| # taz.de -- Philosophin Pelluchon über Frankreich: „Der Lärm der Stiefel ü… | |
| > Corine Pelluchon, in Frankreich eine wichtige Stimme zu den ökologischen | |
| > Herausforderungen, über Frankreich nach und vor den Parlamentswahlen. | |
| Bild: Corine Pelluchon möchte die Idee der Aufklärung erneuern | |
| wochentaz: Madame Pelluchon, viele Menschen sind wütend auf Macron. Er habe | |
| die Büchse der Pandora geöffnet, als er nach dem Sieg der französischen | |
| Rechtspopulisten bei der Europawahl die Nationalversammlung auflöste. Warum | |
| hat er so gehandelt? Glaubt er etwa an eine Entzauberung der Rechten durch | |
| Cohabitation? | |
| Corine Pelluchon: Macron scheint diese Entscheidung allein und übereilt | |
| getroffen zu haben. Die Europawahlen hat er als Sanktion gegen seine | |
| Politik und seine Person interpretiert. Damit hat er Politik | |
| personalisiert. Hinzu kommt, dass Demokratie ebenso wie die Suche nach | |
| Gerechtigkeit einen Meinungsbildungsprozess erfordert. Wenn wir sehr | |
| kurzfristig ein Referendum für oder gegen die Todesstrafe organisieren | |
| würden, würden die Befürworter gewinnen! Und doch war die Abschaffung der | |
| Todesstrafe ein Fortschritt. | |
| Gerechtigkeit kann durch Mehrheiten ausgedrückt werden, sie ist aber doch | |
| mehr als die Summe von Meinungen oder Impulsen. Es fehlten die notwendigen | |
| Vermittlungen, um zu den diskutierten Themen eine fundierte Meinung zu | |
| entwickeln. Anstelle dieser Arbeit gab es Spannungen, ein massiv geteiltes | |
| Gefühl, nicht berücksichtigt zu werden. Aber dieses Gefühl und die | |
| allgemeine Unzufriedenheit sind nicht nur auf den Präsidenten Macron | |
| zurückzuführen. | |
| Sondern? | |
| Alle Staatsoberhäupter in allen Ländern stoßen auf dieses Problem. Denn die | |
| derzeitigen wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Veränderungen, | |
| die geopolitische und klimatische Situation, all das gibt den Menschen das | |
| Gefühl, machtlos und austauschbar zu sein. | |
| Es ist dieses allgemeine Unbehagen, das tiefe strukturelle Ursachen hat, | |
| die mit vielen Frustrationen verbunden sind, das die Rechtspopulisten | |
| ausnutzen. Sie verstärken es, indem sie die Frustrationen verschärfen. Sie | |
| suchen Sündenböcke, die beschuldigt werden, vom System zu profitieren. Das | |
| ist nicht neu. Denjenigen, die diese perversen Strategien anwenden, muss | |
| die Macht entzogen werden. | |
| Spielen Sie auf den starken Antisemitismus an, der im Wahlkampf immer | |
| wieder eine Rolle gespielt hat? | |
| Nein, ich spreche von einer allgemeinen Strategie der extremen Rechten. | |
| [1][Die Juden werden die Opfer sein, aber auch die Einwanderer.] Aber in | |
| dieser Kampagne hat die extreme Rechte so getan, als sei sie nicht | |
| antisemitisch, und es gab antisemitischen Äußerungen auf der linken Seite | |
| bei Mitgliedern von La France insoumise. | |
| Das Ausnutzen von Frustrationen, das die Menschen paranoid macht und sich | |
| der Suche nach den wahren Ursachen und einer echten Reformpolitik | |
| widersetzt, ist die Strategie, die es zu erkennen gilt. Denn indem sie das | |
| Unbehagen, die Wut und die Ressentiments der Bevölkerung verstärken, wird | |
| die Inkompetenz der Rechtspopulisten zu ihrer Stärke, und je irrationaler | |
| sie sind, desto besser funktioniert es. | |
| Ist es falsch, noch immer von sogenannten Protestwählern auszugehen? Wollen | |
