrin der Familie hat sie wieder | |
| > zusammengebracht. | |
| Sehr kurz nachdem die Welt am 7. Oktober Zeuge der Ermordung von | |
| unschuldigen Menschen durch die radikalislamische Terrororganisation Hamas | |
| wird, bejubeln Teile meiner linken Bubble – jene, die sonst unermüdlich | |
| predigen, marginalisierten Stimmen Gehör zu schenken – mit erschreckender | |
| Skrupellosigkeit eine der ältesten Formen der Marginalisierung: den blanken | |
| Hass gegen Jüdinnen und Juden. | |
| Seitdem zerbrechen fast täglich alle Prinzipien, die in dieser Blase als | |
| unantastbar galten und über Jahre hinweg wie ein Mantra wiederholt wurden. | |
| Sie scheinen nichts mehr zu gelten, solange die Marginalisierten jüdisch | |
| sind. | |
| Seither ist viel über das Pogrom gesagt worden. Manches würde ich am | |
| liebsten aus meinem Gedächtnis streichen, anderes hat mir geholfen, die | |
| Zeit bis heute irgendwie zu überstehen. Dazu gehört die Arbeit kluger und | |
| mutiger Menschen wie der großartigen [1][Laura Cazés], [2][Erica Zingher] | |
| oder meiner lieben Freundin [3][Katja Sigutina.] | |
| Während sie die richtigen Worte für ihren, für unseren Schmerz finden, | |
| verharre ich in Ohnmacht, hülle mich in Schweigen und zerbreche fast an | |
| meiner eigenen Verzweiflung über den Schulterschluss von Teilen der Linken | |
| mit Islamist*innen, die die menschenverachtenden Terrorakte als | |
| „Widerstand“ verharmlosen. Nichtsdestotrotz sitzt mir die Deadline für | |
| diesen Artikel – ausgerechnet über den jüdischen Widerstand im | |
| Nationalsozialismus in meiner eigenen Familie – im Nacken. Während ich ihn | |
| schreibe, frage ich mich: für wen eigentlich? | |
| Was ursprünglich als Versuch gedacht war, den im kollektiven Gedächtnis der | |
| Deutschen verdrängten jüdischen Widerstand während der Shoah anhand meiner | |
| Familiengeschichte nachzuzeichnen, hat nach dem 7. Oktober auf | |
| unvorhergesehene Weise eine ganz andere Dringlichkeit bekommen: Wie kann | |
| ich die Verfolgungsgeschichte und das transgenerationale Trauma meiner | |
| Familie in einer Zeit öffentlich machen, in der Teile meines vermeintlich | |
| progressiven Umfelds die Shoah relativieren und eben ausgerechnet das Wort | |
| „Widerstand“ für ihre Zwecke instrumentalisieren? Lange habe ich auf den | |
| Bildschirm meines Laptops gestarrt und überlegt, mit wem ich diese | |
| Geschichte nach dem 7.Oktober überhaupt noch teilen will. | |
| Jedenfalls nicht [4][mit jenem Teil der linken Bubble,] der am 9. November | |
| eine performative Instagram-Story zum Gedenken an die Novemberpogrome | |
| postet und am nächsten Tag den einzigen jüdischen Staat der Welt | |
| dämonisiert, der gerade selbst ein Pogrom erlebt hat. Und auch nicht mit | |
| denjenigen, die jüdisches Leid und jüdische Erinnerungskultur für ihre | |
| Agenda missbrauchen, um andere Marginalisierte systematisch zu entrechten. | |
| Stattdessen schreibe ich sie nun für diejenigen, deren Überleben in einer | |
| patriarchalen, antisemitischen, rassistischen Gesellschaft bereits | |
| Widerstand bedeutet und die durch die ständige Instrumentalisierung des | |
| Begriffs erneut Gewalt erfahren. Ich schreibe sie für die Frauen in dieser | |
| Geschichte, die mir ihre Geschichte anvertraut haben. | |
| Jene Geschichte beginnt vor Jahren, als ich während meiner Schulzeit zum | |
| ersten Mal davon hörte, dass die Cousine meiner Oma nach 1945 verloren | |
| gegangen sei. Damals bat mich unser Geschichtslehrer als Einzige in der | |
| Klasse einen Vortrag über „die spannende Verfolgungsgeschichte“ meiner | |
| Familie zu halten. Zu Hause befragte ich meine Mutter, die mir von der | |
