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# taz.de -- LGBTIQ und Migration: Flucht im Zeichen des Regenbogens
> Queere Geflüchtete bekommen in Deutschland leichter Asyl als früher. Doch
> weltweit nehmen Repressionen zu. Ein Überblick und drei Protokolle.
Bis in die fernen USA verbreitete sich die Nachricht: „Libyscher
LGBTIQ-Aktivist bekommt in Deutschland Asyl – in nur zehn Tagen“, schrieb
das queere US-amerikanische Portal [1][Washington Blade]. Die Rede war von
dem schwulen Journalisten Ayman M., der vor dem Terror des IS in der
libyschen Hafenstadt Bengasi geflohen war und im Juli 2017 in Berlin einen
Asylantrag stellte. Nur zehn Tage nach seinem Interview mit dem
[2][Bundesamt für Migration und Flüchtlinge] lag die Anerkennung im
Briefkasten der Wohnung in Berlin-Steglitz, die M. mithilfe queerer
Unterstützer:innen angemietet hatte. Selbst bei Pro Asyl, denen in
Sachen Asyl in Deutschland kaum etwas entgeht, war man baff: Zehn Tage,
das dürfte Rekord sein, hieß es dort.
Die enorme Kürze zeigt, dass Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung in
Deutschland wie auch in einer Reihe anderer Länder heute als Fluchtgrund
anerkannt ist – eine wichtige Entwicklung im Asylrecht der vergangenen
Dekade. Bereits 2007 fand im indonesischen Yogyakarta eine Tagung
renommierter Menschenrechtler*innen statt, die die Allgemeinen
Menschenrechte auf die Bereiche sexuelle Orientierung und
Geschlechtsidentität angewendet haben.
Seither sind die sogenannten Yogyakarta-Prinzipien ein globaler Standard
für die Sicherung von Menschenrechten für queere Personen, sie fanden in
den vergangenen Jahren verstärkt auch Niederschlag in der Praxis. Die
Behandlung von LGBTIQ sei bei „Staaten, der Zivilgesellschaft und der
Wissenschaft zunehmend in den Blickpunkt gerückt“, stellte das
UN-Flüchtlingswerk UNHCR 2021 fest.
Ebenfalls wichtig ist, dass die queere Szene heute vielen Menschen
informelle Hilfe und Solidarität bietet. „Von Menschen aus der Berliner
LGBTIQ-Community habe ich viel Unterstützung bekommen, sie haben mir auch
einen Anwalt vermittelt“, sagt Ayman M. Projekte wie die [3][Rainbow
Welcome Map] zeigen in vielen Ländern Europas zivilgesellschaftliche
Anlaufstellen für LGBTIQ-Geflüchtete.
## Zahl der Schutzsuchenden steigt
Mehr offizielle Anerkennung, mehr Unterstützung – diese Entwicklungen sind
erfreulich, beschränken sich allerdings nach wie vor auf bestimmte Staaten.
Global betrachtet ist der Fall Ayman M. eine große Ausnahme. LGBTIQ haben
bis heute in vielen Ländern in der Regel große Schwierigkeiten, Schutz zu
finden.
Populismus, Anti-Wokeness und Islamismus befeuern Queerfeindlichkeit, auch
in den Transit- und Zielländern globaler Fluchtbewegungen. Queeren Menschen
droht heute in mehr als 60 Staaten strafrechtliche Verfolgung. 34 dieser
Staaten haben diese Gesetze in den vergangenen Jahren aktiv angewandt. In
sieben Staaten droht unter bestimmten Umständen die Todesstrafe:
Saudi-Arabien, Jemen, Iran, Brunei, Nigeria (extralegale Tötung mit Bezug
auf Scharia im Norden), Mauretanien und Uganda.
Fest steht: „Die Zahl der Schutzsuchenden in dem Bereich nimmt zu“, sagt
Eujin Byun, die beim UNHCR für das Thema zuständig ist, der wochentaz.
