# taz.de -- Holocaust-Überlebende in den USA: Die Widerständigen | |
> Die Cousinen Aline und Lina haben sich jahrzehntelang nicht mehr gesehen. | |
> Unsere Autorin und Nachfahrin der Familie hat sie wieder | |
> zusammengebracht. | |
Sehr kurz nachdem die Welt am 7. Oktober Zeuge der Ermordung von | |
unschuldigen Menschen durch die radikalislamische Terrororganisation Hamas | |
wird, bejubeln Teile meiner linken Bubble – jene, die sonst unermüdlich | |
predigen, marginalisierten Stimmen Gehör zu schenken – mit erschreckender | |
Skrupellosigkeit eine der ältesten Formen der Marginalisierung: den blanken | |
Hass gegen Jüdinnen und Juden. | |
Seitdem zerbrechen fast täglich alle Prinzipien, die in dieser Blase als | |
unantastbar galten und über Jahre hinweg wie ein Mantra wiederholt wurden. | |
Sie scheinen nichts mehr zu gelten, solange die Marginalisierten jüdisch | |
sind. | |
Seither ist viel über das Pogrom gesagt worden. Manches würde ich am | |
liebsten aus meinem Gedächtnis streichen, anderes hat mir geholfen, die | |
Zeit bis heute irgendwie zu überstehen. Dazu gehört die Arbeit kluger und | |
mutiger Menschen wie der großartigen [1][Laura Cazés], [2][Erica Zingher] | |
oder meiner lieben Freundin [3][Katja Sigutina.] | |
Während sie die richtigen Worte für ihren, für unseren Schmerz finden, | |
verharre ich in Ohnmacht, hülle mich in Schweigen und zerbreche fast an | |
meiner eigenen Verzweiflung über den Schulterschluss von Teilen der Linken | |
mit Islamist*innen, die die menschenverachtenden Terrorakte als | |
„Widerstand“ verharmlosen. Nichtsdestotrotz sitzt mir die Deadline für | |
diesen Artikel – ausgerechnet über den jüdischen Widerstand im | |
Nationalsozialismus in meiner eigenen Familie – im Nacken. Während ich ihn | |
schreibe, frage ich mich: für wen eigentlich? | |
Was ursprünglich als Versuch gedacht war, den im kollektiven Gedächtnis der | |
Deutschen verdrängten jüdischen Widerstand während der Shoah anhand meiner | |
Familiengeschichte nachzuzeichnen, hat nach dem 7. Oktober auf | |
unvorhergesehene Weise eine ganz andere Dringlichkeit bekommen: Wie kann | |
ich die Verfolgungsgeschichte und das transgenerationale Trauma meiner | |
Familie in einer Zeit öffentlich machen, in der Teile meines vermeintlich | |
progressiven Umfelds die Shoah relativieren und eben ausgerechnet das Wort | |
„Widerstand“ für ihre Zwecke instrumentalisieren? Lange habe ich auf den | |
Bildschirm meines Laptops gestarrt und überlegt, mit wem ich diese | |
Geschichte nach dem 7.Oktober überhaupt noch teilen will. | |
Jedenfalls nicht [4][mit jenem Teil der linken Bubble,] der am 9. November | |
eine performative Instagram-Story zum Gedenken an die Novemberpogrome | |
postet und am nächsten Tag den einzigen jüdischen Staat der Welt | |
dämonisiert, der gerade selbst ein Pogrom erlebt hat. Und auch nicht mit | |
denjenigen, die jüdisches Leid und jüdische Erinnerungskultur für ihre | |
Agenda missbrauchen, um andere Marginalisierte systematisch zu entrechten. | |
Stattdessen schreibe ich sie nun für diejenigen, deren Überleben in einer | |
patriarchalen, antisemitischen, rassistischen Gesellschaft bereits | |
Widerstand bedeutet und die durch die ständige Instrumentalisierung des | |
Begriffs erneut Gewalt erfahren. Ich schreibe sie für die Frauen in dieser | |
Geschichte, die mir ihre Geschichte anvertraut haben. | |
Jene Geschichte beginnt vor Jahren, als ich während meiner Schulzeit zum | |
ersten Mal davon hörte, dass die Cousine meiner Oma nach 1945 verloren | |
gegangen sei. Damals bat mich unser Geschichtslehrer als Einzige in der | |
