# taz.de -- Digitale Stigmatisierung von Sexarbeit: Das sozialste Gewerbe der W… | |
> Das Internet wird für Sexarbeiter*innen immer wichtiger. Doch | |
> Plattformen und Zahlungsdienstleister aus den USA erschweren ihnen das | |
> Leben. | |
Bild: Wie Videos vermarkten, wenn Plattformen nicht mitspielen? Jiz Lee (links)… | |
„Seid darauf vorbereitet, dass ihr von Plattform zu Plattform wechseln | |
müsst“, erklärt Pornoperformer*in und Regisseur*in Vespéral. | |
Zusammen mit vier anderen Sexarbeiter*innen diskutiert Vespéral auf | |
der Adult Industry Only, einem Branchentreffen des Berliner | |
Pornfilmfestivals im Oktober. Sie sprechen über „Social Media Survival“. | |
Ein passender Titel. Denn auf Social Media und anderen Onlineplattformen | |
kämpfen Sexarbeiter*innen oft ums Überleben. | |
„Sexarbeit“ ist ein Oberbegriff für das große Feld sexueller und erotisch… | |
Dienstleistungen. Sexarbeiter*innen treten etwa in pornografischen | |
Filmen auf, verkaufen Bilder und Videos, strippen oder treffen sich mit | |
ihren Kund*innen. Ob Porno oder Sexkauf, [1][viele Sexarbeiter*innen | |
sind auf Onlineplattformen unterwegs]. „Das Internet ist im Laufe der Zeit | |
zur Anbahnungsstätte Nummer eins geworden“, sagt André Nolte, Sexarbeiter | |
und Pressesprecher des Berufsverbandes für erotische und sexuelle | |
Dienstleistungen. | |
Ein wichtiger Teil der Onlineaktivitäten von Sexarbeiter*innen ist | |
Social Media. „Das liegt ja schon im Namen: Unser Beruf ist ja sozial“, | |
erklärt Nolte. „Sexualität ist mehr als rein/raus und die eigentlichen | |
sechs Sekunden Muskelkontraktion. Darum geht es ja nicht. Es geht um Nähe | |
und Zwischenmenschlichkeit, und das ist das, wofür auch Social Media da | |
ist.“ | |
Doch oft werden Social-Media-Accounts von Sexarbeiter*innen gesperrt | |
oder gelöscht. Das kennen auch die Teilnehmenden der | |
Adult-Industry-Only-Konferenz. Viele haben erlebt, wie sehr das schmerzt. | |
„Es bedeutet nicht nur, alle seine Follower*innen und Content zu | |
verlieren, sondern auch Erinnerungen und Verbindungen“, sagt | |
Performer*in Kali Sudhra. Oftmals wissen die Betroffenen gar nicht | |
genau, warum ihr Account gesperrt wurde. „Es ist schwierig, bei all den | |
Regeländerungen den Überblick zu behalten“, sagt Vespéral. | |
## Verdächtiges Angebot | |
Jiz Lee, Marketing-Direktor*in einer Pornoproduktionsfirma, versuchte | |
immer weniger explizite Bilder zu posten. Doch selbst ein Foto mit einer | |
herausgestreckten Zunge führte auf Instagram zur Löschung. Es bestehe der | |
Verdacht, dass dies ein Angebot sexueller Dienstleistungen darstelle. | |
Doch es geht nicht nur um mehr oder weniger explizite Inhalte, sagt André | |
Nolte: „Man muss dazu sagen, dass das Thema Sexarbeit einfach grundsätzlich | |
auf Social Media verboten ist. Da geht es nicht nur darum, dass eine | |
Brustwarze zu sehen ist. Wenn ich nur schreibe, ‚Ich bin Sexarbeiter‘, wird | |
mein Account gelöscht.“ | |
Meta, Betreiberfirma der Plattformen Instagram und Facebook, bestätigt dies | |
nicht. Auf Anfrage verweist der Konzern nur auf seine [2][Richtlinien]. | |
Diese verbieten unter anderem „Inhalte, die implizit oder indirekt eine | |
sexuell motivierte Kontaktaufnahme anbieten oder nachfragen“. Ob die bloße | |
Selbstbezeichnung als Sexarbeiter*in darunter fällt, ist unklar. | |
Nur X (ehemals Twitter) galt lange als sexarbeitsfreundlich. Nackte Haut | |
oder Fetischkleidung waren hier kein Problem. Auch weibliche Brustwarzen, | |
die etwa auf Instagram ein Tabu sind und schnell zu einer Sperrung des | |
