| # taz.de -- Antisemitischer Anschlag von Halle: Unerschütterliche Versöhnlich… | |
| > Vor zwei Jahren wollte ein Neonazi in Halle einen Massenmord an Jüdinnen | |
| > und Juden verüben. Er scheiterte damit, aber die Wunden des Tages sind | |
| > offen. | |
| Bild: Die Soligruppe rund um den Kiez-Döner berät sich mit İsmet Tekin | |
| Vor zwei Jahren, am 9. Oktober 2019, kam İsmet Tekin gerade vom Einkaufen | |
| zurück zur Arbeit, dem Kiez-Döner in Halle, als er die Schüsse hörte. | |
| Schüsse, die auch Menschen wie ihm und seinem Bruder Rifat galten, die | |
| Ausländer genannt werden, Schüsse, die einen jungen Menschen, Kevin | |
| Schwarze, das Leben kosteten. | |
| Das ist nur ein Ausschnitt eines Tages, der viele Leben veränderte. Das | |
| rechtsextremistische Attentat von Halle zielte auf 52 Menschen, die das | |
| jüdische Versöhnungsfest Jom Kippur in der Synagoge begehen wollten. Es | |
| nahm Jana Lange, die die Straße vor der Synagoge entlangging, das Leben. Es | |
| nahm den Lebensmut eines Malers, der seinem Auszubildenden Kevin Schwarze | |
| ausgerechnet an diesem Tag vorschlug, Döner essen zu gehen. Es überforderte | |
| Polizist:innen, die niemand darauf vorbereitet hatte, im Kugelhagel eines | |
| Attentäters zu agieren. | |
| [1][Das Attentat zerschmetterte das Knie und den verbliebenen Glauben eines | |
| Mannes], der als Schwarzer Mensch das Ausmaß der Rohheit rassistischer | |
| Anfeindungen in diesem Land schon zu kennen glaubte. Das Attentat forderte | |
| den Mut eines Ehepaars, das sich von einer vorgehaltenen Waffe nicht dazu | |
| bringen ließ, dem Täter ihr Auto zu überlassen, und ließ sie schwer | |
| verletzt zurück. Es zeigte die Geistesgegenwart der Mitarbeiter einer | |
| Autowerkstatt, die es der Polizei schlussendlich ermöglichte, dieses | |
| Verbrechen zu beenden. | |
| İsmet und Rifat Tekin wurden mit diesem Tag nicht nur zu Zeugen, sie wurden | |
| zu anderen gemacht. Ihr Dönerimbiss war fortan ein Mahnmal. Als der Laden | |
| nicht lief, wurde er ihnen vom bisherigen Chef großzügig überschrieben. Sie | |
| hatten kaum Gäste, aber viel Besuch. Sie begegneten ernsten Mienen. Sie | |
| bekamen Blumen. Sie bekamen große Worte. Ihnen wurden die Hände | |
| geschüttelt. Gewissen wurden an ihnen bereinigt. Sie wurden fotografiert. | |
| Der Dönerladen war nur noch ein Tatort und sie wurden als Opfer erklärt. | |
| ## Zu jedem einzelnen Prozesstag | |
| Dabei war İsmet Tekin schon im ersten Jahr nach dem Anschlag aktiv. Er | |
| kaufte sich Anzüge und fuhr als Nebenkläger 25-mal, zu jedem einzelnen | |
| Prozesstag, nach Magdeburg. Die Nebenkläger:innen der Synagoge fühlten | |
| sich von ihm gesehen und gestützt. Er traf die Hinterbliebenen des | |
| rassistischen Attentats von Hanau und sprach mit ihnen über gemeinsame | |
| Erfahrungen, die Kontinuitäten rechter Gewalt und eine Politik, die sich | |
| unfähig gibt, diese ernsthaft zu bekämpfen. Er organisierte Demonstrationen | |
| und Kundgebungen für migrantische Stimmen aus Halle und scheute selbst kein | |
| Mikrofon. Er sprach sich vehement für eine Demokratie aus, in der er selbst | |
| nicht wahlberechtigt ist. Er sagte ranghohen Politiker:innen, was die | |
| Gesellschaft brauche, was er brauche, in unerschütterlich scheinender | |
| Versöhnlichkeit. | |
| Die Besucher ließen ihn zurück, wie die Blumenkränze vor seinem Laden, | |
| bestätigt darin, dass sein Schmerz und seine Kraft für dieses Land keine | |
| Bedeutung haben. Auch das teilt er mit den Hinterbliebenen dieses Attentats | |
| und anderer Angriffe. Tekin sagt, das schmerze mehr als das Attentat | |
| selbst. Ohne den Ladenvermieter, der seitdem nicht ein einziges Mal nach | |
| Geld fragte, ohne Getränke-, Fleisch-, Verpackungs- und Brotlieferanten, | |
| die weiterlieferten, und ohne die Jüdische Studierendenunion, die Geld | |
| sammelte, hätte der Laden und somit auch der Gedenkort dieses erste Jahr | |
| nach dem Attentat nicht überstanden. | |
| Von außen betrachtet gibt es an diesem Jahrestag nichts zu feiern. Vor | |
| einem Jahr, am 9. Oktober 2020, erhob İsmet Tekin dennoch sein Glas mit | |
| Çay. Nach einem langen Tag von Gedenkveranstaltungen, bei denen ihm erneut | |
