# taz.de -- LGBTIQ und Migration: Flucht im Zeichen des Regenbogens | |
> Queere Geflüchtete bekommen in Deutschland leichter Asyl als früher. Doch | |
> weltweit nehmen Repressionen zu. Ein Überblick und drei Protokolle. | |
Bis in die fernen USA verbreitete sich die Nachricht: „Libyscher | |
LGBTIQ-Aktivist bekommt in Deutschland Asyl – in nur zehn Tagen“, schrieb | |
das queere US-amerikanische Portal [1][Washington Blade]. Die Rede war von | |
dem schwulen Journalisten Ayman M., der vor dem Terror des IS in der | |
libyschen Hafenstadt Bengasi geflohen war und im Juli 2017 in Berlin einen | |
Asylantrag stellte. Nur zehn Tage nach seinem Interview mit dem | |
[2][Bundesamt für Migration und Flüchtlinge] lag die Anerkennung im | |
Briefkasten der Wohnung in Berlin-Steglitz, die M. mithilfe queerer | |
Unterstützer:innen angemietet hatte. Selbst bei Pro Asyl, denen in | |
Sachen Asyl in Deutschland kaum etwas entgeht, war man baff: Zehn Tage, | |
das dürfte Rekord sein, hieß es dort. | |
Die enorme Kürze zeigt, dass Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung in | |
Deutschland wie auch in einer Reihe anderer Länder heute als Fluchtgrund | |
anerkannt ist – eine wichtige Entwicklung im Asylrecht der vergangenen | |
Dekade. Bereits 2007 fand im indonesischen Yogyakarta eine Tagung | |
renommierter Menschenrechtler*innen statt, die die Allgemeinen | |
Menschenrechte auf die Bereiche sexuelle Orientierung und | |
Geschlechtsidentität angewendet haben. | |
Seither sind die sogenannten Yogyakarta-Prinzipien ein globaler Standard | |
für die Sicherung von Menschenrechten für queere Personen, sie fanden in | |
den vergangenen Jahren verstärkt auch Niederschlag in der Praxis. Die | |
Behandlung von LGBTIQ sei bei „Staaten, der Zivilgesellschaft und der | |
Wissenschaft zunehmend in den Blickpunkt gerückt“, stellte das | |
UN-Flüchtlingswerk UNHCR 2021 fest. | |
Ebenfalls wichtig ist, dass die queere Szene heute vielen Menschen | |
informelle Hilfe und Solidarität bietet. „Von Menschen aus der Berliner | |
LGBTIQ-Community habe ich viel Unterstützung bekommen, sie haben mir auch | |
einen Anwalt vermittelt“, sagt Ayman M. Projekte wie die [3][Rainbow | |
Welcome Map] zeigen in vielen Ländern Europas zivilgesellschaftliche | |
Anlaufstellen für LGBTIQ-Geflüchtete. | |
## Zahl der Schutzsuchenden steigt | |
Mehr offizielle Anerkennung, mehr Unterstützung – diese Entwicklungen sind | |
erfreulich, beschränken sich allerdings nach wie vor auf bestimmte Staaten. | |
Global betrachtet ist der Fall Ayman M. eine große Ausnahme. LGBTIQ haben | |
bis heute in vielen Ländern in der Regel große Schwierigkeiten, Schutz zu | |
finden. | |
Populismus, Anti-Wokeness und Islamismus befeuern Queerfeindlichkeit, auch | |
in den Transit- und Zielländern globaler Fluchtbewegungen. Queeren Menschen | |
droht heute in mehr als 60 Staaten strafrechtliche Verfolgung. 34 dieser | |
Staaten haben diese Gesetze in den vergangenen Jahren aktiv angewandt. In | |
sieben Staaten droht unter bestimmten Umständen die Todesstrafe: | |
Saudi-Arabien, Jemen, Iran, Brunei, Nigeria (extralegale Tötung mit Bezug | |
auf Scharia im Norden), Mauretanien und Uganda. | |
Fest steht: „Die Zahl der Schutzsuchenden in dem Bereich nimmt zu“, sagt | |
Eujin Byun, die beim UNHCR für das Thema zuständig ist, der wochentaz. | |
