| # taz.de -- Gedenkkultur in Halle: Kurz bevor die Limousinen anrollen | |
| > Die Besuche begannen eine Woche nach dem Anschlag auf ihren Kiez-Döner. | |
| > Dabei wissen die Tekin-Brüder aus Halle oft gar nicht, wer diesmal Blumen | |
| > bringt. | |
| Bild: Wahlkampf oder Gedenken? SPD-Spitzenpolitiker:innen besuchen den Kiez-Dö… | |
| Halle taz | Menschen in Anzügen und teuren Schuhen legen von Bodyguards und | |
| Kameras abgeschirmt einen Trauerkranz vor dem Kiez-Döner ab. Cosima, Nele | |
| und Fre ist die Szene nicht fremd. In den letzten anderthalb Jahren sahen | |
| sie häufiger, wie Ismet Tekin dann etwas versetzt steht, die Hände in | |
| respektabler Geste vor dem Bauch gefaltet. Sein Bruder Rifat schaut, wenn | |
| es mal wieder so weit ist, vom äußersten Rand hinter der Glastheke durch | |
| die geöffnete Ladentür. | |
| Die Besuche begannen eine Woche nach dem 9. Oktober 2019, an dem ein schwer | |
| bewaffneter Rechtsextremist ihren Laden in Halle stürmte und den | |
| 21-jährigen Kevin S. ermordete. Die Tekin-Brüder wissen häufig gar nicht, | |
| wer dieses Mal Blumen und Versprechungen vor ihrem Laden ablädt. An diesem | |
| Nachmittag, eine Woche vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, sind es die | |
| örtlichen Kandidaten der SPD mit Olaf Scholz, Franziska Giffey und Lars | |
| Klingbeil. | |
| Dieses Mal sehen Cosima, Nele und Fre nicht nur zu. Sie greifen ein: An | |
| einem aus Bierkisten und einer weißen Tischdecke gebauten Podest erzählen | |
| sie die Geschichte des Kiez-Döners, die längst ihre geworden ist. Mit | |
| herausfordernden Blicken fragen sie die Politiker:innen: Wie viel ist | |
| Ihnen der Erhalt dieses Ortes wert? | |
| Einige Stunden zuvor läuft Cosima als Letzte über die Mitarbeitertreppe in | |
| den hinteren Teil des Ladens. Sie hat bis spät in den Abend die | |
| freigelegten Dielen abgeschliffen und für die finale Lasur vorbereitet. Im | |
| hinteren Raum erinnert nichts mehr an den damaligen Tatort. Die | |
| Toilettenkabine, in der sich ein Kunde am Anschlagstag vor dem Täter | |
| versteckt hatte, ist abgerissen. In der Mitte des Raums steht ein | |
| Baugerüst, an dem Bilder hängen: von dem neuen Logo des Ladens, der bald | |
| ein Frühstückscafé sein soll. | |
| ## Die Arbeit der Gruppe entstand aus einer Vision heraus | |
| Fre zieht los, um ein Mikrofon zu besorgen, Cosima und Nele setzen sich mit | |
| einem Laptop auf eine der neuen Bänke vor der Tür und schreiben eine Rede, | |
| weitere Gruppenmitglieder bekleben die Fenster mit Hinweisen zum Umbau. | |
| Je nachdem wen man fragt, sind sie sieben, acht oder zehn Menschen zwischen | |
| Mitte zwanzig und Anfang dreißig. Sie tragen Sneaker, Jeans und | |
| Trainingsjacken. In der Vergangenheit wurden sie oft als Studentengruppe | |
| bezeichnet, „was überhaupt nicht so ist“, sagen Cosima und Nele | |
| gleichzeitig. Auch die Zuschreibung als linke Gruppe sei falsch. „In einem | |
| Gespräch mit der Stadt ist es völlig egal, aus welchem Label heraus ich das | |
| jetzt mache“, sagt Nele. | |
| Die Soligruppe ist kein akribisch geplanter Verein. Sie hat keinen | |
| besonderen Namen, es gab nie lange Diskussionen über ein Selbstverständnis, | |
| keine Klausurwochenenden. Die Arbeit der Gruppe entstand nicht aus einer | |
| Vision heraus, sondern aus der Not – einer Not, die ein | |
| rechtsextremistischer Anschlag hinterlassen hat. | |
| Manchmal tritt Ismet Tekin aus der Situation heraus. Sein Blick verharrt | |
| dann in der Leere, seine Gedanken arbeiten. „Die jetzt hier sind, haben die | |
| schwerste und größte Aufgabe auf sich genommen“, sagt er. Das heißt? „Al… | |
| was uns betrifft.“ Die ersten Monate nach dem Anschlag gab es | |
| Hilfsbereitschaft, aber vielleicht war die Hilflosigkeit zu groß. Ismet | |
| Tekin konnte damals kaum sprechen, schlafen und essen. Sein Bruder trug das | |
| Trauma unter den Augen. Zum eigenen Trauma kam der Umsatzeinbruch. Ende | |
| April 2020 gab es schließlich das erste Treffen der Soligruppe. | |
| ## Am Neuanfang sind viele Menschen beteiligt | |
| Im Juli 2020 begann der Gerichtsprozess. An jedem der 26 Prozesstage | |