| die, die rechts wählen, nicht ganz bewusst rechte Politik? | |
| Es gibt eine Minderheit von Menschen, die eindeutig faschistisch sind. Die | |
| meisten derjenigen, die heute für die extreme Rechte stimmen, sind es | |
| nicht. Aber sie werden von Leuten verführt, die das allgemeine Unbehagen | |
| ausnutzen und ihnen das Gefühl geben, ihnen nahe zu stehen und stolz zu | |
| sein. Das Bedürfnis nach Anerkennung und die Ablehnung der arroganten | |
| Eliten erklären diese Wahl mindestens ebenso sehr wie die Probleme mit der | |
| Kaufkraft. | |
| [2][ Warum ist die politische Mitte in Frankreich in den letzten Jahren | |
| weiter erodiert? ] | |
| Wenn man durch das Land reist, Bürgermeister und Kommunalpolitiker trifft | |
| und sieht, was die Vereine in vielen Bereichen leisten, ist man erstaunt | |
| über die Kreativität im Land, über die Hingabe der Menschen. Sie tun Gutes | |
| in aller Stille. Im Fernsehen, in den großen Medien sowie manchmal auch in | |
| entscheidenden Machtpositionen sieht man hingegen übergroße Egos und | |
| Menschen, die jeden Sinn für die Realität verloren haben. | |
| Die Medien in Frankreich haben ihre Rolle als Wächter und Vermittler, die | |
| das Urteilsvermögen schulen, zugunsten einer Übertreibung aufgegeben, die | |
| traurige Leidenschaften orchestriert. Natürlich führen einige Zeitungen | |
| noch Umfragen durch und spiegeln den Wunsch eines Großteils der Franzosen | |
| wider, der gerne vernünftige Debatten führt und einen Sinn für Nuancen hat. | |
| Dieser Teil der Bevölkerung weiß aber gerade nicht, was er tun soll, und | |
| ich weiß es auch nicht. Dennoch müssen sich alle, die in der Lage sind, | |
| Kompromisse einzugehen, um das Gemeinwohl zu sichern, organisieren, damit | |
| die Republik im Jahr 2027 nicht einer rechtsextremen Partei anvertraut | |
| wird. | |
| Die Konstitution der französischen Präsidialdemokratie, die den Präsidenten | |
| mit sehr viel Macht ausstattet, befördert die Personalisierung von Politik | |
| und die Fixierung auf Charisma; auch der linke Mélenchon, der viele | |
| Positionen mit der Rechten gemein hat, inszeniert sich als starker Leader. | |
| Diese Vorstellungswelt der Dominanz ist ungesund. Macht (potentia) ist | |
| nicht gleich Kraft (potestas), und es gibt andere Wege, als zu manipulieren | |
| und manipuliert zu werden. Diese Botschaft, wenn man so will, wird zwar | |
| immer wieder verbreitet, vor allem vom Ökofeminismus, aber derzeit | |
| überwiegt der Lärm der Stiefel. Die Tatsache, dass es gerade viele | |
| Rückschritte gibt, bedeutet nicht, dass sich bestimmte Dinge, die | |
| Fortschritt in der Beziehung zu sich selbst und zu anderen belegen, nicht | |
| durchsetzen. | |
| Sie geschehen latent und unumkehrbar und werden zu bedeutenden | |
| gesellschaftlichen Veränderungen führen. In der Zwischenzeit gibt es viele | |
| Fallen und schreckliche Bedrohungen. Und ja, in diesem Zusammenhang wäre es | |
| klug, unsere Verfassung zu ändern und dem Präsidenten der Republik weniger | |
| Macht zu geben. Außerdem sollten die Mediationen, Gegengewichte und | |
| Gatekeeper, die die Demokratie immer braucht, neu überdacht werden. | |
| Sie sehen sich in der Tradition der französischen Moralisten, die weniger | |
| an ethischen Leitprinzipien als an einer [3][Analyse von Seinsweisen | |
| orientiert waren. Was gibt es aus dieser Perspektive über das Frankreich | |
| der Gegenwart] zu sagen? | |