„Gleichzeitig trauen sich viele LGBTIQ-Flüchtende nicht, den wahren Grund | |
für ihre Verfolgung zu nennen“, sagt Eujin Byun. Sie fürchteten Übergriffe | |
durch andere Flüchtende – oder in den Ländern, in die sie kommen. | |
Diese Sorgen sind nicht unbegründet. 2021 hat der UNHCR eine internationale | |
Konferenz zu dem Thema veranstaltet. Dabei wies die Organisation darauf | |
hin, dass LGBTIQs während der Flucht und auch nach Ankunft in | |
Asylunterkünften „Stigmatisierung, sexueller und geschlechtsspezifischer | |
Gewalt, Missbrauch oder mangelndem Schutz durch Sicherheitskräfte“ | |
ausgesetzt seien, sie litten unter „willkürlicher Inhaftierung, Abschiebung | |
und Ausschluss vom Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen“. Ihre Flucht | |
könne in Ländern enden, in denen sie „einem ähnlichen oder höheren Risiko | |
homophober, bi- oder transphober Gewalt ausgesetzt sind, sowohl von | |
Staatsangehörigen des Aufnahmelandes als auch von anderen Vertriebenen“. | |
Betroffene, mit denen die wochentaz gesprochen hat, bestätigen das. | |
## Keine Erwähnung in der Genfer Konvention | |
In sechs der Top-10-Flucht-Zielländern ist LGBTIQ-Feindlichkeit heute offen | |
staatliche Politik: in Iran, Äthiopien, Bangladesch, Sudan, Uganda und | |
Pakistan. Wegen der geografischen Nähe zu bewaffneten Konflikten oder | |
aufgrund von Vertreibungen sind viele Millionen Menschen trotz fehlender | |
Menschenrechtsstandards in diese Staaten geflohen. | |
In drei weiteren Ländern – Polen, der Türkei und Russland – ist es um die | |
LGBTIQ-Rechte ebenfalls nicht zum Besten bestellt. Und auch in den USA | |
nimmt durch das Erstarken der religiösen Rechten Queerfeindlichkeit zu. Im | |
März 2022 etwa trat in Florida das sogenannte [4][„Don’t say gay-Gesetz“] | |
in Kraft – sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität dürfen bis zur | |
12. Klasse nicht mehr Teil des Lehrplans sein. Das Portal queer.de schätzt, | |
dass allein im Jahr 2022 in den 51 Bundesstaaten [5][bis zu 400 | |
queerfeindliche Gesetzentwürfe] eingebracht wurden. | |
Dabei begründet Verfolgung als LGBTIQ heute in vielen Ländern einen | |
formalen Schutzanspruch. In der Genfer Konvention ist zwar weder sexuelle | |
Orientierung noch sexuelle Identität explizit erwähnt. Die Rede ist | |
allerdings von einer „begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der | |
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“. Darunter werden heute | |
auch LGBTIQ verstanden, entsprechend haben sie die Möglichkeit, Asylanträge | |
zu stellen. Das ist das Ergebnis jahrzehntelanger internationaler | |
juristischer Auseinandersetzungen, die ab Mitte der 1990er Jahre begannen, | |
Früchte zu tragen. | |
Vollständige Sicherheit bedeutet dies mitnichten. LGBTIQ-Geflüchtete müssen | |
heute in Asylverfahren einerseits ihre sexuelle Orientierung oder | |
geschlechtliche Identität „glaubhaft vortragen“. Doch dies gelinge vielen | |
„aus Angst, Scham und/oder Unwissenheit nicht oder nicht sofort“, schreibt | |
der [6][Lesben- und Schwulenverband Deutschland]. „Sie scheitern immer | |
wieder an stereotypen Vorstellungen von Entscheider*innen und | |
Richter*innen.“ | |
Tschechien wurde 2010 etwa von der EU gerügt, weil es sogenannte | |