Klasse einen Vortrag über „die spannende Verfolgungsgeschichte“ meiner | |
Familie zu halten. Zu Hause befragte ich meine Mutter, die mir von der | |
verschollenen Aline und ihrem Vater erzählte, der im französischen | |
Widerstand aktiv gewesen ist. | |
## Eine verschollene Cousine | |
Mich ließ Alines Geschichte fortan nicht los. Wie durch ein Wunder hatte | |
die damals Siebenjährige den Holocaust in Frankreich überlebt. Ihre Mutter | |
Esther, die in den 1920er Jahren aus der Sowjetunion nach Frankreich | |
geflohen war, starb, ihr Vater Yves wurde wegen seiner Tätigkeit in der | |
Résistance 1944 von der Gestapo erschossen. Aline kam in die Obhut von | |
Yves’ Schwester, die sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs adoptierte. | |
Gemeinsam emigrierten sie in die USA. Das war die letzte Information, die | |
meine Familie hatte. Wo Aline lebte oder ob sie überhaupt noch lebte, | |
wusste jahrzehntelang niemand so genau. Nicht dass sie es nicht gerne | |
gewusst hätten, aber der Kalte Krieg und die Sowjetunion hinderten sie | |
daran, in den USA nach ihr zu suchen. Und als der Kalte Krieg vorbei war?, | |
fragte ich meine Oma, als wir uns einmal über Aline unterhielten. Wo hätten | |
sie denn anfangen sollen zu suchen?, entgegnete sie. Was ihnen damals | |
fehlte, war eine Suchmaschine, die Möglichkeiten des Internets, mit der sie | |
Aline hätten finden können. | |
Obwohl mich Alines Geschichte jahrelang begleitete, kam ich nicht auf die | |
Idee, selbst nach ihr zu suchen. Bis ich im Jahr 2020 ein Interview mit | |
meiner Großmutter führte, die als Kind ebenfalls den Holocaust überlebt | |
hatte. Während des Interviews fragte ich sie nach ihrer verlorengegangenen | |
Cousine, die genau wie sie 1937 geboren wurde und demnach mittlerweile 83 | |
Jahre alt sein musste. Meine Großmutter erzählte mir alles, was sie über | |
Aline wusste. Ihr Vater Yves war in Jaffa als Sohn sephardischer Juden | |
geboren worden, er kam nach Frankreich, um Medizin zu studieren. Dort | |
lernte er Alines Mutter Esther kennen. | |
Sie erzählte, dass sich ihr Vater ab 1941 in der Résistance engagierte. | |
Alines Mutter starb 1940, im Alter von 29 Jahren, an einer Krankheit, die | |
heutzutage hätte geheilt werden können. Als wir auflegten, gab ich | |
[5][„Yves de Boton“] in die Suchmaschine ein, die meiner Großmutter damals | |
fehlte – [6][und stieß auf einen Artikel,] der die nächsten Jahre meines | |
Lebens bestimmen sollte. | |
Drei Jahre später, im September 2023, sitze ich in einem schönen alten | |
Backsteinhaus in einer typischen US-amerikanischen Vorstadt irgendwo in New | |
Jersey. Ich bin zu Gast bei der 96-jährigen Lina Mitchell und ihrer | |
Familie. Während ihr Urenkel durch das helle Wohnzimmer krabbelt, deckt | |
Lina mit ihrer Tochter Alice den großen runden Tisch und hört den | |
Gesprächen ihrer Gäste zu. Aufmerksam gleitet ihr warmer, sanfter Blick | |
durch den Raum. | |
Anlass für das gemeinsame Essen ist der Besuch von Linas Cousine Aline. Das | |
letzte Mal haben sich die beiden in den 1950er Jahren gesehen. Meine Suche | |
nach Aline hat auch die beiden Cousinen wieder zusammengebracht. Und dafür | |
gesorgt, dass sich an diesem Tag vier Generationen unter einem Dach | |
versammeln. Alines Familie ist aus verschiedenen Teilen der USA angereist, | |
um Linas Familie und mich, den Gast aus Deutschland, zu sehen. | |
Nun sitzt Aline, die verlorene Cousine, mir an diesem Septembertag nach | |
drei Jahren E-Mail-Kontakt zum ersten Mal persönlich am Tisch gegenüber. | |
Sie erzählt, wie sie Lina nach dem Krieg in Kalifornien wiedertraf. Aline | |
