# taz.de -- Lukas Weber über männliche Sexarbeit: „Wir brauchen keine Schei… | |
> Wenn es um Sex gegen Geld zwischen Männern geht, kommt schnell die Moral | |
> ins Spiel. Ein Gespräch mit Lukas Weber vom Berliner Verein Hilfe für | |
> Jungs. | |
Bild: Für queere oder männlich gelesene Sexarbeit gibt es viel weniger Aufmer… | |
taz: Herr Weber, wie viele männliche Sexarbeiter, wie der junge Mann aus | |
dem Film „Boys Club“, gibt es in Berlin und in Deutschland? | |
Lukas Weber: Wir haben leider kein Zahlenmaterial, schon gar nicht | |
deutschlandweit. Für Berlin geben unsere Jahresstatistiken Auskunft, mit | |
wie vielen Menschen wir Kontakt in der Szene hatten. Unsere | |
Mitarbeiter:innen treffen regelmäßig ein paar hundert Menschen, wir | |
haben über 2.000 Kontakte im Jahr. | |
[1][Hilfe-für-Jungs e. V.] bietet Hilfe in verschiedenen Projekten an. | |
Welche sind das? | |
Wir haben S[2][ubway] als Anlaufstelle in der Kirchbachstraße in | |
Schöneberg. Die wird von der Senatsjugendverwaltung gefördert, weil wir | |
hier im Bereich des Kinderschutzes arbeiten, also mit Jungs und jungen | |
Männern* unter 18 Jahren. Denn kein Minderjähriger darf oder soll oder muss | |
sich prostituieren. Alles unter 18 gilt ohnehin als Menschenhandel und | |
sexuelle Ausbeutung. Wir werden auch im Bereich der Gesundheit gefördert, | |
da geht es um HIV und sexuell übertragbare Krankheiten; wir sind zum | |
Beispiel mit Ärzten in der Szene präsent. | |
Sie haben also einen guten Einblick in die Szene? | |
Wir haben einen guten Überblick darüber, was die offene mann-männliche | |
Szene angeht, wie sie auch im Film dargestellt wird und wie sie im | |
Schöneberger Norden und im Tiergarten stattfindet. Dort arbeiten | |
hauptsächlich Roma aus Bulgarien oder Rumänien – diese Menschen würden wir | |
aber nicht als Sexarbeiter bezeichnen, das würden die meisten von ihnen | |
selbst auch nicht tun. Sie haben keine Eigenbezeichnung. Von Freiern werden | |
sie Stricher genannt, das adaptieren sie ab und an, ohne die Bedeutung zu | |
kennen. | |
Die Bezeichnung ist eine schwierige Angelegenheit. Sexarbeit ist nicht | |
gleich Sexarbeit? | |
Ja, es wird ohnehin immer alles in einen Topf geschmissen. Aber gerade wir | |
haben den Auftrag, zu differenzieren und zu sagen: Stopp! Es gibt | |
Unterschiede zwischen Menschenhandel und sexueller Ausbeutung, Prostitution | |
und Sexarbeit. Will man einen wirklichen Diskurs über das Thema führen, | |
muss man definieren und vorab klären, wie man den Begriff meint. Nur dann | |
können wir miteinander sprechen. Ansonsten hat jeder sofort irgendwelche | |
Bilder im Kopf über die Jungs auf der Straße, über Zuhälter … | |
Mit welchen Problemen hat Ihre Klientel zu kämpfen? | |
Die Menschen, die wir treffen, sind oft mehrfach marginalisiert. Sie sind | |
von Obdachlosigkeit, von Armut, von Migration und Flucht betroffen. Viele | |
haben eine Drogenproblematik, wo schwierig zu erkennen ist, welches Problem | |
zuerst da war. Verkaufe ich meinen Körper nur ab und an oder permanent? In | |
diesen Spannungsfeldern bewegen wir uns mit unserem Projekt Subway. | |
Ein weiteres Projekt richtet sich gezielt an über 21-Jährige. | |
