| # taz.de -- Buch über westliche Moderne: Alle auf hundertachtzig | |
| > Angst, Enttäuschung, Wut – Gefühle geben aktuell in der Politik den Ton | |
| > an. Eva Illouz spürt ihrer Genese nach und analysiert die explosive | |
| > Gegenwart. | |
| Bild: Das Ich und die Welt in Gleichklang bringen? Bei einer AfD-Veranstaltung … | |
| Die Menschen sind zorniger geworden. Oder scheint das nur so? Waren sie | |
| nicht zu jeder Zeit gleichermaßen zornig? | |
| Nein, [1][Eva Illouz] zufolge ist der Zorn größer als noch vor 30 Jahren | |
| etwa. Die israelische Soziologin, die in Jerusalem und Paris lehrt, | |
| analysiert seit vielen Jahren die emotionale Tiefenstruktur der westlichen | |
| kapitalistischen Gesellschaften. In ihrem letzten Buch „Undemokratische | |
| Emotionen“ (2023) ging es um die Unterminierung der israelischen Demokratie | |
| durch die politische Rechte. | |
| Zorn, das ist nur einer der Affekte neben Neid, Scham und anderen, die | |
| Illouz in ihrem neuen Buch „Explosive Moderne“ untersucht. Dabei ist ihr | |
| Material vor allem die Literatur; dort bekämen allgemein wahrgenommene | |
| Gefühle eine schärfere Kontur, so Illouz. In Kleists „Michael Kohlhaas“ | |
| beispielsweise lernt sie, dass Verhältnismäßigkeit ein wichtiger Grundsatz | |
| von Gerechtigkeit ist. In Prousts „Recherche“, dass Leid eine Form von Lust | |
| einschließt, auf die wir nicht verzichten können. | |
| Moderne – das ist ein weites Feld, Philosophie und Soziologie kennen viele | |
| Theorien der Moderne: Im Zentrum stehen der Widerspruch zwischen Kapital | |
| und Arbeit, Warentausch und Abstraktion oder die Rationalisierung der Welt | |
| und damit die Zerrissenheit oder gar Entfremdung des Individuums. | |
| ## Effekte im Gefühlsleben | |
| Eine Theorie der Moderne legt Illouz jedoch nicht vor. Auch unterscheidet | |
| sie Moderne und Spätmoderne nicht – nur eine der vielen Ungenauigkeiten in | |
| diesem Buch. Moderne meint hier Leistungsgesellschaft. Deren Antagonismen | |
| will Illouz nachspüren, herausfinden, auf welche Weise sie Effekte in | |
| unserem Gefühlsleben entfalten. | |
| Der Aufstieg der Populisten allerorten oder die Vermehrung der psychischen | |
| Störungen, auf welche die Konsumindustrie mit Bergen von Ratgeberliteratur | |
| jedweder Art reagiert und alles Therapeutische eine steile Karriere | |
| hinlegt, zeigten nur allzu deutlich, dass etwas schieflaufe im Gefühls- und | |
| Sozialleben unserer Gesellschaft. | |
| Ist die Hoffnung auf ein gutes Leben, die einst konstitutiv für das moderne | |
| Individuum war, so Illouz – ihm war das Versprechen mitgegeben, es | |
| ökonomisch und sozial zu schaffen, sich gar selbst verwirklichen zu können | |
| –, ist sie gewichen? Irgendwie ja, denn da ist die Sache mit den Klassen, | |
| die der Idee von Demokratisierung und dem allgemeinen Gleichheitsideal | |
| zuwider läuft. | |
| Womit wir wieder beim Zorn wären. Der ist Illouz zufolge zunächst mal | |
| „Ausdruck einer demokratischen Kultur der Gleichheit“. Heißt: Die Menschen | |
| wollen die volle Belohnung für ihre Anstrengungen und das volle | |
| Mitwirkungsrecht an Institutionen, das ihnen versprochen wurde. Es ist also | |
| gerade „die Horizontalität, die Unterlegenheit und Ausschluss unerträglich | |
| macht“. | |
| ## Sie wollen autoritäre Lösungen | |
| Tatsächlich gebe es immer weniger Gewinner und immer mehr Verlierer. Das | |
| mittlere Management wurde ausgedünnt, die Mobilität innerhalb der | |
| Organisationen blockiert, weil auch die Jobs mit wenig | |
| Qualifikationsanforderungen vermehrt an gut qualifizierte Menschen gehen. | |
| Ausschluss, Abstieg(sangst) und ausgebliebene Anerkennung, all das gibt es, | |
| aber Illouz weist darauf hin, dass das nicht hinreicht, um den Aufstieg des | |
| Populismus zu erklären, denn, ganz richtig: [2][Viele wollen einfach | |
| autoritäre Lösungen für politische und soziale Konflikte] – sogar dann, | |
| wenn sie gar nicht von Abstieg und Ausschluss bedroht sind. | |
| Auch der Feststellung, dass politische Zugehörigkeit zunehmend die ganze | |
| Identität bestimmt und dass je stärker die Politik von Identitäten ausgeht, | |
| desto eher Meinungsunterschiede als Angriff auf das eigene Selbst | |
| interpretiert werden, stimmt Illouz zu, ergänzt diese Erklärungsansätze | |
| aber um einen weiteren Aspekt: Zorn ist einfach legitimer geworden. | |
| Mehr noch: Tatsächlich habe sich Empörung zu einem Zeichen von Moralität | |
| entwickelt. In Anlehnung an den französischen Literaturwissenschaftler | |
| Bruno Chaouat schreibt sie, die Empörung, gleich welch politischer | |
| Richtung, sei zu „einem politischen Ethos“ und „zum Bestandteil einer | |
| moralischen Orientierung in der Welt“ geworden. | |
| ## Furcht und Liberalismus | |
| Eine Lösung hat Illouz nicht, aber das ist auch nicht Aufgabe der | |
| Soziologie. Ihr Buch ist nicht der ganz große analytische Wurf, bietet aber | |
| einige kluge und unbedingt bedenkenswerte Thesen und Erklärungen zur | |
| explosiven Stimmung unserer Gegenwart und ihrer langen Genese. | |
| Denn, so Illouz, [3][der Liberalismus, der versprach, die Furcht der | |
| Menschen aus der Welt zu schaffen, habe die Ängste nur multipliziert.] Ihre | |
| Argumente hierfür sind triftig. | |
| 16 Oct 2024 | |
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| [1] /Warum-Liebe-endet-von-Eva-Illouz/!5546824 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tania Martini | |
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