„Gleichzeitig trauen sich viele LGBTIQ-Flüchtende nicht, den wahren Grund
für ihre Verfolgung zu nennen“, sagt Eujin Byun. Sie fürchteten Übergriffe
durch andere Flüchtende – oder in den Ländern, in die sie kommen.
Diese Sorgen sind nicht unbegründet. 2021 hat der UNHCR eine internationale
Konferenz zu dem Thema veranstaltet. Dabei wies die Organisation darauf
hin, dass LGBTIQs während der Flucht und auch nach Ankunft in
Asylunterkünften „Stigmatisierung, sexueller und geschlechtsspezifischer
Gewalt, Missbrauch oder mangelndem Schutz durch Sicherheitskräfte“
ausgesetzt seien, sie litten unter „willkürlicher Inhaftierung, Abschiebung
und Ausschluss vom Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen“. Ihre Flucht
könne in Ländern enden, in denen sie „einem ähnlichen oder höheren Risiko
homophober, bi- oder transphober Gewalt ausgesetzt sind, sowohl von
Staatsangehörigen des Aufnahmelandes als auch von anderen Vertriebenen“.
Betroffene, mit denen die wochentaz gesprochen hat, bestätigen das.
## Keine Erwähnung in der Genfer Konvention
In sechs der Top-10-Flucht-Zielländern ist LGBTIQ-Feindlichkeit heute offen
staatliche Politik: in Iran, Äthiopien, Bangladesch, Sudan, Uganda und
Pakistan. Wegen der geografischen Nähe zu bewaffneten Konflikten oder
aufgrund von Vertreibungen sind viele Millionen Menschen trotz fehlender
Menschenrechtsstandards in diese Staaten geflohen.
In drei weiteren Ländern – Polen, der Türkei und Russland – ist es um die
LGBTIQ-Rechte ebenfalls nicht zum Besten bestellt. Und auch in den USA
nimmt durch das Erstarken der religiösen Rechten Queerfeindlichkeit zu. Im
März 2022 etwa trat in Florida das sogenannte [4][„Don’t say gay-Gesetz“]
in Kraft – sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität dürfen bis zur
12. Klasse nicht mehr Teil des Lehrplans sein. Das Portal queer.de schätzt,
dass allein im Jahr 2022 in den 51 Bundesstaaten [5][bis zu 400
queerfeindliche Gesetzentwürfe] eingebracht wurden.
Dabei begründet Verfolgung als LGBTIQ heute in vielen Ländern einen
formalen Schutzanspruch. In der Genfer Konvention ist zwar weder sexuelle
Orientierung noch sexuelle Identität explizit erwähnt. Die Rede ist
allerdings von einer „begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“. Darunter werden heute
auch LGBTIQ verstanden, entsprechend haben sie die Möglichkeit, Asylanträge
zu stellen. Das ist das Ergebnis jahrzehntelanger internationaler
juristischer Auseinandersetzungen, die ab Mitte der 1990er Jahre begannen,
Früchte zu tragen.
Vollständige Sicherheit bedeutet dies mitnichten. LGBTIQ-Geflüchtete müssen
heute in Asylverfahren einerseits ihre sexuelle Orientierung oder
geschlechtliche Identität „glaubhaft vortragen“. Doch dies gelinge vielen
„aus Angst, Scham und/oder Unwissenheit nicht oder nicht sofort“, schreibt
der [6][Lesben- und Schwulenverband Deutschland]. „Sie scheitern immer
wieder an stereotypen Vorstellungen von Entscheider*innen und
Richter*innen.“
Tschechien wurde 2010 etwa von der EU gerügt, weil es sogenannte
Phallometrie-Tests angewandt hatte: In einigen Fällen wurden homosexuellen
Asylsuchenden Pornofilme gezeigt und dabei der Blutfluss im Penis gemessen.
So sollte die Erregung festgestellt und überprüft werden, ob die
Betreffenden tatsächlich schwul waren. In Großbritannien fragen Beamte nach
detaillierten Schilderungen der „emotionalen Reise“, die die Entdeckung der
eigenen Homosexualität für die Schutzsuchenden bedeutete – eine für viele
Betreffende gegenüber Fremden kaum zu leistende Anforderung.