Accounts führen. „Twitter ist das immer ein bisschen egal gewesen. Die hat | |
das nicht gekratzt“, sagt Nolte. | |
## Wo ist der Platz der Zukunft? | |
Seit Elon Musk die Plattform übernommen hat, ist für viele Menschen alles | |
anders. Dazu gehören auch Sexarbeiter*innen. Durch [3][neue Regeln auf X] | |
werden Sexarbeiter*innen eingeschränkt. Explizite Accounts tauchen | |
etwa in Suchen oft nicht mehr auf. Auch wenn sie einen „blauen Haken“ haben | |
– das neue kostenpflichtige Angebot von X, welches die Reichweite | |
eigentlich erhöhen soll. | |
Außerdem verlassen viele Menschen die Plattform. Denn Musk gibt rechten und | |
hasserfüllten Ansichten viel mehr Raum. Accounts, die vormals wegen | |
Falschinformation und Hetze gesperrt waren, schaltete er frei. „Ich bin | |
sehr traurig darüber, in welche Richtung sich Twitter verändert hat. Das | |
war meine Lieblingsplattform, weil explizite Inhalte erlaubt waren“, sagt | |
Jiz Lee. Aber es werde wohl etwas anderes geben, das diesen Platz in | |
Zukunft einnimmt. | |
Selbst eine Plattform, die für solche Darstellungen berühmt ist, verbot | |
explizite Inhalte – wenn auch nur für eine kurze Zeit. Die Webseite | |
OnlyFans bekam insbesondere während den Anfängen der Coronapandemie viel | |
mediale Aufmerksamkeit. Nutzer*innen können auf OnlyFans | |
kostenpflichtige Abos abschließen, um Videos und Fotos einer*s | |
Anbieter*in zu sehen. Überwiegend sind dies erotische oder | |
pornografische Darstellungen. Umso schockierter waren Nutzer*innen als | |
OnlyFans, [4][im August 2021 ankündigte, solche expliziten Inhalte auf der | |
Plattform zu verbieten.] | |
Banken würden sich weigern, Transaktionen durchzuführen, die mit explizitem | |
Content in Verbindung stehen, erklärte OnlyFans-Gründer Tim Stokely. Diese | |
Entscheidung wurde einige Tage später wieder zurückgenommen. Man habe | |
Zusicherungen von Banken bekommen, Zahlungen trotz expliziter Inhalte | |
abzuwickeln. | |
## Dienstleister PayPal | |
Banken und Zahlungsdienstleiter sind bekannt dafür, Sexarbeiter*innen | |
von ihren Diensten auszuschließen. Dabei sind gerade | |
Onlinezahlungsdienstleister für die Sexarbeit wichtig. Einer der größten | |
Dienstleister ist Paypal. Eigentlich entspricht das Prinzip Paypal genau | |
dem Bezahlprinzip bei Sexarbeit, wie Nolte es schildert: „eine Bezahlung im | |
Vorfeld, die schnell abgewickelt wird“. | |
Doch viele Menschen in der Branche haben die Erfahrung gemacht, dass ihr | |
PayPal-Konto gesperrt wurde. Denn in seinen Nutzungsrichtlinien verbietet | |
PayPal unter anderem Transaktionen bezüglich „Artikeln, die als obszön | |
anzusehen sind“, und „bestimmten sexuell orientierten Materialien oder | |
Diensten“. „In den Chatgruppen in unserem Verband merke ich, dass die | |
meisten drunter leiden“, erklärt Nolte. Sein Konto sei schon dreimal | |
gesperrt gewesen. Es gebe Tricks, um Sperrungen zu umgehen: „Ich verkaufe | |
offiziell Gewürzregale“. Aber so werde die Branche unsichtbar. „Dabei | |
gehören wir ja dazu. Unsere Arbeit ist Teil der Gesellschaft.“ | |
PayPal erklärt auf Anfrage, die Richtlinien ergeben sich „unter anderem aus | |
geltenden gesetzlichen Regelungen und Branchenstandards“. Tatsächlich ist | |
der Ausschluss von Sexarbeit in der Bankenbranche üblich. Bei einigen | |
Banken können Sexarbeiter*innen kein Konto eröffnen. Oder sie müssen | |
höhere Gebühren zahlen, weil sie durch ihre Tätigkeit als risikoreichere | |
Kund*innen gelten. Die Nachfrage, auf welche gesetzlichen Regelungen man | |
sich beziehe, beantwortet PayPal nicht. | |
Die Juristin Dr. Margarete Gräfin von Galen hat sich in ihrer Dissertation | |
