| # taz.de -- Neuerscheinungen zu Liberalismus: Freiheit und frei sein | |
| > Es wird viel über Freiheit und Zwang diskutiert. Oft schwingt ein falsch | |
| > verstandener Liberalismus mit. Zwei Bücher dazu helfen weiter. | |
| Bild: Welcher Liberalismus – der des Wohlfahrtsstaates oder des Gartenzaunes | |
| Frei bin ich in meinem Verbrenner auf der A 100, prahlen die einen. Frei | |
| bin ich gerade ohne Besitz, sei es Porsche, sei es Reihenhaus, beharren die | |
| anderen. Wirklich frei kann ich nur sein in einer gerechten Gesellschaft, | |
| verkomplizieren Dritte. | |
| Jede*r redet von Freiheit, der Liberalismus ist in aller Munde. Im Westen | |
| saugen wir ihn seit über 200 Jahren – seit [1][Immanuel Kant] und [2][John | |
| Stuart Mill] – auf mit der Muttermilch. Gerade deswegen fällt es uns heute | |
| so schwer, die Frage zu beantworten: Was ist Liberalismus eigentlich? Klar, | |
| liberal sein hat etwas mit Freiheit zu tun und Freiheit ist schon mal gut. | |
| Aber wie weiter? | |
| In ihrem kürzlich erschienenen Suhrkamp-Band „Was ist Liberalismus?“ | |
| leistet die Philosophin Elif Özmen genau die wertvolle Definitionsarbeit, | |
| auf die es jetzt ankommt. | |
| ## Libertärverwirrte Verschwörungssympathisanten | |
| Das irgendwie freiheitliche Spektrum umfasst heute alles, von | |
| libertärverwirrten Verschwörungssympathisanten am rechten Rand, deren | |
| autoritäres Gehabe ihr Gerede über die Freiheit konterkariert, bis hin zu | |
| eher linken Weltverbesserern, die zwar auch von Freiheit schwärmen, aber | |
| gelegentlich offen lassen, ob sie nicht im Zweifelsfall ihre | |
| Mitbürger*innen zu diesem Glück zwingen würden. Wäre das dann überhaupt | |
| noch Freiheit? | |
| Auch historisch lässt sich die liberale Tradition kaum auf ein einziges | |
| Schlagwort bringen: Zum Liberalismus gehören Monarchieanbeter wie Thomas | |
| Hobbes, Vernuftverliebte wie Immanuel Kant und Protolibertäre wie Karl | |
| Popper. Auch [3][Karl Marx lag Freiheit] – die Freiheit der ausgebeuteten | |
| Klasse – am Herzen. Hier haben wir gleich mehrere verfeindete Philosophen | |
| versammelt – was könnte die noch einen? | |
| Özmen, Professorin für praktische Philosophie in Gießen, versucht gar | |
| nicht, eine strikte Definition zu basteln. Sie beruft sich auf eine alte | |
| Wittgenstein-Idee: Wo wir keine einzige Gemeinsamkeit finden können, da | |
| lässt sich nur über „Familienähnlichkeiten“ sprechen. Özmen stellt für… | |
| Liberalismus-Begriff mehrere solcher Ähnlichkeiten fest: Hobbes und Kant | |
| haben die gleiche Mundpartie, den Individualismus – der Mensch selbst | |
| legitimiert seine politische Ordnung. Jeder einzelne muss ihr zustimmen, | |
| damit aus einer ungerechten Gewaltherrschaft ein liberaler Staat wird. | |
| ## Marx, Mill, Hobbes und Popper | |
| Mill und Marx wiederum haben eine ähnliche Augenfarbe: Sie verurteilen | |
| existierende Ungleichheiten, sei es die Ungleichheit von Mann und Frau | |
| (Mill) oder ungleiches Privateigentum an Produktionsmitteln (Marx). | |
| Schließlich teilen sich Hobbes, Mill und Popper eine gemeinsame Nase: | |
| Staatliche Gewalt muss begrenzt werden, um persönlichen Freiraum zu | |
| schaffen. | |
| Özmen nennt das „trio liberale“: Die Familienähnlichkeiten, die den | |
| Liberalismus ausmachen, das sind Individualismus, Gleichheit und Freiheit. | |
| Und wie es in jeder Familie auch Verwandte ohne familientypische Merkmale | |
| gibt, so geht es in der liberalen Tradition auch mal ohne Gleichheit, mal | |
| ohne Individualismus. Ohne Freiheit geht es kaum, allerdings kann man den | |
| Freiheitsbegriff sehr unterschiedlich ausbuchstabieren. | |
| Um den guten Liberalismus abzugrenzen von unliebsamen Verwandten, lohnt | |
| sich ein Blick zurück ins 20. Jahrhundert, wie Samuel Moyn ihn wirft in | |
| seinem neuen Buch „Liberalism Against Itself“. Der Rechtshistoriker Moyn | |
| lehrt in Yale, er hat zahlreiche Bücher geschrieben über Menschenrechte, | |
| Krieg und internationale Politik. | |
| Diesmal hat er eine Wutrede verfasst gegen die liberalen Denker des Kalten | |
| Krieges wie den Oxford-Theoretiker Isaiah Berlin und die | |