Phallometrie-Tests angewandt hatte: In einigen Fällen wurden homosexuellen | |
Asylsuchenden Pornofilme gezeigt und dabei der Blutfluss im Penis gemessen. | |
So sollte die Erregung festgestellt und überprüft werden, ob die | |
Betreffenden tatsächlich schwul waren. In Großbritannien fragen Beamte nach | |
detaillierten Schilderungen der „emotionalen Reise“, die die Entdeckung der | |
eigenen Homosexualität für die Schutzsuchenden bedeutete – eine für viele | |
Betreffende gegenüber Fremden kaum zu leistende Anforderung. | |
## Geheimhaltung darf nicht erwartet werden | |
Hinzu kommt, dass queere Personen darlegen müssen, dass ihnen bei Rückkehr | |
in ihr Herkunftsland tatsächlich konkrete Verfolgung droht, die über bloße | |
Beschimpfungen hinausgeht. Viele Asylanträge in der EU wurden lange mit der | |
Begründung abgewiesen, die Menschen könnten mit Geheimhaltung oder | |
„diskretem Verhalten“ einer Verfolgung entgehen. | |
In Deutschland etwa befand das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch | |
2012, dass zwei homosexuelle Frauen aus Iran kein Asyl bekommen sollten, | |
weil dort zwar auf Homosexualität die Todesstrafe stehe, aber die | |
„Veranlagung als solche“ nicht strafbar sei. Würden Homosexuelle „nicht … | |
ihren Neigungen auf der Straße provozieren“, heißt es im Bescheid, dann | |
könnten sie ein „unproblematisches Leben im Schatten des Rechts“ führen. | |
Der [7][Europäische Gerichtshof entschied indes 2013], dass von | |
Geflüchteten nicht erwartet werden könne, dass sie ihre Homosexualität in | |
ihrem Herkunftsland geheim halten oder Zurückhaltung üben, um eine | |
Verfolgung zu vermeiden. Das [8][Bundesverfassungsgericht bekräftigte | |
2020], dass die Geheimhaltung der sexuellen Orientierung zur Vermeidung von | |
Verfolgung nicht erwartet werden dürfe. | |
Humanitäre Visa für gefährdete Personen sind auch im Koalitionsvertrag der | |
Ampel vereinbart – die Ausstellung erfolgt aber oft nur sehr schleppend. Im | |
Juli forderte die „Queere Nothilfe“ die Bundesregierung in einem Brief auf, | |
Menschen aus Uganda die Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen. In dem | |
ostafrikanischen Land war im Mai der [9][„Anti-Homosexuality Act“ in Kraft] | |
getreten. Passiert ist bislang nichts. Humanitäre Visa werden generell | |
recht selten vergeben: Unter 1,27 Millionen im Jahr 2022 von deutschen | |
Konsulaten ausgestellten Visa waren nur rund 26.000 humanitäre Visa. | |
Das Asylrecht steht heute stark unter Druck, und das nicht nur in | |
Deutschland. Bei einer Rede vor der konservativen Denkfabrik American | |
Enterprise Institute in den USA sagte die britische Innenministerin Suella | |
Braverman im September, Menschen, die wegen ihrer Geschlechtsidentität oder | |
Sexualität diskriminiert würden, sollten kein Asyl erhalten, wenn ihnen | |
nicht wirklich Tod, Folter, Unterdrückung oder Gewalt drohe. „Wir werden | |
kein Asylsystem aufrechterhalten können, wenn es ausreicht, einfach nur | |
homosexuell oder eine Frau zu sein oder Angst vor Diskriminierung in seinem | |
Herkunftsland zu haben, um Schutz zu erhalten.“ | |
Was Braverman sagte, reiht sich ein in Äußerungen führender konservativer | |
Politiker der vergangenen Monate, die das Asylrecht in Europa abbauen | |
wollen. Es gab in der letzten Dekade erfreuliche Entwicklungen für queere | |