## Geheimhaltung darf nicht erwartet werden
Hinzu kommt, dass queere Personen darlegen müssen, dass ihnen bei Rückkehr
in ihr Herkunftsland tatsächlich konkrete Verfolgung droht, die über bloße
Beschimpfungen hinausgeht. Viele Asylanträge in der EU wurden lange mit der
Begründung abgewiesen, die Menschen könnten mit Geheimhaltung oder
„diskretem Verhalten“ einer Verfolgung entgehen.
In Deutschland etwa befand das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch
2012, dass zwei homosexuelle Frauen aus Iran kein Asyl bekommen sollten,
weil dort zwar auf Homosexualität die Todesstrafe stehe, aber die
„Veranlagung als solche“ nicht strafbar sei. Würden Homosexuelle „nicht …
ihren Neigungen auf der Straße provozieren“, heißt es im Bescheid, dann
könnten sie ein „unproblematisches Leben im Schatten des Rechts“ führen.
Der [7][Europäische Gerichtshof entschied indes 2013], dass von
Geflüchteten nicht erwartet werden könne, dass sie ihre Homosexualität in
ihrem Herkunftsland geheim halten oder Zurückhaltung üben, um eine
Verfolgung zu vermeiden. Das [8][Bundesverfassungsgericht bekräftigte
2020], dass die Geheimhaltung der sexuellen Orientierung zur Vermeidung von
Verfolgung nicht erwartet werden dürfe.
Humanitäre Visa für gefährdete Personen sind auch im Koalitionsvertrag der
Ampel vereinbart – die Ausstellung erfolgt aber oft nur sehr schleppend. Im
Juli forderte die „Queere Nothilfe“ die Bundesregierung in einem Brief auf,
Menschen aus Uganda die Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen. In dem
ostafrikanischen Land war im Mai der [9][„Anti-Homosexuality Act“ in Kraft]
getreten. Passiert ist bislang nichts. Humanitäre Visa werden generell
recht selten vergeben: Unter 1,27 Millionen im Jahr 2022 von deutschen
Konsulaten ausgestellten Visa waren nur rund 26.000 humanitäre Visa.
Das Asylrecht steht heute stark unter Druck, und das nicht nur in
Deutschland. Bei einer Rede vor der konservativen Denkfabrik American
Enterprise Institute in den USA sagte die britische Innenministerin Suella
Braverman im September, Menschen, die wegen ihrer Geschlechtsidentität oder
Sexualität diskriminiert würden, sollten kein Asyl erhalten, wenn ihnen
nicht wirklich Tod, Folter, Unterdrückung oder Gewalt drohe. „Wir werden
kein Asylsystem aufrechterhalten können, wenn es ausreicht, einfach nur
homosexuell oder eine Frau zu sein oder Angst vor Diskriminierung in seinem
Herkunftsland zu haben, um Schutz zu erhalten.“
Was Braverman sagte, reiht sich ein in Äußerungen führender konservativer
Politiker der vergangenen Monate, die das Asylrecht in Europa abbauen
wollen. Es gab in der letzten Dekade erfreuliche Entwicklungen für queere
Menschen. Doch es ist gut möglich, dass die Schutzmechanismen für LGBTIQ
angesichts des Drucks bald wieder erodieren.
## Massam Hussain Ansari aus Pakistan
Massam Hussain Ansari, 36, ist homosexuell und lebt in Köln.
Ich bin in Karatschi aufgewachsen, im Süden von Pakistan. Mit 15 Jahren
habe ich gemerkt, dass ich schwul bin. Uns wurde gesagt, es sei eine Sünde,
aber ich fühlte mich immer zu Männern hingezogen und konnte es niemandem
sagen. Als ich 20 war, starb mein Vater an einem Herzleiden. Fortan musste
ich mich um die Erziehung und die Heirat meiner vier Schwestern kümmern. In
der patriarchalischen muslimischen Gesellschaft Pakistans ist es
traditionell die Aufgabe des Bruders, dafür zu sorgen, dass seine
Schwestern verheiratet werden.