| verschollenen Aline und ihrem Vater erzählte, der im französischen | |
| Widerstand aktiv gewesen ist. | |
| ## Eine verschollene Cousine | |
| Mich ließ Alines Geschichte fortan nicht los. Wie durch ein Wunder hatte | |
| die damals Siebenjährige den Holocaust in Frankreich überlebt. Ihre Mutter | |
| Esther, die in den 1920er Jahren aus der Sowjetunion nach Frankreich | |
| geflohen war, starb, ihr Vater Yves wurde wegen seiner Tätigkeit in der | |
| Résistance 1944 von der Gestapo erschossen. Aline kam in die Obhut von | |
| Yves’ Schwester, die sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs adoptierte. | |
| Gemeinsam emigrierten sie in die USA. Das war die letzte Information, die | |
| meine Familie hatte. Wo Aline lebte oder ob sie überhaupt noch lebte, | |
| wusste jahrzehntelang niemand so genau. Nicht dass sie es nicht gerne | |
| gewusst hätten, aber der Kalte Krieg und die Sowjetunion hinderten sie | |
| daran, in den USA nach ihr zu suchen. Und als der Kalte Krieg vorbei war?, | |
| fragte ich meine Oma, als wir uns einmal über Aline unterhielten. Wo hätten | |
| sie denn anfangen sollen zu suchen?, entgegnete sie. Was ihnen damals | |
| fehlte, war eine Suchmaschine, die Möglichkeiten des Internets, mit der sie | |
| Aline hätten finden können. | |
| Obwohl mich Alines Geschichte jahrelang begleitete, kam ich nicht auf die | |
| Idee, selbst nach ihr zu suchen. Bis ich im Jahr 2020 ein Interview mit | |
| meiner Großmutter führte, die als Kind ebenfalls den Holocaust überlebt | |
| hatte. Während des Interviews fragte ich sie nach ihrer verlorengegangenen | |
| Cousine, die genau wie sie 1937 geboren wurde und demnach mittlerweile 83 | |
| Jahre alt sein musste. Meine Großmutter erzählte mir alles, was sie über | |
| Aline wusste. Ihr Vater Yves war in Jaffa als Sohn sephardischer Juden | |
| geboren worden, er kam nach Frankreich, um Medizin zu studieren. Dort | |
| lernte er Alines Mutter Esther kennen. | |
| Sie erzählte, dass sich ihr Vater ab 1941 in der Résistance engagierte. | |
| Alines Mutter starb 1940, im Alter von 29 Jahren, an einer Krankheit, die | |
| heutzutage hätte geheilt werden können. Als wir auflegten, gab ich | |
| [5][„Yves de Boton“] in die Suchmaschine ein, die meiner Großmutter damals | |
| fehlte – [6][und stieß auf einen Artikel,] der die nächsten Jahre meines | |
| Lebens bestimmen sollte. | |
| Drei Jahre später, im September 2023, sitze ich in einem schönen alten | |
| Backsteinhaus in einer typischen US-amerikanischen Vorstadt irgendwo in New | |
| Jersey. Ich bin zu Gast bei der 96-jährigen Lina Mitchell und ihrer | |
| Familie. Während ihr Urenkel durch das helle Wohnzimmer krabbelt, deckt | |
| Lina mit ihrer Tochter Alice den großen runden Tisch und hört den | |
| Gesprächen ihrer Gäste zu. Aufmerksam gleitet ihr warmer, sanfter Blick | |
| durch den Raum. | |
| Anlass für das gemeinsame Essen ist der Besuch von Linas Cousine Aline. Das | |
| letzte Mal haben sich die beiden in den 1950er Jahren gesehen. Meine Suche | |
| nach Aline hat auch die beiden Cousinen wieder zusammengebracht. Und dafür | |
| gesorgt, dass sich an diesem Tag vier Generationen unter einem Dach | |
| versammeln. Alines Familie ist aus verschiedenen Teilen der USA angereist, | |
| um Linas Familie und mich, den Gast aus Deutschland, zu sehen. | |
| Nun sitzt Aline, die verlorene Cousine, mir an diesem Septembertag nach | |
| drei Jahren E-Mail-Kontakt zum ersten Mal persönlich am Tisch gegenüber. | |
| Sie erzählt, wie sie Lina nach dem Krieg in Kalifornien wiedertraf. Aline | |
| war damals 18 Jahre alt. Es war das einzige Treffen, die beiden verloren | |