Menschen. Doch es ist gut möglich, dass die Schutzmechanismen für LGBTIQ | |
angesichts des Drucks bald wieder erodieren. | |
## Massam Hussain Ansari aus Pakistan | |
Massam Hussain Ansari, 36, ist homosexuell und lebt in Köln. | |
Ich bin in Karatschi aufgewachsen, im Süden von Pakistan. Mit 15 Jahren | |
habe ich gemerkt, dass ich schwul bin. Uns wurde gesagt, es sei eine Sünde, | |
aber ich fühlte mich immer zu Männern hingezogen und konnte es niemandem | |
sagen. Als ich 20 war, starb mein Vater an einem Herzleiden. Fortan musste | |
ich mich um die Erziehung und die Heirat meiner vier Schwestern kümmern. In | |
der patriarchalischen muslimischen Gesellschaft Pakistans ist es | |
traditionell die Aufgabe des Bruders, dafür zu sorgen, dass seine | |
Schwestern verheiratet werden. | |
Um meine Familie zu unterstützen, habe ich in einem Ingenieurbüro in | |
Karatschi gearbeitet. Ich habe eine Beziehung mit einem Kollegen | |
angefangen, einem Mann aus den nördlichen Provinzen Pakistans. Ich stellte | |
mir ein typisches Familienleben mit ihm vor. Doch die Beziehung hat nicht | |
lange gehalten, wir haben uns viel gestritten. Ich habe keine Zukunft mehr | |
für mich gesehen und war verzweifelt. Mit 23 habe ich versucht, meinem | |
Leben ein Ende zu setzen. Das hat in meiner Familie ein großes Drama | |
ausgelöst. Denn dadurch wurde ich auch als schwul entlarvt. | |
Nach dieser Krise war ich entschlossen, mein Leben als schwuler Mann zu | |
leben. 2014, damals war ich 27, habe ich meinen Partner Akbar auf Manjam | |
kennengelernt, das war eine damals in Pakistan sehr beliebte Dating-Website | |
für Schwule, sie wurde später verboten. Ich wusste: Es ist riskant, in | |
Pakistan einen Fremden über eine Website für Schwule zu treffen. | |
Andererseits war es eine der wenigen Plattformen, die eine große, aber | |
verstreute Gruppe schwuler Männer in den Großstädten miteinander verbunden | |
hat. | |
Zusammen mit Akbar bin ich schließlich nach Lahore gezogen. Wir wollten | |
einen Neuanfang wagen, weit weg von Karatschi. Mir war nicht klar, wie sehr | |
sich mein Leben dadurch verändern würde. Fast ein Jahrzehnt waren wir | |
zusammen, wir lebten gemeinsam in einer Wohnung in Lahore. Unsere Beziehung | |
war in der LGBTQ-Gemeinschaft von Lahore bekannt. Ich denke, wir waren ein | |
Vorbild für viele, die diskret ein queeres Leben führten. | |
Ich arbeitete in dieser Zeit mit verschiedenen pakistanischen | |
Queer-Organisationen zusammen. 2019 wurde ich dann von der Polizei in | |
Lahore verhaftet. Ich wurde der „Förderung der Homosexualität“ verdächti… | |
die Behörde ist dem Tipp eines ehemaligen Kollegen nachgegangen. Mein | |
Partner Akbar wurde verhört, mein Laptop nach Beweisen für Kampagnen und | |
Schwulenpornografie durchsucht. Später haben sie mich freigelassen, aber | |
unter Polizeiaufsicht gestellt. | |
Das waren schwierige Jahre. 2021 wurde bei mir HIV diagnostiziert. Akbar | |
und ich, wir trennten uns 2022. Im April 2022 habe ich ein Stipendium | |
erhalten, mit dem ich nach Köln reisen und drei Monate an einem Projekt des | |
Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) teilnehmen konnte. | |
Während ich hier war, haben die pakistanische Bundespolizei und der | |
militärische Geheimdienst eine Razzia an meinem Arbeitsplatz in Lahore | |