| Die wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Veränderungen sind | |
| fundamental. Und die Veränderungen, die vorgenommen werden müssen, um auf | |
| die Frustrationen der Menschen zu reagieren, betreffen die Neuausrichtung | |
| der Wirtschaft und die Organisation der Arbeit. Aber das soziale und | |
| demokratische Leben setzt auch eine Selbstveränderung voraus, eine Reife, | |
| die es uns ermöglicht, uns zu widersetzen, ohne uns gegenseitig | |
| abzuschlachten, und unserem Recht, alles zu tun, Grenzen zu setzen. | |
| Dies gilt vor allem in unserer Zeit, in der wir mit dem Klimawandel und | |
| Kriegen konfrontiert sind, also mit Dingen, die unsere Todesangst | |
| reaktivieren und viele unserer Gewissheiten zum Einsturz bringen. Erich | |
| Fromm sagte einmal, wenn die Menschen nicht zu einer moralischen | |
| Entwicklung gelangen, die es ihnen ermöglicht, den individuellen und | |
| kollektiven Narzissmus zu überwinden – und dazu gehört die Arbeit am | |
| Verlust, an den eigenen Grenzen, an der Endlichkeit –, dann müssten wir mit | |
| Katastrophen rechnen. | |
| Ich glaube zum Beispiel auch, dass es wichtig ist, Geselligkeit zu | |
| schaffen, sich auf Vereine zu stützen, um schädlichen Ideologien zu | |
| widerstehen. Die Atomisierung des sozialen Lebens und die Erfahrung der | |
| Dehumanisierung, die die Menschen heute machen, erklären auch die | |
| Anfälligkeit für Rechtspopulismus. | |
| Im Französischen gibt es zwei Begriffe für Hoffnung – espoir und espérance. | |
| Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es Ihnen vor allem um espérance als | |
| eine Tugend, dem Abgründigen ins Auge zu sehen. Aber wie kommt man aus | |
| diesem politischen Abgrund, der sich gerade auftut, wieder raus? | |
| Der Sinn für das Tragische und die Anerkennung der Destruktivität der | |
| Menschen ist notwendig. Aber es ist auch wichtig, die Liebe zur | |
| Menschlichkeit zu kultivieren, wenn man dem politischen Bösen widerstehen | |
| und verhindern will, dass der Faschismus in die Seelen eindringt. Das Böse | |
| übt eine Faszination aus, wir sollten lernen, ihr nicht nachzugeben. | |
| Ständig Politiker, Eliten und andere zu verunglimpfen, nicht mehr an die | |
| Fähigkeit des Menschen zu glauben, Gutes zu tun, gibt denjeinigen, die das | |
| Land zerstören wollen, Kraft. | |
| Sie möchten philosophisch an die Aufklärung anknüpfen und sie erneuern. Die | |
| ist aber zurzeit auch von links stark unter Beschuss. | |
| Alles, was ich oben gesagt habe, könnte auf die Verteidigung des Erbes der | |
| Aufklärung hinauslaufen, eine Verteidigung, die beinhaltet, die Kritik an | |
| der Aufklärung ernst zu nehmen und einige ihrer Grundlagen zu ändern, um | |
| eine neue Aufklärung zu fördern. Ich habe ein Buch über dieses Thema | |
| geschrieben („Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der | |
| Aufklärung“), in dem es um Antiaufklärung, Demokratie, die | |
| Herausforderungen der Ökologie und Europa geht. | |
| Es war auch ein politisches Programm. Aber die Politiker folgen heute | |
| Kommunikationsberatern und nicht Denkern. Außerdem ist es schwierig, | |
| konstruktive Ideen in die breite Öffentlichkeit zu bringen, wenn sich den | |
| ganzen Tag über auf den Fernsehkanälen dominante Persönlichkeiten | |
| gegenüberstehen. Aber wir Intellektuellen müssen Wege finden, um mehr | |
| Einfluss zu haben, und lernen, zusammenzuarbeiten. | |
| 6 Jul 2024 | |
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