mit Rechtsfragen der Prostitution beschäftigt. Sie erklärt: „Es gibt in | |
Deutschland keine gesetzliche Regel, die die Art und Weise der Bezahlung | |
bei Sexdienstleistungen betrifft. Alle Zahlungsmöglichkeiten, die es für | |
andere Berufe oder Dienstleistungen gibt, sind auch in dieser Branche | |
gesetzlich nicht ausgeschlossen.“ | |
## Sexarbeit gefährlicher? | |
In den USA aber gibt es dazu viele Gesetze – und dort haben die meisten | |
dieser Firmen ihren Hauptsitz. Gesetzesänderungen in dem Land beeinflussen | |
damit unter Umständen das Leben von Sexarbeiter*innen auf der ganzen | |
Welt. So geschah es etwa in 2018 mit FOSTA (Allow States and Victims to | |
Fight Online Sex Trafficking Act) und SESTA (Stop Enabling Sex Traffickers | |
Act). Diese zwei Gesetze sollten sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel im | |
Internet, insbesondere von minderjährigen Opfern, verhindern. | |
Nach US-amerikanischem Gesetz sind Plattformen eigentlich nicht | |
verantwortlich für die Inhalte, welche andere dort verbreiten. Dies wird | |
unter FOSTA und SESTA teilweise aufgehoben. Wenn auf einer Seite Sexkauf | |
beworben wird, sind die Betreiber*innen nun verantwortlich. Sie können | |
strafrechtlich verfolgt werden. | |
Doch effektiv sind diese Gesetze nicht. [5][In einem Artikel aus dem Jahr | |
2021] stellte eine Gruppe von Rechtswissenschaftler*innen fest: FOSTA | |
habe kaum zu Gerichtsverfahren geführt. Das Gesetz habe hauptsächlich | |
bewirkt, dass viele Plattformen Sexarbeiter*innen ausschließen. | |
Dadurch würde Sexarbeit möglicherweise gefährlicher. Denn so können sich | |
Sexarbeiter*innen etwa nicht darüber austauschen, welche*r Kund*in | |
bei einer*m Kolleg*in übergriffig war oder nicht zahlen wollte. | |
Als Reaktion auf FOSTA/SESTA erstellte das Kollektiv Assembly Four aus | |
Australien ein eigenes Netzwerk für Sexarbeiter*innen: [6][Switter]. Doch | |
2022 musste das Netzwerk wieder schließen. Australische Gesetzesänderung | |
machten es unmöglich, die Seite weiter zu betreiben. Doch sind alternative | |
Netzwerke eine Lösung für das Problem? Jiz Lee sagt, nein. | |
Sexarbeiter*innen sollten in der Öffentlichkeit sein und sich nicht | |
auf speziellen Seiten verstecken müssen. | |
Wie Sexarbeiter*innen online diskriminiert werden, [7][ist ein Zeichen | |
der Stigmatisierung dieses Berufszweigs]. Für viele gilt Sexarbeit nicht | |
als „normaler Job“. Das gilt insbesondere für den direkten sexuellen | |
Kontakt mit Kund*innen. [8][Anfang November sprach sich die | |
CDU/CSU-Fraktion in einem Positionspapier für ein Sexkaufverbot aus.] Auch | |
Bundeskanzler Olaf Scholz zeigte sich offen gegenüber einem Verbot. | |
Unter einem Sexkaufverbot in Deutschland könnte es für | |
Sexarbeiter*innen online noch ungemütlicher werden. Doch vertreiben | |
lassen sie sich nicht. Denn, so sagt Jiz Lee: „Sexarbeit und Sexualität in | |
all ihren Ausdrucksformen werden immer ein wesentlicher Bestandteil der | |
Menschheit sein.“ | |
10 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Serie-ueber-Sexarbeit/!5933275 | |
[2] https://transparency.fb.com/en-gb/policies/community-standards/sexual-solic… | |
[3] https://timesofindia.indiatimes.com/gadgets-news/xs-porn-crackdown-has-led-… | |
[4] /Pornografie-bei-Onlineplattform-OnlyFans/!5796378 | |
[5] https://hrlr.law.columbia.edu/hrlr/fosta-in-legal-context/ | |
[6] https://switter.at/ | |
[7] /Diskriminierung-von-Sexarbeiterinnen/!5899377 | |
[8] /Kanzlerbefragung-im-Bundestag/!5973407 | |
## AUTOREN | |
Christina Focken | |
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