Es heißt Smart Berlin – und bei diesen über 21-Jährigen würde ich | |
tatsächlich von Sexarbeitern sprechen. Das sind in der Mehrzahl Menschen, | |
die freiwillig ihren Körper anbieten, denn das gibt es ja auch. Sexarbeiter | |
stehen nicht immer nur auf der Straße und warten darauf, dass ein Auto | |
anhält – das ist ein Minimalausschnitt. Alle, die beispielsweise | |
Escortdienste anbieten, die Tabledance machen, die vor der Kamera agieren, | |
die Massagen offerieren oder Telefonsex – den gibt es immer noch –, das | |
alles ist Sexarbeit. Natürlich unterliegen auch diese Menschen dem Zwang | |
der Ökonomie, des Geldverdienens. Zumal wir in schwierigen Zeiten leben, | |
weil viele Leute in diesem Thema rühren, aus politischen Gründen. | |
Warum ist das so? | |
Momentan reden viel zu viele Gruppierungen, und zwar aus allen politischen | |
Lagern, vor allem aber dem konservativen, über dieses Thema. Weil es zieht. | |
Man ist schnell an dem Punkt zu sagen: Alles ist Menschenhandel, alles | |
sexuelle Ausbeutung, der Ruf nach Law and Order wird laut. Da gibt es immer | |
wieder Forderungen nach dem sogenannten Nordischen Modell: Verboten wird | |
dabei vordergründig nicht die Sexarbeit an sich. Der Freier macht sich aber | |
strafbar, wenn er Sexarbeit kauft. Alle Sozialarbeiter wären dafür, sagt | |
die Bundestagsabgeordnete Dorothee Bär (CDU/CSU). Aber ich bin | |
Sozialarbeiter und ich bin gegen das Nordische Modell. | |
Was stört Sie an diesen Debatten besonders? | |
Es ist eine verlogene, scheinheilige Debatte. Will man Menschenhandel und | |
sexuelle Ausbeutung wirklich verhindern, braucht es Geld für soziale | |
Arbeit, für Armutsbekämpfung, für Wohnraum, für Polizei und Justiz. Egal ob | |
Nordisches Modell oder nicht. Das ist nichts, was die Politik gerne hört. | |
Da ist es leichter, eine Gesetzesverschärfung oder Strafen zu fordern. Das | |
bringt vielleicht Publicity auf dem Rücken der Betroffenen, wird aber an | |
deren Problemen nichts ändern. Mit der Moral-Debatte kann man derzeit | |
überall punkten. Es geht um 10-Sekunden-Clips und eine Headline wie | |
„Sexarbeit verbieten!“ oder „Wir retten unsere Frauen“. So was zieht, w… | |
man nicht in den Diskurs einsteigen muss. Wir müssen die sein, die die | |
Fahne hochhalten und differenzieren. Nicht überall stecken Menschenhändler | |
dahinter. Aber wenn, dann brauchen wir gute Systeme, nicht nur Verbote. | |
Aber was braucht es dann neben Geld? | |
Aufklärungsarbeit, sichere Arbeitsplätze oder auch Ausstiegsmodelle zum | |
Beispiel. Aber wir haben zu wenig Möglichkeiten, Menschen andere | |
Perspektiven aufzuzeigen. Bevor wir das nicht schaffen, müssen wir keine | |
Scheindebatte über Moral führen. Ob es okay ist, ein Freier zu sein oder | |
seinen Körper zu verkaufen. Egal, ob es dabei um Frauen geht, die viel | |
stärker davon betroffen sind, oder queere Sexarbeit. Es gibt in Berlin zum | |
Beispiel nicht einmal eine Ausstiegswohnung für männlich gelesene | |
Sexarbeiter. | |
Dafür bräuchte es eine weitere Finanzierung und mehr Personal? | |
Ja, und eine große Wohnung mit mehreren Zimmern oder mehrere Wohnungen. Es | |