Um meine Familie zu unterstützen, habe ich in einem Ingenieurbüro in
Karatschi gearbeitet. Ich habe eine Beziehung mit einem Kollegen
angefangen, einem Mann aus den nördlichen Provinzen Pakistans. Ich stellte
mir ein typisches Familienleben mit ihm vor. Doch die Beziehung hat nicht
lange gehalten, wir haben uns viel gestritten. Ich habe keine Zukunft mehr
für mich gesehen und war verzweifelt. Mit 23 habe ich versucht, meinem
Leben ein Ende zu setzen. Das hat in meiner Familie ein großes Drama
ausgelöst. Denn dadurch wurde ich auch als schwul entlarvt.
Nach dieser Krise war ich entschlossen, mein Leben als schwuler Mann zu
leben. 2014, damals war ich 27, habe ich meinen Partner Akbar auf Manjam
kennengelernt, das war eine damals in Pakistan sehr beliebte Dating-Website
für Schwule, sie wurde später verboten. Ich wusste: Es ist riskant, in
Pakistan einen Fremden über eine Website für Schwule zu treffen.
Andererseits war es eine der wenigen Plattformen, die eine große, aber
verstreute Gruppe schwuler Männer in den Großstädten miteinander verbunden
hat.
Zusammen mit Akbar bin ich schließlich nach Lahore gezogen. Wir wollten
einen Neuanfang wagen, weit weg von Karatschi. Mir war nicht klar, wie sehr
sich mein Leben dadurch verändern würde. Fast ein Jahrzehnt waren wir
zusammen, wir lebten gemeinsam in einer Wohnung in Lahore. Unsere Beziehung
war in der LGBTQ-Gemeinschaft von Lahore bekannt. Ich denke, wir waren ein
Vorbild für viele, die diskret ein queeres Leben führten.
Ich arbeitete in dieser Zeit mit verschiedenen pakistanischen
Queer-Organisationen zusammen. 2019 wurde ich dann von der Polizei in
Lahore verhaftet. Ich wurde der „Förderung der Homosexualität“ verdächti…
die Behörde ist dem Tipp eines ehemaligen Kollegen nachgegangen. Mein
Partner Akbar wurde verhört, mein Laptop nach Beweisen für Kampagnen und
Schwulenpornografie durchsucht. Später haben sie mich freigelassen, aber
unter Polizeiaufsicht gestellt.
Das waren schwierige Jahre. 2021 wurde bei mir HIV diagnostiziert. Akbar
und ich, wir trennten uns 2022. Im April 2022 habe ich ein Stipendium
erhalten, mit dem ich nach Köln reisen und drei Monate an einem Projekt des
Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) teilnehmen konnte.
Während ich hier war, haben die pakistanische Bundespolizei und der
militärische Geheimdienst eine Razzia an meinem Arbeitsplatz in Lahore
durchgeführt. Sie beschuldigten uns, an einer ausländischen Agenda zu
arbeiten, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzt.
Wäre ich nach Pakistan zurückgegangen, ich wäre bestimmt verhaftet worden.
Deshalb habe ich mich schließlich entschieden, einen Asylantrag zu stellen.
Dabei war das nie der Plan. Natürlich vermisse ich meine Heimat.
In Köln habe ich mich neu verliebt. Ich habe Fritz kennengelernt, er ist
81, ein Kunstsammler und Kurator. Wir haben uns einfach gut verstanden,
weil wir beide erlebt haben, wie es ist, als Homosexuelle diskriminiert zu
werden, aber in ganz unterschiedlichen Zeiten, Umständen und Teilen der
Welt.
Ich habe mich in einem Flüchtlingslager in Bochum registriert, nur so
konnte ich Asyl beantragen. Im September 2022 wurde ich vom Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge befragt, vier Stunden hat das Gespräch gedauert.