durchgeführt. Sie beschuldigten uns, an einer ausländischen Agenda zu | |
arbeiten, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzt. | |
Wäre ich nach Pakistan zurückgegangen, ich wäre bestimmt verhaftet worden. | |
Deshalb habe ich mich schließlich entschieden, einen Asylantrag zu stellen. | |
Dabei war das nie der Plan. Natürlich vermisse ich meine Heimat. | |
In Köln habe ich mich neu verliebt. Ich habe Fritz kennengelernt, er ist | |
81, ein Kunstsammler und Kurator. Wir haben uns einfach gut verstanden, | |
weil wir beide erlebt haben, wie es ist, als Homosexuelle diskriminiert zu | |
werden, aber in ganz unterschiedlichen Zeiten, Umständen und Teilen der | |
Welt. | |
Ich habe mich in einem Flüchtlingslager in Bochum registriert, nur so | |
konnte ich Asyl beantragen. Im September 2022 wurde ich vom Bundesamt für | |
Migration und Flüchtlinge befragt, vier Stunden hat das Gespräch gedauert. | |
Eine Woche nach der Anhörung bekam ich Asyl. So schnell ging es wohl auch | |
deshalb, weil der LSVD mich während des Verfahrens betreut und beraten hat. | |
Da meine Lebensbedingungen bei Zuschlag besser waren als im | |
Flüchtlingslager, durfte ich weiter bei Fritz leben. | |
Ich liebe mein Leben in Köln. Ich habe einen großen Freundeskreis. Jetzt, | |
da ich Asyl erhalten habe, freue ich mich darauf, eine Krankenversicherung | |
für die HIV-Behandlung zu bekommen, ein Bankkonto zu eröffnen und durch | |
Europa zu reisen. Außerdem unterstütze ich queere Menschen in Pakistan aus | |
der Ferne und ermutige meine trans Freunde, das Land zu verlassen und Asyl | |
zu beantragen. Für queere Menschen dort wird es nur noch schlimmer werden, | |
und ich möchte etwas in ihrem Leben bewirken, so wie Fritz es in meinem | |
getan hat. | |
## Shahram Ahmadi aus dem Iran | |
Shahram Ahmadi , 40, bezeichnet sich selbst als schwul und bisexuell. Er | |
lebt in Berlin. | |
Aufgewachsen bin ich in Kermanschah, einer überwiegend kurdischsprachigen | |
Stadt. Schon da hatte ich eine homosexuelle Beziehung, bei meiner Familie | |
habe ich mich aber nicht geoutet. 2016 habe ich mich von meinem Freund | |
getrennt. | |
Ich bin nach Teheran gezogen, ich wollte wissen, was die Hauptstadt zu | |
bieten hat. Dort habe ich als Busfahrer gearbeitet, ich verdiente ein | |
anständiges Einkommen, lebte in einer eigenen Wohnung. In Teheran habe ich | |
mich diskret mit anderen schwulen Männern in einem Park getroffen. Das war | |
sehr riskant. Aber es war ein Traum für mich zu sehen, dass es einen | |
solchen Park gibt und dass so viele queere Menschen dort hingehen. | |
Ich habe die queere Szene der Stadt kennengelernt, bin zu heimlichen | |
Treffen gegangen. 2019 war ich auf einer queeren Party. Die Polizei hatte | |
einen Hinweis bekommen, sie stürmte die Veranstaltung, ich wurde verhaftet. | |
Ich kam wieder frei, allerdings wurde gegen mich ein Verfahren eröffnet. | |
Deshalb beschloss ich zu fliehen. | |
Im August 2019 reiste ich nach Istanbul und suchte dort Schleuser, die mich | |
nach Griechenland bringen könnten. Beim ersten Versuch wurde ich betrogen, | |
sie setzten unsere Gruppe einfach in einem Wald aus. Ich bin nach Istanbul | |
zurückgekehrt, andere Schleuser brachten mich in einem kleinen Boot auf die | |
griechische Insel Lesbos. | |
Wir kamen ins Flüchtlingslager Moria. Die hygienischen Bedingungen waren | |