war damals 18 Jahre alt. Es war das einzige Treffen, die beiden verloren | |
sich aus den Augen. Aline wusste als junge Frau den Kontakt zu ihrer | |
Familie noch nicht zu schätzen. Lina, die für ihre 96 Jahre ausgesprochen | |
fit ist, sitzt lächelnd daneben. Sie wirkt zufrieden, dass sie jetzt wieder | |
zusammengefunden haben. | |
Auch Lina hat die Shoah überlebt und ist eine Cousine meiner Großmutter, | |
von der ich bis zu meiner Suche nach Aline kaum etwas wusste. Das lag nicht | |
zuletzt daran, dass Linas Eltern ebenfalls aus der Sowjetunion nach Paris | |
ausgewandert sind, als sie zwei Jahre alt war. Zehn Jahre später | |
marschieren die Nazis in Frankreich ein. | |
Ihr Vater wird als Sowjetbürger gleich zu Beginn des Krieges deportiert. | |
Lina lebt zunächst in Paris, später flieht sie mit ihrer Mutter nach | |
Südfrankreich. Auch dort sind sie nicht lange vor dem antisemitischen | |
Verfolgungswahn der Nationalsozialisten sicher. Sie müssen einen gelben | |
Stern an ihre Jacken anbringen und sich verstecken. Im September 1942 wird | |
auch Linas Mutter vor ihren Augen mitten in der Nacht von Polizisten | |
abgeholt und deportiert. | |
Lina überlebt nur, weil sie sich gegen Ende des Krieges an einem Ort in den | |
französischen Alpen verstecken kann, der früher als Kinderferienlager | |
diente und während des Krieges zum Treffpunkt französischer | |
Widerstandskämpfer wurde, [7][auch als Maquis bekannt.] Um sich dort | |
verstecken zu können, muss sie als Gegenleistung schwere körperliche Arbeit | |
verrichten. | |
Als der Krieg vorbei ist, macht sich Lina auf die Suche nach ihren Eltern. | |
Nach einigen Wochen findet sie heraus: Ihr Vater und ihre Mutter sind in | |
Auschwitz ermordet worden. Ihre Großeltern, die schon vor dem Krieg nach | |
New York ausgewandert waren, überreden sie, Frankreich zu verlassen und zu | |
ihnen in die USA zu kommen. 1947, im Alter von 19 Jahren, wandert Lina | |
schließlich aus. Jahrzehntelang kann sie nicht darüber sprechen, was ihr in | |
Europa widerfahren ist. Keine Worte können den Schmerz beschreiben, den die | |
zierliche Frau erlitten hat. Erst 30 Jahre später schreibt sie auf, welche | |
Schrecken sie erleiden musste. | |
„Stories I never told you“, steht auf den Memoiren, in denen Lina zum | |
ersten Mal über ihre eigenen Erlebnisse während der Shoah spricht. „Ich | |
habe es für meine Enkelkinder gemacht, aber es war auch eine Art Therapie | |
für mich“, erzählt sie. Auch ihre Tochter Alice wusste lange Zeit nicht | |
genau, was mit ihr geschehen war, bis sie die Memoiren ihrer Mutter in den | |
Händen hielt. „Wahrscheinlich wollte sie mich schützen“, sagt Alice, als | |
wir allein sind. „Ich glaube nicht, dass das funktioniert hat.“ Jahrelang | |
habe sie Albträume gehabt, dass die Deutschen eines Tages kommen und sie | |
holen würden. | |
Beim Essen fragen sie mich, wie es heute mit dem Antisemitismus in | |
Deutschland aussieht. „Schrecklich“, schießt es mir sofort durch den Kopf. | |
Ich denke an den [8][rechtsterroristischen Anschlag in Halle 2019,] an die | |
holocaustrelativierenden Corona-Demonstrationen, an die diversen | |
Schlussstrichdebatten, die es seit 1945 gibt, und an die bewachten | |
Synagogen im Land. | |
Als ich zu Besuch bei Lina und Alice bin, bestimmt auch gerade die | |
[9][Debatte über Hubert Aiwanger] die Nachrichten in Deutschland. Aiwanger, | |
Chef der Freien Wähler in Bayern und stellvertretender Ministerpräsident, | |
haben die antisemitischen Pamphlete aus seiner Schulzeit – oder | |
„Jugendsünden“, wie man in Bayern sagt – eher noch populärer gemacht. E… | |