| sich aus den Augen. Aline wusste als junge Frau den Kontakt zu ihrer | |
| Familie noch nicht zu schätzen. Lina, die für ihre 96 Jahre ausgesprochen | |
| fit ist, sitzt lächelnd daneben. Sie wirkt zufrieden, dass sie jetzt wieder | |
| zusammengefunden haben. | |
| Auch Lina hat die Shoah überlebt und ist eine Cousine meiner Großmutter, | |
| von der ich bis zu meiner Suche nach Aline kaum etwas wusste. Das lag nicht | |
| zuletzt daran, dass Linas Eltern ebenfalls aus der Sowjetunion nach Paris | |
| ausgewandert sind, als sie zwei Jahre alt war. Zehn Jahre später | |
| marschieren die Nazis in Frankreich ein. | |
| Ihr Vater wird als Sowjetbürger gleich zu Beginn des Krieges deportiert. | |
| Lina lebt zunächst in Paris, später flieht sie mit ihrer Mutter nach | |
| Südfrankreich. Auch dort sind sie nicht lange vor dem antisemitischen | |
| Verfolgungswahn der Nationalsozialisten sicher. Sie müssen einen gelben | |
| Stern an ihre Jacken anbringen und sich verstecken. Im September 1942 wird | |
| auch Linas Mutter vor ihren Augen mitten in der Nacht von Polizisten | |
| abgeholt und deportiert. | |
| Lina überlebt nur, weil sie sich gegen Ende des Krieges an einem Ort in den | |
| französischen Alpen verstecken kann, der früher als Kinderferienlager | |
| diente und während des Krieges zum Treffpunkt französischer | |
| Widerstandskämpfer wurde, [7][auch als Maquis bekannt.] Um sich dort | |
| verstecken zu können, muss sie als Gegenleistung schwere körperliche Arbeit | |
| verrichten. | |
| Als der Krieg vorbei ist, macht sich Lina auf die Suche nach ihren Eltern. | |
| Nach einigen Wochen findet sie heraus: Ihr Vater und ihre Mutter sind in | |
| Auschwitz ermordet worden. Ihre Großeltern, die schon vor dem Krieg nach | |
| New York ausgewandert waren, überreden sie, Frankreich zu verlassen und zu | |
| ihnen in die USA zu kommen. 1947, im Alter von 19 Jahren, wandert Lina | |
| schließlich aus. Jahrzehntelang kann sie nicht darüber sprechen, was ihr in | |
| Europa widerfahren ist. Keine Worte können den Schmerz beschreiben, den die | |
| zierliche Frau erlitten hat. Erst 30 Jahre später schreibt sie auf, welche | |
| Schrecken sie erleiden musste. | |
| „Stories I never told you“, steht auf den Memoiren, in denen Lina zum | |
| ersten Mal über ihre eigenen Erlebnisse während der Shoah spricht. „Ich | |
| habe es für meine Enkelkinder gemacht, aber es war auch eine Art Therapie | |
| für mich“, erzählt sie. Auch ihre Tochter Alice wusste lange Zeit nicht | |
| genau, was mit ihr geschehen war, bis sie die Memoiren ihrer Mutter in den | |
| Händen hielt. „Wahrscheinlich wollte sie mich schützen“, sagt Alice, als | |
| wir allein sind. „Ich glaube nicht, dass das funktioniert hat.“ Jahrelang | |
| habe sie Albträume gehabt, dass die Deutschen eines Tages kommen und sie | |
| holen würden. | |
| Beim Essen fragen sie mich, wie es heute mit dem Antisemitismus in | |
| Deutschland aussieht. „Schrecklich“, schießt es mir sofort durch den Kopf. | |
| Ich denke an den [8][rechtsterroristischen Anschlag in Halle 2019,] an die | |
| holocaustrelativierenden Corona-Demonstrationen, an die diversen | |
| Schlussstrichdebatten, die es seit 1945 gibt, und an die bewachten | |
| Synagogen im Land. | |
| Als ich zu Besuch bei Lina und Alice bin, bestimmt auch gerade die | |
| [9][Debatte über Hubert Aiwanger] die Nachrichten in Deutschland. Aiwanger, | |
| Chef der Freien Wähler in Bayern und stellvertretender Ministerpräsident, | |
| haben die antisemitischen Pamphlete aus seiner Schulzeit – oder | |
| „Jugendsünden“, wie man in Bayern sagt – eher noch populärer gemacht. E… | |
| paar Wochen später, bei der Landtagswahl im Herbst, erreichten sie ein | |