katastrophal, es gab auch Bandengewalt im Camp. Eines der Bandenmitglieder | |
war mein Zimmergenosse, und er wusste, dass ich eine Beziehung mit einem | |
Mann hatte. Er erpresste mich und drohte mir, dass er mich vor allen in | |
Moria als schwulen Mann outen würde. Ich musste ihm Geld zahlen und Sex | |
anbieten. | |
2020 gelang es mir, das Camp zu verlassen. Flüchtlingshelfer*innen | |
unterstützten mich dabei, ins Lager Pikpa in der Nähe von Mytilini auf | |
Lesbos umzuziehen. Dort sind die Lebensbedingungen besser, es gibt eine | |
LGBTQ-Gruppe, der habe ich mich angeschlossen. Ich habe Asyl beantragt und | |
bekam eine griechische Aufenthaltsgenehmigung. Ich verließ das Lager und | |
ging nach Mytilini, wo ich verschiedene Jobs annahm, unter anderem als | |
Übersetzer von Dari oder Farsi ins Englische. Ich mietete auch eine eigene | |
Wohnung. | |
Mit meinem neuen Leben war ich zufrieden, doch die Bande, die mich in Moria | |
erpresst hatte, drohte mir erneut. Sie sagten, sie würden online | |
verbreiten, dass ich schwul bin, und das auch in meiner Heimat publik | |
machen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und floh nach Thessaloniki. | |
Mit dem Flugzeug bin ich dann nach Berlin geflogen und habe dort im | |
Februar 2022 ein zweites Mal Asyl beantragt. | |
Ich wollte nach Berlin, weil ich hier Freunde habe und NGOs kenne, die | |
queeren Flüchtlingen helfen. Im März 2022, einen Monat nach meiner | |
Ankunft, bin ich in eine Flüchtlingsunterkunft in Treptow-Köpenick gezogen. | |
Sie bietet Platz für 120 queere Flüchtlinge und ist die größte Unterkunft | |
für queere Geflüchtete in Deutschland. Ich teile mir mein Zimmer mit drei | |
anderen schwulen Flüchtlingen. Unsere vier Metallbetten sind nur durch eine | |
Trennwand voneinander abgeteilt. Meine Habseligkeiten bewahre ich unter dem | |
Bett auf, in kleinen Tüten und einem Pappkarton. Das Zimmer hat eine | |
Speisekammer, ein eigenes Bad und einen Balkon mit Blick auf den Hinterhof. | |
Meine Mitbewohner kommen aus verschiedenen Ländern wie Afghanistan, Irak | |
und Iran, sie wechseln, sobald sich ihr Asylstatus ändert. Das größte | |
Problem ist der Mangel an Privatsphäre. Weil das Zimmer eng ist, gibt es | |
oft Spannungen. Nachts wache ich auf, weil mein Mitbewohner, ein Mann aus | |
dem Irak, schnarcht. Das klingt wie ein kleines Problem, aber ich kann | |
keinen Job finden oder arbeiten, wenn ich tagelang nicht richtig geschlafen | |
habe. Eine Arbeitserlaubnis für Deutschland habe ich inzwischen. | |
Ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich werde behandelt, | |
aber das hilft nur begrenzt. Im vergangenen Winter ging es mir so schlecht, | |
drei Nächte hintereinander konnte ich nicht schlafen, ich sah keine | |
Zukunft mehr für mich in Berlin und habe versucht, mir nachts in der | |
Gemeinschaftsküche der Unterkunft das Leben zu nehmen. | |
Seit diesem Frühjahr geht es mir etwas besser. Im April 2023 habe ich Asyl | |
bekommen. Ich lebe weiterhin in der Unterkunft, suche aber nach einer | |
eigenen Wohnung. 502 Euro bekomme ich vom Landesamt für | |
Flüchtlingsangelegenheiten im Monat, das reicht kaum aus, um davon zu | |
leben. | |
Als ich nach Berlin kam, versuchte ich mein Einkommen für ein paar Monate | |