paar Wochen später, bei der Landtagswahl im Herbst, erreichten sie ein | |
Rekordergebnis. „Schwierig“, antworte ich stattdessen, während mich Lina | |
und Aline erwartungsvoll anschauen. | |
Wobei ich versuche, meine Erfahrungen als Jüdin in Deutschland nicht | |
herunterzuspielen – und gleichzeitig meine Worte mit Bedacht zu wählen, um | |
niemanden im Raum zu retraumatisieren. Dass genau einen Monat später, am 7. | |
Oktober, die antisemitische Gewalt weltweit explodieren und das Pogrom der | |
radikalislamischen Hamas als „Befreiungskampf“ bezeichnet werden würde, | |
ahnen wir damals noch nicht. | |
Lina steht auf, geht in ihr Zimmer und kommt mit einem Bild in der Hand | |
zurück: „Das ist Suzy.“ Es ist ein Schwarzweißfoto von einem kleinen | |
Mädchen. Lina stockt. Kein Tag sei vergangen, an dem sie nicht an sie | |
gedacht habe. Bevor sie sich in den Alpen versteckt, soll Lina 1942 als | |
15-Jährige mit der fünfjährigen Suzy, deren Eltern deportiert wurden, nach | |
Portugal fliehen, um von dort aus ein Schiff in die USA zu nehmen. Der | |
Fluchtversuch scheitert, sie müssen nach Frankreich zurückkehren. Nach dem | |
Krieg erfährt Lina, dass auch Suzy in Auschwitz ermordet wurde. | |
„Ich war damals auch fast so alt wie Suzy“, sagt Aline sichtlich bewegt, | |
die die Geschichte ihrer Cousine Lina zum ersten Mal hört. Obwohl Aline und | |
Lina zehn Jahre Altersunterschied trennen, haben sie den Krieg ähnlich | |
überlebt: Aline versteckte sich gemeinsam mit der Schwester von Yves und | |
deren Ehemann auf verschiedenen Bauernhöfen in Frankreich. Um Aline zu | |
schützen, verschweigen die beiden ihr bis zum Kriegsende, dass sie Jüdin | |
ist. | |
## Es gibt kein richtiges oder falsches Traumata | |
Als ich drei Jahre zuvor im Internet den Artikel über Alines Vater, Yves de | |
Boton, finde, geht alles ganz schnell. Die Autorin des Artikels, Rachel | |
Hall, ist Alines Tochter. Rachel ist Schriftstellerin und hat einen Roman | |
über die Geschichte ihrer Mutter geschrieben. Sie ist heute auch gekommen. | |
Bei meinen Recherchen bin ich auch auf einen Artikel von Rachel gestoßen, | |
in dem sie über ihre jahrelangen Albträume schreibt, die sich kaum von | |
denen der Tochter von Lina, Alice, unterscheiden. Rachel sagt, sie habe | |
immer gedacht, das läge daran, dass ihre Mutter so früh mit ihr darüber | |
gesprochen habe. Alice erzählt, dass sie unter Albträumen gelitten habe, | |
weil sie eben nicht genau wusste, was mit ihrer Mutter geschehen war. | |
Mir wird bewusst, dass [10][transgenerationale Traumata] weitergegeben | |
werden, ob man darüber spricht oder nicht. Mir wird auch klar, dass die | |
Überlebenden der Shoah alle unterschiedliche Wege haben, mit dem Trauma | |
umzugehen. Es scheint kein „richtig oder falsch“ zu geben, weil das, was | |
ihnen angetan wurde, an sich falsch ist. | |
Während Lina nie über das gesprochen hat, was ihr widerfahren ist, hat | |
Aline schon in jungen Jahren damit begonnen, an US-amerikanischen Schulen | |
Vorträge über ihre Geschichte und die Geschichte ihres Vaters Yves de Boton | |
zu halten. Yves hatte sich bereits vor dem Krieg in verschiedenen | |
antifaschistischen Bewegungen in Paris politisch engagiert, während er | |
Medizin studierte. Ab 1941 schloss er sich der Résistance an. Als | |
Regionalchef des Geheimdiensts war er unter anderem für die Kommunikation | |
mit dem damaligen Präsidenten des „Freien Frankreichs“, Charles de Gaulle, | |
zuständig. Dieser organisierte den französischen Widerstand aus dem Exil in | |
Großbritannien. | |