| nicht mehr als die Rolle des Statisten zugeschrieben wurde, traf er am | |
| Abend in seinem Laden auf Betroffene des Anschlags und Nachbar:innen. | |
| Lächelnd sagt er: „Auf ein neues Jahr.“ | |
| Im zweiten Jahr nach dem Anschlag wendet İsmet Tekin sich nicht weiter nach | |
| außen, sondern nach innen. Er wirft unangekündigte Blumenkränze in die Ecke | |
| und plant mit einer Gruppe aus Nachbar:innen und neuen Vertrauten, die | |
| er seine Soligruppe nennt, einen Neuanfang, auf den sich selbst sein Bruder | |
| Rifat freut: das Frühstückscafé Tekiez. | |
| ## Ihr habt versagt | |
| [2][Die Soligruppe fragt İsmet und Rifat Tekin nach ihren Wünschen]. Sie | |
| tritt den Verantwortlichen der Stadt so lange auf die Füße, bis Versprechen | |
| eingehalten werden. Sie druckt T-Shirts und sammelt Geld. Zeichnet | |
| Baupläne, stellt Anträge, organisiert Tischler und Malerinnen, stimmt sich | |
| ab, schafft Kooperationen, schleift Holzdielen. Ihre Mitglieder greifen | |
| ineinander wie die Fäden eines dicht gewebten Teppichs, auf dem İsmet und | |
| Rifat Tekin endlich ihren eigenen Weg gehen können – selbst wenn das | |
| bedeutet, dass sie für 47 Tage zu ihrer Familie in die Türkei fahren. | |
| Von außen betrachtet gibt es an diesem Jahrestag nichts zu feiern. In | |
| diesem Jahr, am 9. Oktober 2021, werden vor dem Kiez-Döner wieder Kränze | |
| abgelegt und Fotos gemacht werden. İsmet Tekin wünscht sich ein Gespräch | |
| mit dem Ministerpräsidenten und dem Bürgermeister. Ihr habt versagt, will | |
| er sagen. | |
| Wer den Laden betritt, wird einen Raum sehen, der nicht mehr nur von einem | |
| Attentat und seinen Folgen bestimmt ist. Umgeben von Wänden in Maigrün und | |
| Sandtönen und den lang verdeckten Verzierungen an den Decken soll jeder | |
| Mensch bei Çay und Gebäck so gedenken können, wie er es möchte. | |
| In wenigen Wochen wird das Frühstückscafé Tekiez eröffnen – ein Ort, der | |
| aus Trümmern gewachsen ist, sich von Fremdzuschreibungen gelöst und Dingen | |
| verschrieben hat, die diesem Land so häufig fehlen: dem Zusammenkommen und | |
| der Solidarität. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. | |
| 9 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ein-Jahr-nach-dem-Attentat-von-Halle/!5717394 | |
| [2] /Gedenkkultur-in-Halle/!5771960 | |
| ## AUTOREN | |
| Pia Stendera | |
| ## TAGS | |
| Halle | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Antisemitismus | |
| GNS | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Antisemitismus | |
| Antisemitismus | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Café Tekiez in Halle: Es bleibt ein Ort der Solidarität | |
| Das Attentat von Halle machte den Kiez-Döner zu einem Tatort. Aus ihm wurde | |
| ein Café, in dem Betroffenen zugehört wurde. Nun schließt es. | |
| Anschlagsopfer von Halle geben auf: „Eine bittere Enttäuschung“ | |
| Der Halle-Anschlag 2019 traf auch den Kiez-Döner. Gut zwei Jahre rangen die | |
| Tekins danach um die Existenz ihres Geschäfts – nun geben sie auf. | |
| Geiselnahme in Synagoge in Texas: Rätselraten um den Täter | |
| Der Bruder des Angreifers fragt sich: Wie konnte er trotz Vorstrafen an ein | |
| Visum gelangen? Jüdischen Gemeinden bleibt das Gefühl mangelnden Schutzes. | |
| Halle-Attentäter im Gefängnis: Fluchtversuch bleibt ohne Konsequenz | |
| Dem Attentäter von Halle gelang 2020 fast die Flucht aus der Haft. | |
| Verfahren gegen das Gefängnispersonal wurden nun eingestellt, denn die | |
| Verantwortlichen schweigen. | |
| Polizeikommissarin schrieb Attentäter: Alarmglocke Einzelfall | |
| Eine Kommissarin schrieb dem rechtsextremistischen Halle-Attentäter Briefe | |
| ins Gefängnis. Die Polizei muss bei Einzeltäter*innen genau prüfen. | |
| Nach dem Anschlag in Halle: Jede Menge ungefragter Blumen | |
| Für jedes bisschen Unterstützung der Stadt musste der Kiez-Döner in Halle | |
| kämpfen. Dabei steht viel auf dem Spiel: Das Vertrauen in die Demokratie | |
| Urteil im Halle-Prozess: Täter weggesperrt, Umfeld unberührt | |
| Der Attentäter von Halle muss lebenslang ins Gefängnis. Das Gericht hat | |
| aber zu wenig Interesse am rechtsradikalen Nährboden der Taten gezeigt. |