mit Sexarbeit aufzubessern. Ich bin durch arabische Viertel in Berlin | |
gelaufen, um meine Kunden zu finden. Ich hatte Angst davor, das online zu | |
tun, da meine Familie es herausfinden könnte. Sexarbeit ist oft | |
erniedrigend und auch unsicher. Deshalb will ich jetzt einen anderen Job | |
suchen. | |
Ich habe die queere Szene in Berlin entdeckt, das „Ficken 3000“ in | |
Kreuzberg ist mein Stammlokal geworden. Trotz aller Schwierigkeiten ist | |
mein Leben in Berlin sicher, es geht mir hier viel besser als im Iran oder | |
auch in Griechenland. | |
## Alex Stone aus den USA | |
Alex Stone (Name geändert), 40, definiert sich als agender, fühlt sich also | |
keinem Geschlecht zugehörig. Stone lebt derzeit in Berlin. | |
Ich habe in den Vereinigten Staaten an der Indiana University studiert und | |
dort bei Campus-Aktivitäten der Demokratischen Partei mitgemacht. Ich habe | |
mich auch gegen Neonazi-Gruppen engagiert, es wurden mir Morddrohungen nach | |
Hause geschickt. Wegen dieser politischen Bedrohung, aber auch wegen meiner | |
geschlechtlichen Identität konnte ich nicht frei im Bundesstaat Indiana | |
leben. Ich hatte große Angst vor einem Übergriff. | |
Die erwies sich leider als berechtigt. 2015 wurde ich in Indiana von einem | |
Auto überfahren. Seitdem habe ich bleibende körperliche und seelische | |
Verletzungen, unter anderem wurde mein Rückenmark verletzt. Ich fand | |
heraus, dass es sich bei dem Fahrer des Wagens um einen Polizeibeamten | |
handelte, der mit der Traditionalist Worker Party zu tun hatte, einer | |
rechtsextremen antisemitischen Neonazi-Gruppe, die sich für „rassisch | |
reine“ Nationen einsetzt. Was sollte ich tun? Man kann die Polizei | |
schließlich nur schwer auf die Polizei ansetzen. | |
Ein Umzug in einen anderen Bundesstaat kam für mich nicht in Frage. Ich | |
wusste, ich würde mich nirgendwo sicher fühlen, vor den Angreifern, den | |
Drohungen. Ich wusste keine Lösung und beschloss im Jahr 2018, nach Berlin | |
zu fliehen. | |
Ich kannte die Stadt bereits, ich hatte hier eine Zeit lang Geschichte | |
studiert. Damals habe ich auch das Grundgesetz kennengelernt. Ich wusste, | |
dass das Recht auf Asyl in Deutschland ein Grundrecht ist. Ich kannte | |
allerdings keinen Präzedenzfall, in dem eine queere Person aus den USA Asyl | |
in Deutschland beantragt hätte. Es war eine Herausforderung, das Bundesamt | |
für Migration und Flüchtlinge davon zu überzeugen, dass queere Menschen in | |
den USA nicht sicher sind und ich deshalb Anspruch auf Asyl habe.* | |
Asyl habe ich nicht bekommen. Ich werde aber geduldet, das heißt, ich werde | |
nicht abgeschoben – erstmal. Ich habe große Angst, über Nacht doch wieder | |
mein Zuhause zu verlieren. | |
In meinem ersten Jahr in Deutschland wohnte ich in einer | |
Flüchtlingsunterkunft für queere Personen in Berlin. Ich hatte dort eine | |
schlimme Zeit, es gab Transphobie und Gewalt gegen geschlechtsuntypische | |
Menschen, einschließlich sexueller Übergriffe. Ich fühlte mich von der | |
Heimleitung nicht unterstützt und suchte mir schließlich eine eigene | |
Wohnung. | |
Seit vier Jahren lebe ich nun allein. Ich bekomme finanzielle Unterstützung | |
vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, 502 Euro pro Monat. Mein | |
Status als geduldete Person erlaubt es mir nicht, einer | |