Eine Woche nach der Anhörung bekam ich Asyl. So schnell ging es wohl auch
deshalb, weil der LSVD mich während des Verfahrens betreut und beraten hat.
Da meine Lebensbedingungen bei Zuschlag besser waren als im
Flüchtlingslager, durfte ich weiter bei Fritz leben.
Ich liebe mein Leben in Köln. Ich habe einen großen Freundeskreis. Jetzt,
da ich Asyl erhalten habe, freue ich mich darauf, eine Krankenversicherung
für die HIV-Behandlung zu bekommen, ein Bankkonto zu eröffnen und durch
Europa zu reisen. Außerdem unterstütze ich queere Menschen in Pakistan aus
der Ferne und ermutige meine trans Freunde, das Land zu verlassen und Asyl
zu beantragen. Für queere Menschen dort wird es nur noch schlimmer werden,
und ich möchte etwas in ihrem Leben bewirken, so wie Fritz es in meinem
getan hat.
## Shahram Ahmadi aus dem Iran
Shahram Ahmadi , 40, bezeichnet sich selbst als schwul und bisexuell. Er
lebt in Berlin.
Aufgewachsen bin ich in Kermanschah, einer überwiegend kurdischsprachigen
Stadt. Schon da hatte ich eine homosexuelle Beziehung, bei meiner Familie
habe ich mich aber nicht geoutet. 2016 habe ich mich von meinem Freund
getrennt.
Ich bin nach Teheran gezogen, ich wollte wissen, was die Hauptstadt zu
bieten hat. Dort habe ich als Busfahrer gearbeitet, ich verdiente ein
anständiges Einkommen, lebte in einer eigenen Wohnung. In Teheran habe ich
mich diskret mit anderen schwulen Männern in einem Park getroffen. Das war
sehr riskant. Aber es war ein Traum für mich zu sehen, dass es einen
solchen Park gibt und dass so viele queere Menschen dort hingehen.
Ich habe die queere Szene der Stadt kennengelernt, bin zu heimlichen
Treffen gegangen. 2019 war ich auf einer queeren Party. Die Polizei hatte
einen Hinweis bekommen, sie stürmte die Veranstaltung, ich wurde verhaftet.
Ich kam wieder frei, allerdings wurde gegen mich ein Verfahren eröffnet.
Deshalb beschloss ich zu fliehen.
Im August 2019 reiste ich nach Istanbul und suchte dort Schleuser, die mich
nach Griechenland bringen könnten. Beim ersten Versuch wurde ich betrogen,
sie setzten unsere Gruppe einfach in einem Wald aus. Ich bin nach Istanbul
zurückgekehrt, andere Schleuser brachten mich in einem kleinen Boot auf die
griechische Insel Lesbos.
Wir kamen ins Flüchtlingslager Moria. Die hygienischen Bedingungen waren
katastrophal, es gab auch Bandengewalt im Camp. Eines der Bandenmitglieder
war mein Zimmergenosse, und er wusste, dass ich eine Beziehung mit einem
Mann hatte. Er erpresste mich und drohte mir, dass er mich vor allen in
Moria als schwulen Mann outen würde. Ich musste ihm Geld zahlen und Sex
anbieten.
2020 gelang es mir, das Camp zu verlassen. Flüchtlingshelfer*innen
unterstützten mich dabei, ins Lager Pikpa in der Nähe von Mytilini auf
Lesbos umzuziehen. Dort sind die Lebensbedingungen besser, es gibt eine
LGBTQ-Gruppe, der habe ich mich angeschlossen. Ich habe Asyl beantragt und
bekam eine griechische Aufenthaltsgenehmigung. Ich verließ das Lager und
ging nach Mytilini, wo ich verschiedene Jobs annahm, unter anderem als
Übersetzer von Dari oder Farsi ins Englische. Ich mietete auch eine eigene
Wohnung.