braucht psychische Betreuung und am Ende unterschiedliche Angebote für | |
unterschiedliche Personen. Und wenn wir es wirklich mit Menschenhandel zu | |
tun haben, sind das organisierte Strukturen, dann dürfen die nicht wissen, | |
wo es solche Ausstiegswohnungen gibt. Also bräuchte es Polizeischutz und | |
ganz andere Strukturen. Das sind aber Dinge, die in diesen Scheindebatten | |
nie vorkommen. | |
Mit Verbieten wird also nicht alles gut. | |
Genau. Wir müssen gegen Ausbeutung vorgehen, aber nicht auf Kosten derer, | |
die es freiwillig machen. Es wird zu viel pauschalisiert. Und es gibt viel | |
weniger Aufmerksamkeit für queere oder männlich gelesene als für weibliche | |
Sexarbeit – die wird prominenter wahrgenommen. | |
Wenn wir die Figur aus dem Film nehmen: Wie sehen konkrete Hilfen aus? Was | |
können Sie tun? | |
Wenn wir mehr Geld hätten, könnten wir viel mehr tun. Die zwei großen | |
Aufgaben vom Senat an uns sind: Wir betreiben Kinderschutz und | |
Gesundheitsfürsorge. Unsere Anlaufstelle ist vier Tage die Woche geöffnet. | |
An diesen Tagen können Menschen ihre basalen Bedürfnisse stillen. Es gibt | |
einen Ort, wo weder Szene noch Milieu hineinkommt, es gibt keine Freier, | |
sondern einen freien Raum. | |
Sie meinen einen sogenannten Safe Place? | |
Ganz genau. Hier bei Subway gibt es Essen, Getränke, tagsüber auch einen | |
Schlafplatz. Es gibt die Möglichkeit, Dinge einzuschließen, wir haben eine | |
Kleiderkammer. Diese basalen Bedürfnisse zu stillen klappt mal besser und | |
mal eher nicht, wenn etwa psychische Probleme dazukommen, da muss man | |
realistisch sein. Da fehlen uns Psychologen. Bei Subway landen Jungs* und | |
junge Männer*, die auch andere Arbeiten verrichten würden, wenn sie dafür | |
Geld bekämen. Viele unserer Klienten sind den Sommer über für Erntearbeit | |
in Spanien oder wo auch immer, die ja oft genug mit Zwangsarbeit tun hat. | |
Es geht darum, Geld für die Familie zu verdienen. | |
Stichwort Armut, Obdachlosigkeit, Drogen: Die Gesundheitsfürsorge ist | |
umfassend? | |
Neben dem Ändern von Lebensumständen schauen wir, wie wir die Gesundheit | |
schützen können. Im Fokus stehen vor allem sexuell übertragbare Krankheiten | |
wie HIV. Obdachlosigkeit und Armut setzen einem Menschen zu, deshalb ist | |
die umfassende Gesundheitsfürsorge so wichtig. Die meisten, die zu uns | |
kommen, sind cis-Jungen und cis-Männer. Aber auch non-binäre und trans* | |
Personen suchen Hilfe bei uns und sind sehr willkommen, auch beim unserem | |
Projekt Smart, wo es um Aufklärung, Community, Vernetzung, Einstiegs- und | |
Ausstiegsberatung und Austausch über Dinge wie Schutz vor Ansteckungen bis | |
hin zu Steuertipps geht. | |
Kommen die Leute auf Sie zu oder sind Sie auch vor Ort unterwegs? | |
Wir sind zweimal die Woche nachts in der Szene unterwegs, ab 20 Uhr, | |
meistens bis 0 oder 1 Uhr, je nachdem, was los ist, im Tiergarten und im | |
Schöneberger Norden in den Kneipen. Man kennt uns und unser Logo, unsere | |
Teams. | |
23 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://hilfefuerjungs.de/ | |
[2] https://subway-berlin.de/ | |
## AUTOREN | |
Andreas Hergeth | |
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