| Harvard-Politologin Judith Shklar; er teilt aber auch aus gegen die | |
| Libertären Karl Popper und Friedrich Hayek, gegen Hannah Arendt, gegen die | |
| christlich-konservative Historikerin Gertrude Himmelfarb, sowie den eher | |
| unbekannten Freud-Freund Lionel Trilling. Es wird ein Rundumschlag. | |
| ## Freiheit und Tyrannei | |
| Ihr aller Schaffen gründet sich auf einer Angst: Dass die Freiheit der | |
| Tyrannei weichen könnte. Alle emigrierten sie aus dem dunklen Europa in die | |
| noch freie Welt. Judith Shklar etwa war gerade elf Jahre alt, als ihre | |
| Flucht begann: zunächst aus Riga vor der Roten Armee nach Stockholm, zurück | |
| in die Sowjetunion, um der Wehrmacht zu entkommen, mit gefälschten Pässen | |
| in der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Japan, interniert in Seattle in | |
| einem Lager für „illegale orientalische Einwanderer“, und schließlich nach | |
| Montreal. Später wird Shklar die erste Professorin im Government Department | |
| in Harvard. | |
| Ihre eigene Fluchterfahrung prägt ihr Denken, sie sucht nach einem Bollwerk | |
| gegen den Totalitarismus. Doch wie alle in Moyns Buch nimmt sie dafür nicht | |
| den solide gemauerten Wohlfahrtsstaat, sondern den privaten Gartenzaun, der | |
| besonders das persönliche Eigentum beschützen soll. Den Liberalen des | |
| Kalten Krieges konnte der Staat kaum klein genug sein. Alles, was | |
| hinauswuchs über den sprichwörtlichen Nachtwächterstaat, das verwuchere | |
| notwendigerweise zu Faschismus oder Stalinismus. So zumindest karikiert | |
| Moyn die liberale Tradition des letzten Jahrhunderts. | |
| Wenigstens in einem hat er recht: Der wahre Liberalismus muss sich klar | |
| abgrenzen von einem blinden Libertarismus, der die willkürliche Freiheit – | |
| alle dürfen möglichst tun, was ihnen gerade so einfällt, dürfen sich nicht | |
| impfen lassen und das Klima kippen – auf Händen trägt, dann aber keine Hand | |
| mehr frei hat für soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlichen Zusammenhalt | |
| und zukunftsgewandte Vernunft. | |
| Aus Sorge, den Liberalismus so nach unten abzugrenzen, wagt Moyn sich zu | |
| weit nach oben. Dabei schmilzt ihm jene pluralistische Haltung, die sonst | |
| den Liberalismus erst beflügelt. Moyn sehnt sich zurück zu den Romantikern, | |
| die, als der Liberalismus noch jung war, nicht nur die Architektur des | |
| Staates entwarfen, sondern auch eine enge Vorstellung hatten, wie ein | |
| gelingendes Leben aussehen muss. | |
| ## Zeitmaschine in die Romantik | |
| Für diese Romantiker waren moralische und intellektuelle | |
| Selbstverwirklichung unabdinglich für das gute Leben – das findet auch | |
| Moyn. Er würde uns gerne in einer Zeitmaschine zurückschicken in einen | |
| dieser Berliner Salons, in denen man gepflegt Tee trank, detailliert den | |
| neuesten Schleiermacher-Essay erörterte und später andächtig dem | |
| Cembalogeklimpere der Gastgeberin lauschte. | |
| Gott sei Dank für den pluralistischen Liberalismus, der solche weit ins | |
| Privatleben hineinreichende Zielvorgaben nicht mehr kennt! Ein liberaler | |
| Staat heute, sagt auch Özmen, erlaubt allen, „sich über alle möglichen | |
| Gegenstände und Tatsachen vielfältige, abweichende und auch falsche | |
| Meinungen“ zu bilden. Schleiermacher mag brillant sein, wir dürfen ihn aber | |
| auch verabscheuen. | |
| Doch Pluralismus heißt nicht „anything goes“. Ein liberaler Staat darf | |
| durchaus Tempolimits einführen, denn sein normatives Vokabular erschöpft | |
| sich nicht mit dem Freiheitsbegriff. Das Rasen mag ein Verständnis von | |
| Freiheit antreiben – das können wir den Stumpflibertären zugestehen. | |
| Aber Gleichheit gegenüber anderen und gegenüber Zukünftigen wird dadurch | |
| nicht erreicht. Im Begriff der Gleichheit – ja auch ein Mitglied von Özmens | |
| „trio liberale“ – schlummert also noch liberales Argumentationspotenzial. | |
| Der Raser mag frei sein, liberal ist er nicht. | |
| 20 Oct 2023 | |
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| Paula Keller | |
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