Mit meinem neuen Leben war ich zufrieden, doch die Bande, die mich in Moria
erpresst hatte, drohte mir erneut. Sie sagten, sie würden online
verbreiten, dass ich schwul bin, und das auch in meiner Heimat publik
machen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und floh nach Thessaloniki.
Mit dem Flugzeug bin ich dann nach Berlin geflogen und habe dort im
Februar 2022 ein zweites Mal Asyl beantragt.
Ich wollte nach Berlin, weil ich hier Freunde habe und NGOs kenne, die
queeren Flüchtlingen helfen. Im März 2022, einen Monat nach meiner
Ankunft, bin ich in eine Flüchtlingsunterkunft in Treptow-Köpenick gezogen.
Sie bietet Platz für 120 queere Flüchtlinge und ist die größte Unterkunft
für queere Geflüchtete in Deutschland. Ich teile mir mein Zimmer mit drei
anderen schwulen Flüchtlingen. Unsere vier Metallbetten sind nur durch eine
Trennwand voneinander abgeteilt. Meine Habseligkeiten bewahre ich unter dem
Bett auf, in kleinen Tüten und einem Pappkarton. Das Zimmer hat eine
Speisekammer, ein eigenes Bad und einen Balkon mit Blick auf den Hinterhof.
Meine Mitbewohner kommen aus verschiedenen Ländern wie Afghanistan, Irak
und Iran, sie wechseln, sobald sich ihr Asylstatus ändert. Das größte
Problem ist der Mangel an Privatsphäre. Weil das Zimmer eng ist, gibt es
oft Spannungen. Nachts wache ich auf, weil mein Mitbewohner, ein Mann aus
dem Irak, schnarcht. Das klingt wie ein kleines Problem, aber ich kann
keinen Job finden oder arbeiten, wenn ich tagelang nicht richtig geschlafen
habe. Eine Arbeitserlaubnis für Deutschland habe ich inzwischen.
Ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich werde behandelt,
aber das hilft nur begrenzt. Im vergangenen Winter ging es mir so schlecht,
drei Nächte hintereinander konnte ich nicht schlafen, ich sah keine
Zukunft mehr für mich in Berlin und habe versucht, mir nachts in der
Gemeinschaftsküche der Unterkunft das Leben zu nehmen.
Seit diesem Frühjahr geht es mir etwas besser. Im April 2023 habe ich Asyl
bekommen. Ich lebe weiterhin in der Unterkunft, suche aber nach einer
eigenen Wohnung. 502 Euro bekomme ich vom Landesamt für
Flüchtlingsangelegenheiten im Monat, das reicht kaum aus, um davon zu
leben.
Als ich nach Berlin kam, versuchte ich mein Einkommen für ein paar Monate
mit Sexarbeit aufzubessern. Ich bin durch arabische Viertel in Berlin
gelaufen, um meine Kunden zu finden. Ich hatte Angst davor, das online zu
tun, da meine Familie es herausfinden könnte. Sexarbeit ist oft
erniedrigend und auch unsicher. Deshalb will ich jetzt einen anderen Job
suchen.
Ich habe die queere Szene in Berlin entdeckt, das „Ficken 3000“ in
Kreuzberg ist mein Stammlokal geworden. Trotz aller Schwierigkeiten ist
mein Leben in Berlin sicher, es geht mir hier viel besser als im Iran oder
auch in Griechenland.
## Alex Stone aus den USA
Alex Stone (Name geändert), 40, definiert sich als agender, fühlt sich also
keinem Geschlecht zugehörig. Stone lebt derzeit in Berlin.
Ich habe in den Vereinigten Staaten an der Indiana University studiert und
dort bei Campus-Aktivitäten der Demokratischen Partei mitgemacht. Ich habe
mich auch gegen Neonazi-Gruppen engagiert, es wurden mir Morddrohungen nach
Hause geschickt. Wegen dieser politischen Bedrohung, aber auch wegen meiner
geschlechtlichen Identität konnte ich nicht frei im Bundesstaat Indiana
leben. Ich hatte große Angst vor einem Übergriff.