| Rekordergebnis. „Schwierig“, antworte ich stattdessen, während mich Lina | |
| und Aline erwartungsvoll anschauen. | |
| Wobei ich versuche, meine Erfahrungen als Jüdin in Deutschland nicht | |
| herunterzuspielen – und gleichzeitig meine Worte mit Bedacht zu wählen, um | |
| niemanden im Raum zu retraumatisieren. Dass genau einen Monat später, am 7. | |
| Oktober, die antisemitische Gewalt weltweit explodieren und das Pogrom der | |
| radikalislamischen Hamas als „Befreiungskampf“ bezeichnet werden würde, | |
| ahnen wir damals noch nicht. | |
| Lina steht auf, geht in ihr Zimmer und kommt mit einem Bild in der Hand | |
| zurück: „Das ist Suzy.“ Es ist ein Schwarzweißfoto von einem kleinen | |
| Mädchen. Lina stockt. Kein Tag sei vergangen, an dem sie nicht an sie | |
| gedacht habe. Bevor sie sich in den Alpen versteckt, soll Lina 1942 als | |
| 15-Jährige mit der fünfjährigen Suzy, deren Eltern deportiert wurden, nach | |
| Portugal fliehen, um von dort aus ein Schiff in die USA zu nehmen. Der | |
| Fluchtversuch scheitert, sie müssen nach Frankreich zurückkehren. Nach dem | |
| Krieg erfährt Lina, dass auch Suzy in Auschwitz ermordet wurde. | |
| „Ich war damals auch fast so alt wie Suzy“, sagt Aline sichtlich bewegt, | |
| die die Geschichte ihrer Cousine Lina zum ersten Mal hört. Obwohl Aline und | |
| Lina zehn Jahre Altersunterschied trennen, haben sie den Krieg ähnlich | |
| überlebt: Aline versteckte sich gemeinsam mit der Schwester von Yves und | |
| deren Ehemann auf verschiedenen Bauernhöfen in Frankreich. Um Aline zu | |
| schützen, verschweigen die beiden ihr bis zum Kriegsende, dass sie Jüdin | |
| ist. | |
| ## Es gibt kein richtiges oder falsches Traumata | |
| Als ich drei Jahre zuvor im Internet den Artikel über Alines Vater, Yves de | |
| Boton, finde, geht alles ganz schnell. Die Autorin des Artikels, Rachel | |
| Hall, ist Alines Tochter. Rachel ist Schriftstellerin und hat einen Roman | |
| über die Geschichte ihrer Mutter geschrieben. Sie ist heute auch gekommen. | |
| Bei meinen Recherchen bin ich auch auf einen Artikel von Rachel gestoßen, | |
| in dem sie über ihre jahrelangen Albträume schreibt, die sich kaum von | |
| denen der Tochter von Lina, Alice, unterscheiden. Rachel sagt, sie habe | |
| immer gedacht, das läge daran, dass ihre Mutter so früh mit ihr darüber | |
| gesprochen habe. Alice erzählt, dass sie unter Albträumen gelitten habe, | |
| weil sie eben nicht genau wusste, was mit ihrer Mutter geschehen war. | |
| Mir wird bewusst, dass [10][transgenerationale Traumata] weitergegeben | |
| werden, ob man darüber spricht oder nicht. Mir wird auch klar, dass die | |
| Überlebenden der Shoah alle unterschiedliche Wege haben, mit dem Trauma | |
| umzugehen. Es scheint kein „richtig oder falsch“ zu geben, weil das, was | |
| ihnen angetan wurde, an sich falsch ist. | |
| Während Lina nie über das gesprochen hat, was ihr widerfahren ist, hat | |
| Aline schon in jungen Jahren damit begonnen, an US-amerikanischen Schulen | |
| Vorträge über ihre Geschichte und die Geschichte ihres Vaters Yves de Boton | |
| zu halten. Yves hatte sich bereits vor dem Krieg in verschiedenen | |
| antifaschistischen Bewegungen in Paris politisch engagiert, während er | |
| Medizin studierte. Ab 1941 schloss er sich der Résistance an. Als | |
| Regionalchef des Geheimdiensts war er unter anderem für die Kommunikation | |
| mit dem damaligen Präsidenten des „Freien Frankreichs“, Charles de Gaulle, | |
| zuständig. Dieser organisierte den französischen Widerstand aus dem Exil in | |
| Großbritannien. | |
| Ab 1942 war Yves Mitbegründer der Befreiungsbewegung Mouvement Libération | |