Ab 1942 war Yves Mitbegründer der Befreiungsbewegung Mouvement Libération | |
und ging nach Lyon, wo er zum Stellvertreter des Widerstandskämpfers, | |
Dichters und Journalisten René Laynaud wurde. Nach der Verhaftung und | |
Ermordung von Laynaud im April 1944 übernahm de Boton die Leitung der | |
Gruppe als Kommandant. Am 1. August 1944 wurden Yves und 28 weitere | |
Widerstandskämpfer*innen seiner Gruppe in Lyon von der Gestapo | |
verhaftet. Später stellte sich heraus, dass sie von einer Französin | |
verraten wurden, die sich der Gruppe einige Monate zuvor angeschlossen | |
hatte. | |
Sie selbst hatte eine Affäre mit einem Gestapo-Offizier und wurde nach | |
Kriegsende als Nazi-Kollaborateurin verurteilt. Yves kommt ins berüchtigte | |
Gefängnis Montluc, wo er gefoltert wird. Am 20. August 1944 wird Yves im | |
Morgengrauen auf Befehl von Klaus Barbie, auch der Schlächter von Lyon | |
genannt, zusammen mit etwa 120 weiteren Gefangenen, darunter viele jüdische | |
Widerstandskämpfer*innen, in das [11][Gefängnis Saint-Genis-Laval] verlegt. | |
Dort werden sie von deutschen Soldaten und französischen Helfern der | |
Gestapo in ein leerstehendes Haus des Aufsehers gebracht und mit | |
Maschinengewehren hingerichtet. Anschließend sprengen sie das Haus. Aline | |
erzählt mir, dass Zeitzeug*innen berichteten, wie die deutschen | |
Soldaten zur „Feier des Tages“ vor dem Schauplatz eine Flasche Champagner | |
aufmachten. Nur fünf Tage später, am 25. August 1944, befreien die | |
Alliierten Paris. | |
Yves de Boton wird in Saint-Genis-Laval beigesetzt. Für seinen Kampf gegen | |
den Nationalsozialismus erhielt er posthum den Titel „Mort pour la France“, | |
zu Deutsch „Für Frankreich gestorben“, sowie das Kriegskreuz, die | |
Widerstandsmedaille und die Ehrenlegion. Diejenigen Kamerad*innen des | |
Widerstands, die überleben, schreiben ein Buch zu Ehren von Yves: „La vie | |
et la mort de Yves de Boton“. Aline übersetzt es später ins Englische. | |
Aline ist sechs Jahre alt, als ihr Vater ermordet wird. Nach dem Krieg, | |
1946, reist sie mit der Schwester von Yves und deren Mann nach Palästina, | |
um den Rest von Yves’ Familie kennenzulernen. Danach wandern sie in die USA | |
aus. Der Mutter von Yves wird bis zu ihrem eigenen Tod verschwiegen, dass | |
ihr Sohn ermordet wurde. Zu groß ist die Angst der Familie, dass die gerade | |
zur Witwe gewordene Frau den Tod ihres einzigen Sohnes nicht verkraften | |
würde. Auch die inzwischen neunjährige Aline muss vor ihr so tun, als sei | |
ihr Vater noch am Leben. | |
Sie erzählt mir, dass sie noch Jahre später, während ihres Studiums an der | |
Universität von Berkeley, manchmal glaubt, ihren Vater in Männern | |
wiederzuerkennen, die ihm ähnlich sehen. Die Geschichte ihres Vaters hat | |
ihren Lebensweg geprägt, sie ist eine Art Kompass für Alines Leben. Sie | |
selbst engagiert sich gegen Rassismus und Antisemitismus. Als ich ihr | |
erzähle, dass in Deutschland sehr wenig über den jüdischen Widerstand | |
gesprochen wird, während Sophie Scholl und Claus Graf von Stauffenberg, die | |
beide zunächst Anhänger*innen der NSDAP waren, Nationalheld*innen | |
sind, ist sie erstaunt. | |
## Wenig bekannter jüdischer Widerstand | |
Dieses historische Ungleichgewicht fällt schon bei einer einfachen | |
Google-Suche auf: Sucht man bei Google nach „jüdischem Widerstand“, so | |
erhält man 378.000 Ergebnisse in deutscher Sprache, während das Stichwort | |
„deutscher Widerstand“ mehr als 8,3 Millionen Ergebnisse liefert. Auf | |
Englisch findet man unter „Jewish Resistance“ mehr als 42 Millionen | |
Treffer. | |
Auch [12][die deutsche Wikipedia] ist exemplarisch dafür, wie wenig Platz | |