Die erwies sich leider als berechtigt. 2015 wurde ich in Indiana von einem
Auto überfahren. Seitdem habe ich bleibende körperliche und seelische
Verletzungen, unter anderem wurde mein Rückenmark verletzt. Ich fand
heraus, dass es sich bei dem Fahrer des Wagens um einen Polizeibeamten
handelte, der mit der Traditionalist Worker Party zu tun hatte, einer
rechtsextremen antisemitischen Neonazi-Gruppe, die sich für „rassisch
reine“ Nationen einsetzt. Was sollte ich tun? Man kann die Polizei
schließlich nur schwer auf die Polizei ansetzen.
Ein Umzug in einen anderen Bundesstaat kam für mich nicht in Frage. Ich
wusste, ich würde mich nirgendwo sicher fühlen, vor den Angreifern, den
Drohungen. Ich wusste keine Lösung und beschloss im Jahr 2018, nach Berlin
zu fliehen.
Ich kannte die Stadt bereits, ich hatte hier eine Zeit lang Geschichte
studiert. Damals habe ich auch das Grundgesetz kennengelernt. Ich wusste,
dass das Recht auf Asyl in Deutschland ein Grundrecht ist. Ich kannte
allerdings keinen Präzedenzfall, in dem eine queere Person aus den USA Asyl
in Deutschland beantragt hätte. Es war eine Herausforderung, das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge davon zu überzeugen, dass queere Menschen in
den USA nicht sicher sind und ich deshalb Anspruch auf Asyl habe.*
Asyl habe ich nicht bekommen. Ich werde aber geduldet, das heißt, ich werde
nicht abgeschoben – erstmal. Ich habe große Angst, über Nacht doch wieder
mein Zuhause zu verlieren.
In meinem ersten Jahr in Deutschland wohnte ich in einer
Flüchtlingsunterkunft für queere Personen in Berlin. Ich hatte dort eine
schlimme Zeit, es gab Transphobie und Gewalt gegen geschlechtsuntypische
Menschen, einschließlich sexueller Übergriffe. Ich fühlte mich von der
Heimleitung nicht unterstützt und suchte mir schließlich eine eigene
Wohnung.
Seit vier Jahren lebe ich nun allein. Ich bekomme finanzielle Unterstützung
vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, 502 Euro pro Monat. Mein
Status als geduldete Person erlaubt es mir nicht, einer
Vollzeitbeschäftigung nachzugehen, dabei könnte ich arbeiten, ich habe auch
Qualifikationen.
*Anm. d. Red.: Proteste gegen queere Menschen haben in den USA in den
vergangenen Jahren stark zugenommen, gleichzeitig werden vielerorts ihre
Rechte angegriffen. So wurden in Texas zum Beispiel in der aktuellen
Legislaturperiode [10][140 queerfeindliche Gesetzesentwürfe] von
Abgeordneten des Staates eingereicht. Im August hat Kanada eine Warnung an
seine LGBTQ-Bürger*innen herausgegeben und rät ihnen bei Reisen in die USA
zur Vorsicht.
23 Oct 2023
## LINKS
[1] https://www.washingtonblade.com/2017/08/15/exclusive-libya-lgbt-activist-re…
[2] https://www.bamf.de/DE/Startseite/startseite_node.html
[3] https://rainbowelcome.eu/map/
[4] /Dont-Say-Gay-Gesetz-in-Florida/!5841735
[5] https://www.queer.de/detail.php?article_id=44974
[6] https://www.lsvd.de/de/ct/6009-Asylrecht-Bei-homo-und-bisexuellen-Gefluecht…
[7] /Urteil-des-Europaeischen-Gerichtshofs/!5055465
[8] https://www.asyl.net/fileadmin/user_upload/dokumente/28078.pdf
[9] /Anti-Homosexualitaets-Gesetz-in-Uganda/!5923808
[10] /LGBTQI-Proteste-in-den-USA/!5938243
## AUTOREN
Christian Jakob
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