| und ging nach Lyon, wo er zum Stellvertreter des Widerstandskämpfers, | |
| Dichters und Journalisten René Laynaud wurde. Nach der Verhaftung und | |
| Ermordung von Laynaud im April 1944 übernahm de Boton die Leitung der | |
| Gruppe als Kommandant. Am 1. August 1944 wurden Yves und 28 weitere | |
| Widerstandskämpfer*innen seiner Gruppe in Lyon von der Gestapo | |
| verhaftet. Später stellte sich heraus, dass sie von einer Französin | |
| verraten wurden, die sich der Gruppe einige Monate zuvor angeschlossen | |
| hatte. | |
| Sie selbst hatte eine Affäre mit einem Gestapo-Offizier und wurde nach | |
| Kriegsende als Nazi-Kollaborateurin verurteilt. Yves kommt ins berüchtigte | |
| Gefängnis Montluc, wo er gefoltert wird. Am 20. August 1944 wird Yves im | |
| Morgengrauen auf Befehl von Klaus Barbie, auch der Schlächter von Lyon | |
| genannt, zusammen mit etwa 120 weiteren Gefangenen, darunter viele jüdische | |
| Widerstandskämpfer*innen, in das [11][Gefängnis Saint-Genis-Laval] verlegt. | |
| Dort werden sie von deutschen Soldaten und französischen Helfern der | |
| Gestapo in ein leerstehendes Haus des Aufsehers gebracht und mit | |
| Maschinengewehren hingerichtet. Anschließend sprengen sie das Haus. Aline | |
| erzählt mir, dass Zeitzeug*innen berichteten, wie die deutschen | |
| Soldaten zur „Feier des Tages“ vor dem Schauplatz eine Flasche Champagner | |
| aufmachten. Nur fünf Tage später, am 25. August 1944, befreien die | |
| Alliierten Paris. | |
| Yves de Boton wird in Saint-Genis-Laval beigesetzt. Für seinen Kampf gegen | |
| den Nationalsozialismus erhielt er posthum den Titel „Mort pour la France“, | |
| zu Deutsch „Für Frankreich gestorben“, sowie das Kriegskreuz, die | |
| Widerstandsmedaille und die Ehrenlegion. Diejenigen Kamerad*innen des | |
| Widerstands, die überleben, schreiben ein Buch zu Ehren von Yves: „La vie | |
| et la mort de Yves de Boton“. Aline übersetzt es später ins Englische. | |
| Aline ist sechs Jahre alt, als ihr Vater ermordet wird. Nach dem Krieg, | |
| 1946, reist sie mit der Schwester von Yves und deren Mann nach Palästina, | |
| um den Rest von Yves’ Familie kennenzulernen. Danach wandern sie in die USA | |
| aus. Der Mutter von Yves wird bis zu ihrem eigenen Tod verschwiegen, dass | |
| ihr Sohn ermordet wurde. Zu groß ist die Angst der Familie, dass die gerade | |
| zur Witwe gewordene Frau den Tod ihres einzigen Sohnes nicht verkraften | |
| würde. Auch die inzwischen neunjährige Aline muss vor ihr so tun, als sei | |
| ihr Vater noch am Leben. | |
| Sie erzählt mir, dass sie noch Jahre später, während ihres Studiums an der | |
| Universität von Berkeley, manchmal glaubt, ihren Vater in Männern | |
| wiederzuerkennen, die ihm ähnlich sehen. Die Geschichte ihres Vaters hat | |
| ihren Lebensweg geprägt, sie ist eine Art Kompass für Alines Leben. Sie | |
| selbst engagiert sich gegen Rassismus und Antisemitismus. Als ich ihr | |
| erzähle, dass in Deutschland sehr wenig über den jüdischen Widerstand | |
| gesprochen wird, während Sophie Scholl und Claus Graf von Stauffenberg, die | |
| beide zunächst Anhänger*innen der NSDAP waren, Nationalheld*innen | |
| sind, ist sie erstaunt. | |
| ## Wenig bekannter jüdischer Widerstand | |
| Dieses historische Ungleichgewicht fällt schon bei einer einfachen | |
| Google-Suche auf: Sucht man bei Google nach „jüdischem Widerstand“, so | |
| erhält man 378.000 Ergebnisse in deutscher Sprache, während das Stichwort | |
| „deutscher Widerstand“ mehr als 8,3 Millionen Ergebnisse liefert. Auf | |
| Englisch findet man unter „Jewish Resistance“ mehr als 42 Millionen | |
| Treffer. | |
| Auch [12][die deutsche Wikipedia] ist exemplarisch dafür, wie wenig Platz | |