Vollzeitbeschäftigung nachzugehen, dabei könnte ich arbeiten, ich habe auch | |
Qualifikationen. | |
*Anm. d. Red.: Proteste gegen queere Menschen haben in den USA in den | |
vergangenen Jahren stark zugenommen, gleichzeitig werden vielerorts ihre | |
Rechte angegriffen. So wurden in Texas zum Beispiel in der aktuellen | |
Legislaturperiode [10][140 queerfeindliche Gesetzesentwürfe] von | |
Abgeordneten des Staates eingereicht. Im August hat Kanada eine Warnung an | |
seine LGBTQ-Bürger*innen herausgegeben und rät ihnen bei Reisen in die USA | |
zur Vorsicht. | |
23 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.washingtonblade.com/2017/08/15/exclusive-libya-lgbt-activist-re… | |
[2] https://www.bamf.de/DE/Startseite/startseite_node.html | |
[3] https://rainbowelcome.eu/map/ | |
[4] /Dont-Say-Gay-Gesetz-in-Florida/!5841735 | |
[5] https://www.queer.de/detail.php?article_id=44974 | |
[6] https://www.lsvd.de/de/ct/6009-Asylrecht-Bei-homo-und-bisexuellen-Gefluecht… | |
[7] /Urteil-des-Europaeischen-Gerichtshofs/!5055465 | |
[8] https://www.asyl.net/fileadmin/user_upload/dokumente/28078.pdf | |
[9] /Anti-Homosexualitaets-Gesetz-in-Uganda/!5923808 | |
[10] /LGBTQI-Proteste-in-den-USA/!5938243 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
Kennith Rosario | |
## TAGS | |
Schwerpunkt LGBTQIA-Community | |
Schwerpunkt Flucht | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
wochentaz | |
IG | |
Sexarbeit | |
Russland | |
Schwerpunkt LGBTQIA-Community | |
Utopie | |
Migration | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Flucht | |
Transpersonen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Digitale Stigmatisierung von Sexarbeit: Das sozialste Gewerbe der Welt | |
Das Internet wird für Sexarbeiter*innen immer wichtiger. Doch | |
Plattformen und Zahlungsdienstleister aus den USA erschweren ihnen das | |
Leben. | |
LGBTQ-Feindlichkeit: Razzien gegen Schwulenclubs in Moskau | |
Unter Präsident Putin werden queere Menschen in Russland geradezu verfolgt. | |
Nun greift eine neue, noch repressivere Regelung. | |
LGBTQ+-Rechte in Taiwan: Die Lücke im Regenbogen | |
Taiwan ist Asiens Vorreiter für LGBTQ+-Rechte – aber Menschen aus China | |
werden von der gleichgeschlechtlichen Ehe ausgeschlossen. Ein Paar klagt. | |
Utopien weltweit: Gerechtigkeit, Freiheit, Toleranz | |
Was wünschen sich junge Menschen außerhalb Europas für die Zukunft? | |
Protokolle aus Kampala in Uganda und Bangkok in Thailand. | |
Grüne Kritik an Aussagen von Scholz: „Eines Kanzlers unwürdig“ | |
Olaf Scholz spricht im „Spiegel“ von Abschiebungen „im großen Stil“. T… | |
der Grünen kritisieren dies scharf, allen voran ihre Jugendorganisation. | |
LGBTQI-Proteste in den USA: Versammelt im Kapitol | |
In Texas stellen sich nicht nur Aktivist:innen gegen die | |
queerfeindliche Politik der Republikaner. Diese fürchten, ihre Macht zu | |
verlieren. | |
Queere Geflüchtete in Deutschland: Schutz vor homofeindlicher Gewalt | |
Noch 2022 erklärte ein Richter einem schwulen Geflüchteten aus Algerien, er | |
könne dort ja diskret leben. Nun wurde er doch als Flüchtling anerkannt. | |
Queere Ukrainer*innen in Deutschland: „Ich war alleine und verloren“ | |
In der Ukraine tobt der Krieg, in der Hoffnung auf ein sicheres Leben | |
fliehen Tausende. Doch für Queers ist die Flucht deutlich gefährlicher. |