jüdischer Widerstand im deutschen Erinnerungsdiskurs einnimmt: Es gibt | |
keinen eigenen Artikel zum „jüdischen Widerstand“, stattdessen taucht er in | |
einem kurzen Unterkapitel zum Holocaust auf. Dabei gab es überproportional | |
mehr jüdischen Widerstand als Widerstand von nichtjüdischen Menschen, vor | |
allem in Deutschland, auch wenn dies heute gerne anders dargestellt wird. | |
Laut einer Umfrage der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft | |
glaubt jeder Fünfte in Deutschland, dass seine Vorfahren während des | |
Zweiten Weltkriegs „potenziellen Opfern“ geholfen haben. Tatsächlich waren | |
es weniger als 0,1 Prozent. Wenig bekannt ist dagegen die | |
Herbert-Baum-Gruppe, eine jüdisch-kommunistische Widerstandsgruppe aus | |
Berlin, die Flugblätter und Untergrundzeitungen herausgab, jüdische | |
Zwangsarbeiter*innen unterstützte und Jüdinnen und Juden half, | |
unterzutauchen, um ihrer Deportation zu entgehen. | |
Auch dass Tausende von Jüdinnen und Juden, die sich in ganz Europa | |
versteckt hielten, am Partisanenkrieg gegen die Deutschen teilnahmen, ist | |
nur wenigen bekannt. Jüdische und nichtjüdische Partisan*innen planten | |
Anschläge auf das Eisenbahnnetz in Europa, um die Züge aufzuhalten, mit | |
denen die Menschen in die Todeslager deportiert wurden. Insgesamt wurden so | |
im Jahr 1943 rund 11.000 Gleise gesprengt, 9.000 Züge zum Entgleisen | |
gebracht und 40.000 Waggons zerstört. Schätzungen von Historiker*innen | |
zufolge waren europaweit bis zu 1,5 Millionen Jüdinnen*Juden am | |
Partisanenkampf und am regulären militärischen Kampf gegen die | |
NS-Herrschaft beteiligt. | |
Zum Abschied schenkt mir Aline das Buch „They fought back – the story of | |
jewish resistance in Nazi Europe“, von Yuri Suhl. | |
Als ich nach dem 7. Oktober mit Lina und Aline per Telefon spreche, eint | |
sie die Sorge um den wachsenden Hass gegenüber Muslim*innen und | |
Jüdinnen*Juden weltweit. Das kennen sie schon, sagen beide. Aber es | |
mache ihnen trotzdem Angst. Lina äußert auch ihre Bedenken über meinen | |
Text: Jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt dafür, um mit ihrer Geschichte | |
an die Öffentlichkeit zu gehen, sagt sie. Die Vorstellung, dass die | |
96-Jährige, die 30 Jahre lang nicht über das sprechen konnte, was ihr | |
während der Shoah widerfahren ist, heute wieder Angst haben muss, ihre | |
Geschichte zu erzählen, erschüttert mich. Trotzdem schreibe ich diesen | |
Artikel zu Ende. Für sie und Aline – damit die Geschichten, die sie uns | |
anvertraut haben, niemals vergessen werden. | |
Diese Recherche ist im Rahmen des [13][Transatlantic Media Fellowship] der | |
Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt worden. | |
19 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5769807 | |
[2] /Trauer-und-Wut/!5969350 | |
[3] /Leben-nach-dem-7-Oktober/!5972433 | |
[4] /Antisemitismus-an-US-Eliteunis/!5977408 | |
[5] https://maitron.fr/spip.php?article17361 | |
[6] https://lithub.com/my-grandfather-the-french-resistance-fighter/ | |
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Maquis | |
[8] /Antisemitischer-Anschlag-von-Halle/!5803902 | |
[9] /Aiwanger-und-die-Folgen/!5957931 | |
[10] https://medicamondiale.org/gewalt-gegen-frauen/trauma-und-traumabewaeltigu… | |
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Saint-Genis-Laval | |
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust | |
[13] https://us.boell.org/en/categories/media-fellowships | |
## AUTOREN | |
Sonja Smolenski | |
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