| jüdischer Widerstand im deutschen Erinnerungsdiskurs einnimmt: Es gibt | |
| keinen eigenen Artikel zum „jüdischen Widerstand“, stattdessen taucht er in | |
| einem kurzen Unterkapitel zum Holocaust auf. Dabei gab es überproportional | |
| mehr jüdischen Widerstand als Widerstand von nichtjüdischen Menschen, vor | |
| allem in Deutschland, auch wenn dies heute gerne anders dargestellt wird. | |
| Laut einer Umfrage der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft | |
| glaubt jeder Fünfte in Deutschland, dass seine Vorfahren während des | |
| Zweiten Weltkriegs „potenziellen Opfern“ geholfen haben. Tatsächlich waren | |
| es weniger als 0,1 Prozent. Wenig bekannt ist dagegen die | |
| Herbert-Baum-Gruppe, eine jüdisch-kommunistische Widerstandsgruppe aus | |
| Berlin, die Flugblätter und Untergrundzeitungen herausgab, jüdische | |
| Zwangsarbeiter*innen unterstützte und Jüdinnen und Juden half, | |
| unterzutauchen, um ihrer Deportation zu entgehen. | |
| Auch dass Tausende von Jüdinnen und Juden, die sich in ganz Europa | |
| versteckt hielten, am Partisanenkrieg gegen die Deutschen teilnahmen, ist | |
| nur wenigen bekannt. Jüdische und nichtjüdische Partisan*innen planten | |
| Anschläge auf das Eisenbahnnetz in Europa, um die Züge aufzuhalten, mit | |
| denen die Menschen in die Todeslager deportiert wurden. Insgesamt wurden so | |
| im Jahr 1943 rund 11.000 Gleise gesprengt, 9.000 Züge zum Entgleisen | |
| gebracht und 40.000 Waggons zerstört. Schätzungen von Historiker*innen | |
| zufolge waren europaweit bis zu 1,5 Millionen Jüdinnen*Juden am | |
| Partisanenkampf und am regulären militärischen Kampf gegen die | |
| NS-Herrschaft beteiligt. | |
| Zum Abschied schenkt mir Aline das Buch „They fought back – the story of | |
| jewish resistance in Nazi Europe“, von Yuri Suhl. | |
| Als ich nach dem 7. Oktober mit Lina und Aline per Telefon spreche, eint | |
| sie die Sorge um den wachsenden Hass gegenüber Muslim*innen und | |
| Jüdinnen*Juden weltweit. Das kennen sie schon, sagen beide. Aber es | |
| mache ihnen trotzdem Angst. Lina äußert auch ihre Bedenken über meinen | |
| Text: Jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt dafür, um mit ihrer Geschichte | |
| an die Öffentlichkeit zu gehen, sagt sie. Die Vorstellung, dass die | |
| 96-Jährige, die 30 Jahre lang nicht über das sprechen konnte, was ihr | |
| während der Shoah widerfahren ist, heute wieder Angst haben muss, ihre | |
| Geschichte zu erzählen, erschüttert mich. Trotzdem schreibe ich diesen | |
| Artikel zu Ende. Für sie und Aline – damit die Geschichten, die sie uns | |
| anvertraut haben, niemals vergessen werden. | |
| Diese Recherche ist im Rahmen des [13][Transatlantic Media Fellowship] der | |
| Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt worden. | |
| 19 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5769807 | |
| [2] /Trauer-und-Wut/!5969350 | |
| [3] /Leben-nach-dem-7-Oktober/!5972433 | |
| [4] /Antisemitismus-an-US-Eliteunis/!5977408 | |
| [5] https://maitron.fr/spip.php?article17361 | |
| [6] https://lithub.com/my-grandfather-the-french-resistance-fighter/ | |
| [7] https://de.wikipedia.org/wiki/Maquis | |
| [8] /Antisemitischer-Anschlag-von-Halle/!5803902 | |
| [9] /Aiwanger-und-die-Folgen/!5957931 | |
| [10] https://medicamondiale.org/gewalt-gegen-frauen/trauma-und-traumabewaeltigu… | |
| [11] https://de.wikipedia.org/wiki/Saint-Genis-Laval | |
| [12] https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust | |
| [13] https://us.boell.org/en/categories/media-fellowships | |
| ## AUTOREN | |
| Sonja Smolenski | |
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