| hielten Mitglieder der Gruppe Kundgebungen ab, waren das offene Gesicht für | |
| interessierte Passant:innen und Stütze für die Betroffenen. Solange der | |
| Prozess lief, fehlte vielen Betroffenen die Kraft für die Frage, was nach | |
| dem puren Überleben kommt. Parallel lief Tekins Laden weiter – zeitweise so | |
| schlecht, dass er nur durch die Geduld von Vermieter und Lieferanten | |
| überlebte. | |
| Der Umbau des Kiez-Döners zum Frühstückscafé „Tekiez“ ist der erste sel… | |
| gewählte Schritt, heraus aus dem Rahmen des Attentats. An dem Neuanfang | |
| sind viele Menschen beteiligt: Nachbar:innen, Malerinnen, Tischler auf der | |
| Walz. Ismet Tekin lehnt an der Theke und schaut in den Raum. „Sie haben ihr | |
| eigenes Taschengeld und Brot für uns gespart, ihren Spaß gespart und ihre | |
| Freizeit. Sie waren immer hier. Die Tage, die Arbeit … sie machen alles | |
| Zentimeter für Zentimeter mit voller Kraft und Liebe. Das hat keinen | |
| Preis“, sagt er. Geld braucht es trotzdem. Der Bundesopferbeauftragte | |
| sprach zum ersten Jahrestag des Attentats von finanziellen Hilfen, die es | |
| tatsächlich nicht gab. | |
| 30.000 Euro erreichten den Kiez-Döner zu dieser Zeit – gesammelt von der | |
| Jüdischen Studierendenunion. Im Frühjahr ließ die Soligruppe 120 T-Shirts | |
| mit dem Logo des Cafés bedrucken. Sie geben das, was Politiker:innen | |
| nie zu versprechen müde werden: Solidarität. „Wir haben so viel gesagt. | |
| Fre, Nele und Cosima haben bei jeder Veranstaltung so viel gesagt. Aber sie | |
| waren taub und blind“, sagt Tekin. Er fischt eine schwarze Gebetskette aus | |
| der Innentasche seiner Jacke. „Es ist einfach peinlich, in so einem starken | |
| demokratischen Land so was zu erfahren. Dieser Schmerz ist fast so schlimm | |
| wie der Anschlag.“ | |
| Auf dem Instagram-Account des Kiez-Döners gibt es einen Post zu der | |
| T-Shirt-Aktion, unter dem steht: „Aus dem Ort eines rassistischen | |
| Verbrechens wird ein Ort des Zusammenkommens, des Erinnerns, der | |
| Solidarität.“ „Wäre ich allein gewesen, hätte ich gesagt, ich packe mein… | |
| Koffer und gehe. Aber ich bin nicht allein. Es gibt über 15 Millionen wie | |
| mich – die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben, aber hier leben. | |
| Wir sind keine Minderheit“, sagt Tekin. Für die Landtagswahl wünsche er | |
| sich, dass die Menschlichkeit gewinnt. Er selbst hat kein Wahlrecht. | |
| ## Dieses Mal keine Versprechen | |
| Cosima und Nele feilen vor der Tür noch immer an den richtigen Worten für | |
| den angekündigten Besuch. Sie wissen, dass Politiker:innen nicht um | |
| Empfang bitten – sie kündigen sich an und bestimmen die Regeln. Dass in | |
| dieser Zeit kein Umsatz gemacht wird und ob eine Kranzniederlegung im Sinne | |
| der Ladenbetreiber ist, interessiert dabei nicht. Dieses Mal wollen sie die | |
| Politiker:innen festnageln. Sie wollen das letzte T-Shirt für den | |
| Umbau versteigern. | |
| Kurz bevor die Limousinen anrollen, wuseln alle durcheinander. Tekin sagt: | |
| „Wenn sie nicht helfen, sollen sie sich schämen.“ Über eine Musikbox | |
| verstärkt und mit fester Stimme erzählen sie ihre Geschichte. Sie stellen | |
| die Spielregeln vor, sie fragen: Wie viel ist Ihnen der Erhalt des | |
| Kiez-Döners wert? | |
| Die Reaktion: verhaltenes Räuspern, starre Blicke, der Ansatz von | |
| verlegenem Lächeln. Die meisten Gebote erfolgen von Menschen aus der | |
| Gruppe. „Es gibt auch die Möglichkeit, Geld zusammenzulegen“, sagt Nele. | |
| Wieder ein Gebot aus den eigenen Reihen. Franziska Giffey erlöst alle | |
| Beteiligten mit dem Schlussgebot von 450 Euro. | |
| Im Anschluss reden Cosima, Fre und Nele mit Giffey, während Ismet Tekin | |
| unter vier Augen mit Olaf Scholz spricht. Als alle wieder abgefahren sind, | |
| ist die Stimmung gelöst. Nele und Fre holen Sekt aus dem Laden, Ismet Tekin | |
| ein Red Bull. Als die Korken knallen, lächelt selbst sein Bruder Rifat vom | |
| äußersten Rand der Theke aus. Dieses Mal haben die Politiker:innen | |
| keine Versprechen dagelassen. „Besser ist es“, sagt Tekin. | |
| 4 Jun 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Pia Stendera | |
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